Uliana Kotsaba

Uliana Kotsaba

"Und wenn die ganze Welt gegen dich ist - ich werde hinter dir stehen"

Ruslan Kotsabas Ehefrau berichtet über das Verfahren gegen ihren Mann

von Uliana Kotsaba

(03.06.2016) Verehrte Freunde!

Als erstes möchte ich Ihnen für die Möglichkeit danken, hier zu stehen und vor Ihnen zu sprechen. Vielen Dank dafür, dass Sie nicht gleichgültig sind, dass Sie uns unterstützen – das ist das Wertvollste, was wir von Menschen bekommen können, besonders in den schweren Zeiten, die mein Land und meine Familie jetzt durchleben. Danke für die vielen Briefe, die mein Mann erhält – ich kann mit Worten gar nicht ausdrücken, wie wichtig sie für ihn sind. Er hat mich gebeten, allen seine Dankbarkeit zu übermitteln, die an ihn denken und ihn unterstützen. Leider kann er das immer noch nicht persönlich tun.

Als zweites möchte ich mich dafür entschuldigen, dass ich nicht Deutsch kann und dass ich nicht darin geübt bin, öffentlich aufzutreten. Ich war nie eine Anführerin oder Rednerin. Irgendwann einmal, vor langer Zeit, sind mir diese Worte begegnet: Eine Frau sagt zu ihrem Mann: „Und wenn die ganze Welt gegen dich ist – ich werde hinter dir stehen und dir die Patronen zureichen.“ (Das ist natürlich nur eine Metapher.) Für mich waren diese Worte immer der Inbegriff der größten Liebe und Hingabe. Jetzt bin ich an der Reihe, meinem Mann die Patronen zu reichen und ihm den Rücken freizuhalten. Und ich werde das mit allen Mitteln tun, die mir zu Gebote stehen.

Für den Anfang erlauben Sie mir, ein wenig über Ruslan zu erzählen.

In diesem Jahr, am 18. August, wird er 50 Jahre alt. Das ist ein sehr symbolisches Alter, in dem die Menschen in der Regel das, was sie bisher getan haben, in gewisser Weise bilanzieren. Ein Alter, in dem ein Mensch nicht mehr nur ein Fundament von Überzeugungen, Bildung und Glauben hat, sondern auch einen Überbau in Form von zahlreichen sozialen Beziehungen, beruflichen Erfolgen, gesellschaftlichen Aktivitäten, Familie und Freunden. Ich kann voll Stolz sagen, dass mein Mann ein großartiges Gebäude errichtet hat – er war immer ein erfolgreicher Anführer in allen Bereichen, in denen er sich betätigt hat. Ende der 80-er Jahre, vor dem Zerfall der UdSSR, war er das jüngste Mitglied der Ukrainischen Abteilung der Helsinki-Gruppe und ein aktives Mitglied der Studentischen Bruderschaft (einer Organisation, unter deren aktiver Teilnahme die Ukraine 1991 ihre Unabhängigkeit erlangte). In dieser Zeit gehörte Ruslan zum engsten Kreis um Wjatscheslaw Tschornowil, einen ukrainischen Dissidenten, eine Führungsfigur des Narodny Ruch und Präsidentschaftskandidat.

Als die Ukraine ihre Unabhängigkeit erlangt hatte, wandte sich Tschornowil mit folgenden sehr richtigen Worten an seine jungen Nachfolger: „Ihr seid junge Menschen am Anfang ihres Berufslebens, die ihr Land sehr lieben. Geht und arbeitet für sein Wohl und sein Aufblühen. Nehmt staatliche Posten ein und dient ehrlich eurem Land.“

Zu diesem Zeitpunkt hatte Ruslan das forsttechnische Institut mit der Spezialisierung „Jagdwesen“ absolviert, folgte dem Aufruf seines politischen Vorbildes und ging in die Ökologieverwaltung seiner Heimatstadt arbeiten. Wo er sofort darauf stieß, dass die Unabhängigkeit der Ukraine und der Zerfall der UdSSR nur formal stattgefunden hatten. In Wirklichkeit waren das staatliche System und die Arbeitsmethoden der Sowjetunion unter dem Deckmantel patriotischer Losungen, der blau-gelben Fahne und des Dreizacks nicht nur lebendig – sie waren zu etwas Widerwärtigem mutiert, das den jungen Staat von innen auffraß.

