Teilnehmer des Forums in Diyarbakır

Teilnehmer des Forums in Diyarbakır

Türkei: Ein Reisebericht aus Diyarbakır, Cizre, Şırnak und İzmir

von Rudi Friedrich

Vom 11. bis 17. März 2017 reiste Rudi Friedrich für Connection e.V. und die War Resisters‘ International in die Türkei. Anlass war ein Strafverfahren gegen den Arzt Serdar Küni in Şırnak, einer im Südosten des Landes gelegenen Stadt. Befreundete türkische AktivistInnen hatten uns gebeten, Beobachter zu entsenden und damit die Arbeit für Menschenrechte und gegen Krieg zu stärken. Rudi Friedrich nutzte die Gelegenheit auch zu Besuchen in Diyarbakır und İzmir. Die Namen der GesprächspartnerInnen sind aus Sicherheitsgründen anonymisiert. (d. Red.)

Sonntag ___________________________________

Unterstützung für Serdar Küni

Die Reise von Offenbach nach Diyarbakır dauert schon einige Stunden und war mit einer Zwischenstation in Antalya verbunden, eine Touristenmetropole der Türkei, die an der Küste des Mittelmeers liegt und von schneebedeckten Gipfeln der nahegelegenen Berge umkränzt war. So waren nicht nur viele Menschen auf dem Weg zu ihren Familien im Flugzeug, sondern auch einige Touristen, die ungeachtet der angespannten politischen Situation in der Türkei dort ihre Ferien verbringen.

In Diyarbakır angekommen, wurde ich von Vertretern der Menschenrechtsstiftung sogleich zu einem Forum gebracht, das eigens zur Unterstützung des Arztes Serdar Küni stattfand. Dr. Serdar Küni ist seit Jahren im Gesundheitszentrum von Cizre, in dem im Südosten der Türkei gelegenen Bezirk Şırnak, tätig. Dort führte er auch während der über Monate andauernden Ausgangssperren und Gefechte Anfang des Jahres 2016 Behandlungen durch. Er wurde im Oktober 2016 vorgeladen und unter dem Vorwurf verhaftet, „mutmaßlich Militante behandelt zu haben“ und dies nicht gegenüber den Sicherheitskräften zur Anzeige gebracht zu haben. Er sei zudem Mitglied der PKK. Das Verfahren sollte am nächsten Tag in der Provinzhauptstadt Şırnak stattfinden.

Zum Forum waren etwa 100 Personen gekommen. Es diente vor allem dazu, dass die verschiedensten Organisationen und Parteien aus der Türkei sowie die anwesenden internationalen BeobachterInnen ihre Unterstützung für Serdar Küni erklären konnten. So waren neben mir VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und Ärzteverbänden aus England, USA, Deutschland, Schweden und Norwegen gekommen. Die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) hatte sie eingeladen, weil dieses Verfahren auch grundsätzliche Bedeutung hat, inwieweit das Arztgeheimnis bei Behandlungen gewahrt wird bzw. der Arzt zum Helfershelfer der Sicherheitskräfte werden soll. Im Anschluss erhielt Serdar Küni den diesjährigen Peace Companionship and Democracy Preis der Ärztekammer Diyarbakır. Sein Bruder nahm ihn stellvertretend entgegen.

Kaum war dies geschehen, saßen wir schon im Kleinbus, um nach Şırnak zu fahren. Wir fuhren möglichst schnell los, um nicht in der Dunkelheit auf Checkpoints zu treffen. Es ging zunächst nach Süden an der hoch auf einem Berg gelegenen Stadt Mardin vorbei. Später fuhren wir entlang der Grenze nach Syrien. Dort errichtet die Türkei eine drei Meter hohe Mauer. Gebaut wird sie im Auftrag der staatlichen Wohnungsbaubehörde aus Betonelementen mit Stacheldraht und gesichert durch Wachtürme. Damit soll der Grenzübertritt von Flüchtlingen aus Syrien verhindert werden.

An der Grenze liegt auch die Stadt Nusaybin, auf drei Seiten umgeben vom Grenzzaun. Nusaybin ist nach wie vor von Ausgangssperren betroffen. Wir wurden dort an einem Checkpoint angehalten und kontrolliert.

