Kriegsdienstverweigerung in Europa 2016

Jahresbericht des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO)

von Friedhelm Schneider

(08.12.2016) Zwei Jahrestage verdeutlichten zum Jahresbeginn die widersprüchlichen Bedingungen, die die Lage von Kriegsdienstverweigerern in Europa bis heute bestimmen:

Am 27. Januar 2016 waren es genau hundert Jahre her, seit mit dem britischen Military Ser­vice Act von 1916 die erste gesetzliche Bestimmung in Kraft trat, die ausdrücklich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung regelte. Die Praxis dieser ersten Gewissensklausel in einem Militärgesetz war von Ambivalenz und Willkür geprägt: 6.500 Verweigerer wurden vom Mili­tärdienst ausgenommen -unter der Bedingung, dass sie alternativ einen Arbeitsdienst leiste­ten, der im nationalen Interesse lag. Weitere 6.000 Kriegsgegner wurden inhaftiert, von ihnen starben mehr als hundert an den Folgen ihrer Haftbedingungen. Das Beispiel der ersten KDV-Gesetzgebung in Großbritannien zeigt, dass gesetzliche Bestimmungen für Kriegs­dienstverweigerer so lange unzureichend bleiben, wie sie nicht klar freiheitliche Menschen­rechtsstandards umsetzen.

Mit dem 24. Januar 2016 verbindet sich ein historisch weniger eindrücklicher, aber dennoch signifikanter Jahrestag. Zehn Jahre zuvor hatte der Europäische Gerichtshof für Menschen­rechte sein Urteil im Fall des türkischen Kriegsdienstverweigerers Ülke gegen die Türkei ver­kündet. Das Gericht befand, die mehrfach wiederholte Strafverfolgung und Inhaftierung Ül­kes setzten den Kriegsdienstverweigerer menschenrechtswidrig der Situation eines "zivilen Todes" aus und erfüllten damit den Tatbestand der erniedrigenden Behandlung nach Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention. Die türkische Regierung wurde dazu verur­teilt, ihre Gesetzgebung zu ändern und einen angemessenen Umgang mit der Kriegsdienst­verweigerung aus Gewissensgründen sicherzustellen. Ein Jahrzehnt später wird das Weg weisende Urteil zugunsten Osman Murat Ülkes und anderer Kriegsdienstverweigerer durch die Türkei weiterhin missachtet.

Die Nicht-Befolgung des Ülke-Urteils lässt sich als symptomatisch betrachten für die Stagna­tion, die 2016 vorherrschte, wo immer die Lage von Kriegsdienstverweigerern verbesse­rungsbedürftig war. Dies ist besonders in Griechenland der Fall, wo allein in den letzten Mo­naten drei internationale Menschenrechtsinstitutionen auf schwer wiegende Verletzungen des Menschenrechts auf Kriegsdienstverweigerung hingewiesen haben. Obwohl der UN-Menschenrechtsrat, der UN-Menschenrechtsausschuss und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (im Fall Papavasilakis gegen Griechenland) ihre ernsthafte Besorgnis über die fortbestehende Diskriminierung griechischer Kriegsdienstverweigerer äußerten, blieb die griechische Regierung untätig, statt die nötigen gesetzgeberischen Schritte zur Umsetzung internationaler Menschenrechtsstandards einzuleiten.

Dass die Dinge stagnieren oder sich gar rückwärts entwickeln, fällt auch in anderen Zusam­menhängen auf, die mit dem Thema Kriegsdienstverweigerung in Verbindung stehen: Die Lage der Kriegsdienstverweigerer, die auf politisches Asyl angewiesen sind, ist zahlreichen Unwägbarkeiten unterworfen – je nachdem, in welchem Staat der Asylantrag gestellt wird. Nach wie vor erzeugt das System der Wehrpflicht die meisten der Probleme, denen Kriegs­dienstverweigerer ausgesetzt sind. Bei der langjährigen Tendenz, die Wehrpflicht abzuschaf­fen oder auszusetzen, scheint sich eine Trendwende abzuzeichnen. Schließlich führen die eskalierenden Konflikte an den Grenzen des Europarates zu Konstellationen, die die Ver­wirklichung von Menschenrechten erschweren.

Zum Glück gab es auch einige Lichtblicke in der Dunkelheit: Im Januar 2016 wurde eine Amnestie für griechische „Alt-Verweigerer“ erlassen – sie betrifft die Gruppe der Kriegsgeg­ner, die ihre Verweigerung vor 1998 erklärt hatten, als das derzeitige Kriegsdienstverweige­rungsrecht in Kraft trat. Allerdings wurde diesen über Jahrzehnte verfolgten Verweigerern keinerlei Entschädigung für die ihnen aufgezwungenen Haftstrafen und Geldbußen zuge­sprochen. -Unterstützt durch ein internationales Netzwerk der Solidarität und Lobby-Arbeit wurde der ukrainische Journalist und Kriegsdienstverweigerer Ruslan Kotsaba im Juli 2016 freigesprochen. Er war im Februar 2015 inhaftiert worden, weil er dazu aufgerufen hatte, eine Mobilmachung zu verweigern, die zum Brudermord führt. – In der kurdischen Region Rojava, die seit Jahren Schauplatz des Kampfes gegen den IS ist, billigte die Regierung des Cizre Kantons im April 2016 das Recht auf Kriegsdienstverweigerung.

Nach seinen Mitgliederversammlungen in London (14. Mai 2016) und Athen (19. November 2016) bekräftigt das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung seine Besorgnis, dass die Glaubwürdigkeit der internationalen Menschenrechtsinstitutionen auf europäischer und UN-Ebene massiv beschädigt wird, wenn die Umsetzung ihrer Entschließungen und Urteile nicht erreicht werden kann. Hier kommt Nichtregierungsorganisationen, die sich für Men­schenrechte engagieren, auch künftig eine wichtige Aufgabe zu: Mehr denn je müssen sie die nationalen Regierungen an ihre Verantwortung erinnern, die verbindlichen Forderungen internationaler Menschenrechtsinstitutionen zu veröffentlichen und umzusetzen.

Friedhelm Schneider, EBCO-Vorsitzender: Vorwort zum Jahresbericht des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO): Conscientious Objection to Military Service in Europe 2016, 8. Dezember 2016. Der Bericht (englisch) kann heruntergeladen werden unter www.ebco-beoc.org

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