Ruslan widmete sein ganzes Leben dem Kampf gegen dieses System und kämpfte mit allen Mitteln, die ihm zu Gebote standen. In solchen Situationen zerbricht das System gewöhnlich das Teil, das es an seinem Funktionieren hindert, und wirft es aus. Für das System ist es wichtig, dass alle seine Elemente aufeinander abgestimmt funktionieren. Ein Mensch soll entweder seine Regeln akzeptieren und ein Teil von ihm werden oder gehen. Oder es von innen aufbrechen. Das ist das Allerschwerste.

Ruslan hat niemals nach materiellen Gütern gestrebt. Darum konnte das System ihn nicht in seine Korruptionsmechanismen einbeziehen und zu einem Teil von sich machen. Genau darum konnte er ziemlich lange erfolgreich in Führungspositionen arbeiten.

Wir lernten uns 1998 kennen, als wir zusammen an der Lwiwer Filiale der Akademie für Öffentliche Verwaltung beim Präsidenten der Ukraine studierten. Zu dieser Zeit war das eine sehr fortschrittliche Bildungseinrichtung, die Führungskräfte der mittleren und höheren Ebene der öffentlichen Verwaltung ausbildete. Wir hatten hervorragende Lehrer, zahlreiche internationale Ausbildungselemente und Praktikumsprogramme. Auf diese Weise bekamen wir im Ergebnis einer sehr harten Auswahl im Sommer 1999 die Chance auf ein Praktikum bei Organen der öffentlichen Verwaltung in Kanada. Nach dem Studium an der Akademie und unserem Abschluss als Master of Public Administration glaubten wir wirklich, dass unsere Erfahrungen und unser erworbenes Wissen uns jetzt die Möglichkeit geben würden, effektiv für unser Land zu arbeiten.

Ruslan bekam die Stelle des Leiters der Gebiets-Fischereiinspektion und gab sich ganz seiner Arbeit hin. Er wohnte praktisch auf Arbeit, führte selbst Kontrollfahrten durch und fing Gesetzesbrecher, unter denen sehr oft Vertreter von Machtstrukturen waren – der Miliz und sogar des SBU. Es gab einige aufsehenerregende Gerichtsverfahren, an deren Ende die „Wilderer in Uniform“ schuldig gesprochen wurden, sie bekamen verschiedene Strafmaße und Ruslan bekam sehr viele einflussreiche Feinde.

2004, während der „Orangen Revolution“, sagte Ruslan zu mir: „Ich muss das vollenden, was wir 1991 angefangen und nicht zu Ende gebracht haben.“ Und fuhr nach Kiew. Unsere Tochter war damals sechs Monate alt.

Aber das System erwies sich als zäher und schlauer. Im Ergebnis dieser „Revolution“ kamen die Leute an die Macht, gegen die Ruslan schon sein ganzes Leben lang gekämpft hatte. Zum Beispiel wurde zum Stellvertreter des Leiters der Gebietsverwaltung kein anderer ernannt als der ehemalige erste Stellvertreter des Vorsitzenden des Gebietskomitees der kommunistischen Partei, den man 1991 mit Schande aus seinem Arbeitszimmer gejagt hatte. Das heißt, während aller dieser Jahre war das frühere System nicht schwächer geworden, sondern im Gegenteil stärker und raffinierter. Ruslan wurde zur Gebietsleitung bestellt und mit dem Vorschlag konfrontiert, seine Stelle aufzugeben. Da es keine gesetzlichen Grundlagen für eine Entlassung gab, dachte man sich dann ein schlaues System der Auflösung und Reorganisierung der Fischereiinspektion aus. In der „neuen“ Inspektion gab es Platz für alle früheren Mitarbeiter, nur nicht für den Leiter.

So wurde mein Mann arbeitslos und kehrte zu seinen gesellschaftspolitischen Aktivitäten zurück.

Mit 38 Jahren musste er wieder bei Null anfangen.