Als wir uns der Stadt Cizre näherten, kamen wir plötzlich in einen Stau. Ursache dafür war ein weiterer Checkpoint, wo die Polizei mit gepanzerten Fahrzeugen kontrollierte. Unsere Ausweise wurden einbehalten und geprüft. Dann durften wir weiterfahren. Aber schon fünfhundert Meter weiter am Eingang der Stadt wartete der nächste Checkpoint auf uns. Insgesamt passierten wir in Cizre sechs Checkpoints. In der Stadt sind nach wie vor die Spuren der Kämpfe von Ende 2015, Anfang 2016 zu sehen.

Wir folgten dann dem Flusslauf des Tigris durch beeindruckende Felsformationen. Nach sechs Stunden Fahrt erreichten wir am Abend – nach weiteren Checkpoints – das Hotel in Şırnak.

Montag ____________________________________

Ein Lehrstück über das Vorgehen im Krieg

Fast genau ein Jahr zuvor war ich bereits als Teil einer Delegation der War Resisters‘ International in der Region gewesen. Es war die Zeit der sogenannten Ausgangssperren, faktisch ein Krieg in einer Vielzahl von Städten in der vor allem von KurdInnen bewohnten Region im Südosten des Landes.

Noch im Februar 2015, also vor gerade mal zwei Jahren, war von der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), der Regierungspartei, und der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ein Zehn-Punkte-Friedensplan (Dolmabahçe-Abkommen) bekannt gegeben worden. Als aber klar wurde, dass die regierende AKP unter Präsident Erdoğan in den darauf folgenden Wahlen die absolute Mehrheit verfehlen würde und die HDP die Zehn-Prozent-Hürde überschreiten könnte, kündigte der Präsident das Abkommen auf und erklärte, dass er „unter keinen Umständen die Vereinbarungen des Dolmabahçe-Abkommens akzeptiere“ und dass „ein Abkommen nicht mit denen gemacht werde, die sich auf eine terroristische Organisation (PKK) stützen“.1

Daran schloss sich eine Eskalation an, die im Südosten des Landes, in den vor allem von KurdInnen bewohnten Bezirken, in einen Krieg mündete. Auf der einen Seite standen bewaffnete Gruppen der Patriotisch Revolutionären Jugendbewegung (YDG-H), die in den Städten Gräben aushob und Barrikaden errichtete. Auf der anderen Seite rückten türkische Polizei und Militär an. Es folgten monatelange Rund-um-die-Uhr Ausgangssperren in 30 Stadtteilen in neun Provinzen. 1,8 Millionen Menschen waren davon betroffen. In einem Bericht des Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen von Mitte Februar 2017 wird die Zahl der Getöteten mit 2.000 angegeben, 350.000 bis zu einer halben Million Menschen wurden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben.2

In Şırnak sieht das jetzt so aus: Die Stadtteile, die unter Ausgangssperre standen, wurden zunächst vollständig von den türkischen Sicherheitskräften abgeriegelt und es wurde dann ohne Unterschied gegen die noch in den Gebieten befindlichen Personen vorgegangen. Nach der Räumung wurden die Hausbesitzer vom Staat enteignet und mit einer völlig unzureichenden Entschädigung abgefunden. Dann kamen Bagger und Bulldozer und rissen die kompletten Stadtviertel bis auf die Grundmauern ab. 40.000 von insgesamt 62.000 BewohnerInnen, so ein Mitarbeiter der Menschenrechtsstiftung der Türkei, verlor so ihre Wohnung, ihr Hab und Gut. Tiefe Wunden sind in die Stadt gerissen.

Für den Vormittag des Tages hatte ich darum gebeten, dass wir einen Blick in die Stadt werfen können. Davon wurde aber aus Sicherheitsgründen abgeraten. Erst kurz vor der Beginn der Verhandlung fuhren wir mit einem Kleinbus durch die abgerissenen Stadtviertel und sahen, wie große Flächen dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Die dort früher lebende Bevölkerung versucht, bei ihren Familien oder anderen UnterstützerInnen unterzukommen. Der gesamte Hausrat und die eigene Wohnung sind verloren.

