Südkorea: Kriegsdienstverweigerung wird vor dem Verfassungsgericht verhandelt

von Yoon Min-sik und Ock Hyun-ju

(19.12.2016) Der leidenschaftliche Friedensbefürworter Lee Yong-suk, der alle Formen von Gewalt ablehnt, hatte sich niemals vorstellen können, hinter Gittern zu landen. Aber genau das geschah im Sommer 2006. Er war zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt worden, weil er sich geweigert hatte, zur Armee zu gehen und damit der landesüblichen Wehrpflicht nachzukommen. „Ich wollte weder Opfer noch Verursacher von Gewalt sein. Ich wollte kein Sklave der Gewalt sein“, sagte Lee dem Korea Herald. „Keine noch so starke Armee hat jemals einen Krieg verhindert. Das Militär soll Kriege gewinnen, nicht sie beseitigen“, sagte Lee. Er ist jetzt Aktivist bei der Antikriegsgruppe World Without War (Welt ohne Krieg).

Lee gehört zu den 18.700 „Kriegsdienstverweigerern“ in Südkorea, die seit Einführung der für alle Männer geltenden Wehrpflicht seit dem Koreakrieg 1950 bis 53 ins Gefängnis gingen, weil sie sich mit Verweis auf die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit weigerten, in den Streitkräften zu dienen.

In einem Land, das sich technisch gesehen eigentlich immer noch im Krieg mit Nordkorea befindet, haben Kriegsdienstverweigerer bisher wenig Hoffnung, Nachsicht bei Gericht zu finden. Ebenso wie Lee wurden auch alle anderen einheitlich zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt. Ihre Bitte um eine alternative Möglichkeit, ihrem Land zu dienen, wurde wiederholt von Gerichten und Regierung wie auch vom größten Teil der Öffentlichkeit abgelehnt.

Aber einige sehen einen Hoffnungsschimmer, dass Südkorea endlich denen gerecht werden wird, die lieber ins Gefängnis gehen, als die Waffen zu erheben. Ihre Hoffnung ist, dass das Verfassungsgericht, das zurzeit das Thema zum dritten Mal prüft, eine bahnbrechende Regelung zugunsten von Leuten wie Lee verkünden wird. Darin würde sich der Wandel der Rechtsauffassung widerspiegeln, auf den neun Freisprüche von Vorinstanzen allein in diesem Jahr hindeuten.

Permanente Kontroverse 

Eine große Mehrheit der Kriegsdienstverweigerer in Südkorea beruft sich auf Religion. Dazu gehören besonders viele Zeugen Jehovas. „Es ist keine Frage, ob ich gegen Militärdienst bin oder nicht, es geht mir darum, dass ich es als Christ falsch finde, daran teilzunehmen”, sagte der 26jährige Freiberufler Lee Che-rin. „Man hat uns gelehrt, auch unsere Feinde zu lieben.“ Wie andere Kriegsdienstverweigerer auch wurde Lee im September 2013 ins Gefängnis gebracht. „Ich wäre bereit gewesen, alles zu tun, selbst wenn es bedeutet hätte, doppelt so lange (wie beim Militärdienst) alternativen Dienst abzuleisten. Ich wäre dankbar, wenn sie (die Regierung) uns ein System zur Verfügung stellen würde, in dem wir das tun könnten, was wir können“, sagte er.

Die südkoreanische Regierung verlangt von allen tauglichen Männern, dass sie einen Militärdienst von wenigstens 21 Monaten ableisten. Die Wehrpflichtigen stellen den größten Teil der Landesverteidigung gegen den Norden. Eine Armee von 650.000 Männern steht 1,1 Million Soldaten des kommunistischen Staates auf der anderen Seite der seit dem Waffenstillstand stark befestigten Grenze gegenüber. Einen Friedensvertrag gibt es nicht.

Wenn die Wehrpflichtigen erst einmal einberufen sind, können sie alternativen Diensten zugeordnet werden, z. B. als Hilfskraft in einem Gemeindezentrum. Aber sie alle müssen einen Monat Kampfausbildung ableisten, was der Grund für die Kriegsdienstverweigerung ist.