Weil er immer gern Videos gedreht hatte und leicht mit Menschen in Kontakt kam, ergab sich die Entscheidung, Journalist zu werden, ganz von selbst. Er musste sehr viel an sich arbeiten, vieles nebenbei lernen. Aber, und das erkennen sogar die an, die ihm nicht wohlwollen: Ein so geradliniger Karriereweg, vom freien Mitarbeiter des Lokalfernsehens bis zum Frontkorrespondenten eines landesweiten Fernsehkanals, den schafft beileibe nicht jeder.

Ja, sein Weg war natürlich nicht mit Rosenblütenblättern bedeckt. Es gab Fehler und Misserfolge. Aber keine Fehler macht nur der, der nichts tut.

Als in unserem Land die nächste Revolution begann, konnte mein Mann natürlich nicht abseits stehen. Er verbrachte praktisch den ganzen Winter auf dem Majdan. Sogar mit einem verletzten Bein (er hatte sich unglücklicherweise einen kleinen Knochen im Fuß gebrochen), auf eine Krücke gestützt, machte er seine Reportagen.

Während solcher Ereignisse ist es sehr schwer, sich „aus dem Getümmel herauszuhalten“ und seine Unvoreingenommenheit zu bewahren. Es ist sehr schwer, den Moment festzuhalten, in dem Informieren in Propaganda übergeht. Besonders, wenn man so nahe am Epizentrum der Ereignisse ist.  

Ich werde diese Ereignisse nicht bewerten. Das ist zu kompliziert und manchmal auch schmerzhaft. Wie bei jedem großen historischen Ereignis verflochten sich dort Heldentum mit Niedertracht, Uneigennützigkeit mit kalter Berechnung, Selbstaufopferung mit Verrat.

Am schlimmsten ist, dass uns am Ende alle edlen Absichten in die Hölle geführt haben: die Annexion der Krim und dieses Unverständliche, Dumme und Gemeine mit Namen wie „hybrider Krieg“ oder „Anti-Terror-Operation“ im Osten unseres Landes.

Und wieder konnte keine Macht der Welt Ruslan zu Hause festhalten. Es war für ihn lebenswichtig, mit eigenen Augen zu sehen, was direkt an den „Brennpunkten“ geschah. Es war nur so, dass das, was er dort sah, nicht ganz mit der offiziellen Sicht der Dinge zusammenpasste. Und wieder, zum wievielten Mal schon, musste Ruslan gegen den Strom rudern. Ja, mitten im Aufschwung seiner Karriere, als man ihm die Stelle des Mitarbeiters eines Abgeordneten anbot, als er ein erfolgreicher Journalist, den man kannte, und ein beliebter Blogger geworden war. Er musste eine sehr schwere Entscheidung treffen – praktisch allein, ohne Rückendeckung, vor der machtvollen Maschine der staatlichen Propaganda Haltung zu bewahren und es zu wagen, der Macht ins Gesicht zu sagen, was er von ihr dachte.

In einem zivilisierten Land können sich die Vertreter der Macht und die der Öffentlichkeit mit den Worten ihrer Opponenten einverstanden erklären oder nicht. Sie können diskutieren. Sie können Argumente anbringen. Aber dabei achten sie einander (zumindest nach außen hin).

Leider und zu unserer Schande müssen wir gestehen, dass der Anflug von Zivilisation auf den Machthabenden in unserem Land so fragil ist, dass ihn auch der leichteste Wind der Nichtübereinstimmung wegblasen kann. Ungeachtet der Tatsache, dass sie imposant aussehen, fließend Fremdsprachen sprechen und Süßigkeiten sehr lieben.

Darum kann die Quittung für eine andere Meinung bei uns Gefängnisstrafe sein. In unserem Fall dreieinhalb Jahre. Der staatliche Ankläger hatte 13 Jahre Freiheitsentzug und Konfiskation des gesamten Besitzes des Angeklagten gefordert. Können Sie das glauben? Ja, mein Land befindet sich im geografischen Zentrum Europas und die Handlung spielt im 21. Jahrhundert.