Viele in Südkorea sind der Meinung, dass ein Land den Glauben des Einzelnen respektieren sollte. Aber wenn es darum geht, dass ihre Heimat gegen ein Nordkorea geschützt werden müsse, das sich rasant mit Atomwaffen aufzurüsten scheint, sollte die nationale Verteidigung vor dem Recht des Einzelnen stehen, sagen sie. „Ich denke nicht, dass Religion über dem Gesetz stehen sollte, da das Gesetz gerecht allen gegenüber sein sollte. Kaum jemand geht gerne zum Militär, warum sollte ihnen (den Kriegsdienstverweigerern) eine besondere Gunst erwiesen werden?“, sagte der 30jährige Yoo Kyung-min, der für eine pharmazeutische Gesellschaft arbeitet. Die meisten Koreaner scheinen Yoos Gefühle zu teilen. Nach einer Umfrage von Gallup Korea im Mai sagten 72 Prozent der Befragten, sie hätten „kein Verständnis für Kriegsdienstverweigerung“.

Aber fast ebenso viele sind offen für die Idee, den Verweigerern andere Möglichkeiten des Dienstes zuzugestehen. In derselben Umfrage sprachen sich 70 Prozent dafür aus, eine Alternative zum Militärdienst einzuführen.

Von den Ländern, die eine Wehrpflicht haben, geben unter anderem Österreich, Dänemark und Finnland den Betroffenen die Möglichkeit, alternative Dienste abzuleisten.

Rechtsanwalt Oh Du-jin, der in der Vergangenheit einige Kriegsdienstverweigerer vertreten hat, macht geltend, dass Gewissensfreiheit und die Pflicht zur nationalen Verteidigung, die beide in der Verfassung verankert sind, nicht miteinander im Widerstreit stehen. „Ich sage nicht, dass der Militärdienst wertlos sei. Ich schlage vor, dass die Regierung die Menschen, die sie nicht zu Soldaten machen kann, verwendet, indem sie sie dazu veranlasst, etwas anderes für die Gesellschaft zu tun“, sagte er.

Park Seung-ho, Aktivist für Amnesty International Korea, wies darauf hin, dass Südkorea auf die Kriegsdienstverweigerung ausschließlich mit Strafen reagiert. „Südkorea bestraft ohne Unterschied jeden, der sagt, er könne keinen Militärdienst leisten“, sagte er. „Einem Menschen, der aus Glaubensgründen den Militärdienst verweigert, sollte eine andere Möglichkeit zur Ableistung des Dienstes gegeben werden.“

Das Verteidigungsministerium jedoch lässt verlauten, dass es angesichts der zunehmenden Drohungen aus Nordkorea verfrüht sei, ein alternatives Dienstprogramm in Erwägung zu ziehen. „Wenn man alternative Dienste für die einführt, die den Militärdienst verweigern, kann das als Mittel benutzt werden, sich der Einberufung zu entziehen und damit die Moral der Truppe zu schwächen“, sagte ein Beamter des Ministeriums. „Die Gefühle der Öffentlichkeit und die nationale Sicherheit müssen in Betracht gezogen werden, bevor man zu einer Entscheidung (über einen alternativen Dienst) kommt.”

In einem Land, in dem etwa die halbe Bevölkerung eingezogen wurde oder werden wird, ist es ein Tabu, sich der Einberufung zu entziehen. Das kann Ruf und Karriere zerstören. Der koreanisch-amerikanische Sänger Yoo Seung-jun, auch als Steven Yoo bekannt, erlebte, wie seine Karriere und sein Ruhm in den frühen 2000er Jahren zusammenbrachen, als er seine Zusage zur Ableistung des Militärdienstes in Frage stellte. Die Wahlkampagne des konservativen Präsidentschaftskandidaten Lee Hoi-chang geriet ins Stocken, als Vermutungen die Runde machten, sein Sohn wolle sich der Einberufung entziehen. Er wurde 2002 von seinem liberalen Herausforderer Roh Moo-hyun besiegt.

Auch nach der Zeit im Gefängnis, so Kriegsdienstverweigerer Lee, hätten die Verweigerer mit einem sozialen Stigma zu kämpfen, das „Drückebergern“ anhafte. „Es ist schwer für mich, Arbeit zu finden, weil ich keinen Militärdienst geleistet habe. Deshalb bin ich immer noch freiberuflich tätig”, sagte er.

Zeitenwandel?