Ja, in diesem elenden und halbzerstörten Land, wo sich 80% der Bevölkerung am Rande des physischen Überlebens befinden, wo Gesetze nur beschlossen werden, damit man sie brechen kann oder so benutzen kann, wie es einem gerade gefällt. Wo noch nicht ein Amtsträger bestraft worden ist, auch wenn seine Übeltaten bewiesen und mit unbewehrtem Auge sichtbar sind. Wo hohe Armeechefs Auszeichnungen bekommen, während Soldaten, ausgerüstet mit Waffen wie aus dem Zweiten Weltkrieg und gekleidet in Tarnanzüge aus dem Second-Hand-Shop, Menschen töten, die dieselbe Sprache sprechen wie sie und dieselben Pässe haben wie sie. In einem Land, dessen Führung sein Nachbarland einen Aggressor nennt, aber nicht einmal versucht, die internationalen Verträge über Freundschaft und gute Nachbarschaft mit diesem Land zu kündigen oder seine diplomatische Vertretung dort zurückzufahren. In einem Land, dessen Präsident durch die Welt läuft, die Hand aufhält und riesige Kredite erbittet, deren Zinsen noch die Enkel unserer Enkel zahlen werden. Zur selben Zeit führt und erweitert er aktiv sein eigenes Geschäft, unter anderem auch im „Aggressorland“. In einem Land, das schon lange kein Subjekt der internationalen Politik mehr ist, sondern nur eine Marionette und Wechselgeld in der Hand der wirklichen Player.

Der ganze Gerichtsprozess gegen Ruslan Kotsaba war eine unverschleierte Farce und eine Verhöhnung des Gesetzes. Angefangen mit dem sichtlichen Hinauszögern des Prozesses, als pro Monat eine Sitzung angesetzt wurde, auf der 2-3 „Zeugen“ gehört wurden. In der Regel kannten diese Zeugen Ruslan nicht, oft verstanden sie nicht einmal genau, was die Staatsanwälte von ihnen wollten. In dieser Strafsache gibt es keinen „Geschädigten“. Es gibt keinen Beweis dafür, dass der Aufruf meines Mannes, die Mobilisierung zu verweigern, auch nur irgendjemanden persönlich beeinflusst hätte. Die gesamte Beweisgrundlage stützt sich auf persönliche Meinungen, Schlussfolgerungen und Annahmen der Ankläger. Und nichtsdestotrotz hat das Gericht das für ausreichend gehalten, um ein solches Urteil zu fällen. Dreieinhalb Jahre in einer Zelle mit Dieben und Mördern.

Natürlich werden wir gegen die Entscheidung dieses Gerichts Berufung einlegen. Wir werden durch alle gerichtlichen Instanzen in unserem Land gehen und eine Untersuchung des Falles durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte erwirken. Und ich bin überzeugt, dass wir diesen Prozess gewinnen werden. Früher oder später.

Aber selbst wenn wir es erreichen, dass Ruslans Unschuld anerkannt wird und ihm Kompensation ausgezahlt wird, wer kann meinem Mann die Jahre wiedergeben, die er hinter Gittern verbracht hat, unter Bedingungen, die für einen normalen Menschen eine Beleidigung sind? Wie kann man das psychische und emotionale Trauma unserer Kinder kompensieren und dass ihnen alle diese Zeit der Vater gefehlt hat? Wer bringt uns die verlorene Gesundheit zurück? Und wer trocknet die Tränen, die Ruslans Mutter vergossen hat?

Zum Abschluss möchte ich noch einmal den Organisationen Connection e.V. und Deutsche Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) danken, für die Unterstützung und die Möglichkeit, die Information über meinen Mann, Ruslan Kotsaba, in der ganzen Welt zu verbreiten. Danke, dass ihr nicht gleichgültig seid und uns in einer so schwierigen Zeit und einer so schwierigen Situation unterstützt. Nur auf diese Weise, indem wir die Information so weit wie möglich verbreiten, können wir das System daran hindern, einen für es sehr unbequemen Menschen zu vernichten.

Ebenfalls sehr herzlichen Dank allen, die meinen Besuch hier möglich gemacht haben, die bei der Organisation mitgewirkt und sie begleitet haben. Und auch Ihnen allen, Menschen, die nicht gleichgültig sind, sondern heute gekommen sind, um mir zuzuhören.

Uliana Kotsaba: "Und wenn die ganze Welt gegen dich ist – ich werde hinter dir stehen". Redebeitrag von Ruslan Kotsabas Ehefrau auf Veranstaltungen in Mainz 30.5., Rostock 31.5., Berlin 1.6., Köln 2.6., Leipzig 3.6. Übersetzung aus dem Russischen: Cornelia Mannewitz

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