Letzten Monat hat die Koreanische Menschenrechtskommission (NHRCK) dem Verfassungsgericht eine Stellungnahme überreicht, die besagt, dass die Einführung eines alternativen Dienstes für die, die aufgrund ihrer Überzeugung den Militärdienst ablehnen, notwendig sei. „Wir bestätigen unseren früheren Standpunkt, dass das Recht, aus Glaubensgründen den Militärdienst zu verweigern, unter die Gewissensfreiheit fällt, die in der Verfassung und in internationalen Abkommen – zum Beispiel im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte - garantiert wird“, hieß es in einer Verlautbarung. Zwar gab die Kommission der Nationalversammlung und dem Verteidigungsministerium bereits 2005 vergeblich eine ähnliche Empfehlung, jedoch weckt die erneute Forderung eines Programms zur Einführung eines alternativen Dienstes die Erwartung, das Verfassungsgericht könnte die Jahrzehnte anhaltende Zwangslage der Kriegsdienstverweigerer beenden.

Das Höchste Gericht hat sich zweimal gegen die Kriegsdienstverweigerung ausgesprochen, sowohl 2004 als auch 2011, und damit die nationale Verteidigung über die Rechte des Einzelnen gestellt. Eine dritte Entscheidung in dieser Sache wird schon in diesem Monat erwartet, fast fünf Jahre, nachdem 2011 eine Petition eingereicht wurde.

In den letzten Jahren waren die Zeichen für einen Wandel fast unverkennbar. Allein in diesem Jahr haben neun Gerichte – alle Vorinstanzen – zugunsten von Kriegsdienstverweigerern entschieden. Im Oktober hat das Berufungsgericht in Gwangju drei Kriegsdienstverweigerer freigesprochen. Das war das erste Mal in der Geschichte des Landes, dass ein Gerichtshof die Kriegsdienstverweigerung anerkannt hat. „Wenn es zwei Werte gibt, können wir nicht einfach einen akzeptieren und den anderen verwerfen. Das stimmt nicht mit dem Wert unserer Verfassung überein“, hieß es in der Gerichtsentscheidung.

Aber das Ergebnis wurde schon bald durch eine weitere Entscheidung vergiftet. Ein anderer Gerichtshof in Suwon sprach vierzehn Tage später zwei Kriegsdienstverweigerer schuldig, sich der Einberufung entzogen zu haben. „Ihre Verweigerung des Militärdienstes entspricht nicht den rechtlichen Vorgaben des Wehrpflichtgesetzes”, hieß es vom Gericht. Die Richter weigerten sich, sich zum Thema eines alternativen Dienstes zu äußern.

Rechtsanwalt Oh drückte die Hoffnung aus, das Oberste Gericht werde bald den Weg für alternative Dienste ebnen. „Religions- und Gewissensfreiheit sind ein von der Verfassung verbürgtes Recht. Das Auferlegen einer Haftstrafe [für seine Ausübung] verletzt die Freiheit eines Menschen. Ich hoffe, das Verfassungsgericht wird als letztes Bollwerk den Menschenrechten dienen“, sagte er und fuhr fort: „Es ist nicht nur eine Sache der Politik. Es geht um das Wesen der Menschlichkeit, dass ein Mensch in jeder Situation mit Würde behandelt werden sollte.“

Seit 1991 empfiehlt der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen Südkorea, für Kriegsdienstverweigerer ein Programm einzuführen, das eine Alternative zum Militärdienst bietet. In der Empfehlung heißt es, die Regierung in Seoul verletze die Vorschrift des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte, der die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit garantiere.

Nach den vom Verteidigungsministerium an Beom-kye, den Vertreter der wichtigsten Oppositionspartei, der Demokratischen Partei von Korea, übermittelten Daten haben von 2010 bis 2015 3.633 Südkoreaner den Militärdienst aus Glaubens- oder Religionsgründen verweigert. Von Januar bis Oktober diesen Jahres weigerten sich 225 Männer, der Einberufung zu folgen. Seit dem 31. August diesen Jahres stehen etwa 535 dieser Kriegsdienstverweigerer vor Gericht.

By Yoon Min-sik und Ock Hyun-ju: Is South Korea thawing to conscientious objection? The Korea Herald, 19. Dezember 2016. Aus dem Englischen von Ingrid von Heiseler. http://m.koreaherald.com/view.php?ud=20161219000179. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Februar 2017.

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