Wir hatten bereits letztes Jahr über den Rojava Hilfs- und Solidaritätsvereins erfahren, dass ein wesentliches Ziel der Arbeit der kurdischen Organisationen mit den Vertriebenen ist, die Menschen in der Region zu halten. Für die von den Ausgangssperren betroffenen Menschen startete der Verein eine Kampagne unter dem Namen „Öffnet Eure Herzen und Türen“. Ihm sei es damit gelungen, dass die allermeisten entweder bei eigenen oder befreundeten Familien unterkommen konnten, oder von anderen Familien in benachbarten Städten aufgenommen wurden. Die Absicht dabei sei, einen ähnlichen Exodus wie in den 90er Jahren zu vermeiden, als 4,5 Millionen KurdInnen wegen des Krieges aus der Region in den Westen der Türkei oder nach Europa flohen und sich dort assimilieren mussten. Heute gingen sie in den nahegelegensten Stadtteil und können somit in der Region bleiben. Das zeigt eine große Solidarität, aber auch ein deutlich vergrößertes Selbstbewusstsein der eigenen (kurdischen) Identität.

Am frühen Nachmittag sollte der Prozess gegen Serdar Küni beginnen. Der Eingang war wieder einmal nur über einen Checkpoint möglich. Es kamen etwa 70 Personen zur Verhandlung, Familie, FreundInnen, UnterstützerInnen. Kurz nach unserem Eintreffen stellten wir fest, dass das Gericht noch verschiedene andere Fälle zu behandeln hatte.

Das gab mir die Möglichkeit, mit Aktiven aus der Region zu sprechen. So diskutierte ich mit einem Kriegsdienstverweigerer aus Cizre über die dortige Situation. Er schilderte mir, dass die Bevölkerung sehr von der militanten kurdischen Bewegung enttäuscht sei. Das Ausheben von Gräben in den Städten und die Aufnahme des bewaffneten Kampfes habe dazu geführt, dass die Bevölkerung fliehen musste, viele Zivilisten bei den Kämpfen starben und schließlich weiträumige Enteignungen erfolgten, mit anschließendem Abriss und Vertreibung. Es wäre falsch gewesen, so vorzugehen. Ich schilderte ihm meinen Eindruck, dass die Gruppen der Patriotisch Revolutionären Jugendbewegung offensichtlich das Modell des Kampfes im Norden Syriens gegen den IS, in Rojava, übernommen hätten. Er sagte daraufhin: „Ja, aber da war es eine völlig andere Situation. Der IS war militärisch nicht so stark, wie die türkische Armee. Die kurdische Bewegung werde dort von den USA und anderen unterstützt, die gegen den IS vorgehen. In der Türkei hat das alles gefehlt. Und schließlich sind die türkischen Sicherheitskräfte in den Städten in der Türkei wesentlich besser vernetzt und hatten daher auch besseren Zugriff auf interne Informationen.“

Er berichtete mir auch davon, dass praktisch alle Amtsträger in der Region von der türkischen Regierung abgesetzt oder sogar verhaftet worden sind. Entweder seien sie inzwischen ins Ausland geflohen oder sie ständen unter Anklage. Die Amtsgeschäfte werden seitdem von Gouverneuren und Bevollmächtigten geführt, die von der türkischen Regierung zentral eingesetzt wurden. Es ist ein Gebiet, das unter Besatzung steht.

Dann begann das eigentliche Verfahren. Schon im Vorfeld waren Zweifel an den Aussagen der Zeugen geäußert worden. Den RechtsanwältInnen war bei Durchsicht der Protokolle aufgefallen, dass alle mitten in der Nacht unterzeichnet worden waren. Zudem enthielten sie wenig substantiierte Vorwürfe gegen eine Vielzahl von Personen in Cizre. Die vier jungen Männer, die dann vor Gericht aussagten, waren alle während der Ausgangssperren verhaftet worden.

Ihre Vermutung bestätigte sich: Ein Belastungszeuge nach dem anderen erklärte unter Eid vor Gericht, dass er den Arzt Dr. Serdar Küni nie gesehen habe und nicht kenne. Einer erklärte, auf ihn sei psychisch Druck ausgeübt worden, damit er die Aussage unterschreibt. Die anderen Zeugen machten deutlich, dass sie nach ihrer Verhaftung durch Polizei und Sicherheitskräfte gefoltert worden seien. „Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen“, berichtete einer von ihnen. „Dann zogen sie mir eine Weste mit einem Sprengsatz an und drohten mich in die Luft zu sprengen. Ich habe unterschrieben, aber nichts davon, was dort steht, ist wahr.“

Bei den FreundInnen, Verwandten und MitstreiterInnen von Serdar Küni wuchs daraufhin die Hoffnung, dass er aus der Untersuchungshaft entlassen werden könnte. Serdar Küni selbst betonte: „Ich bin in meinem Beruf als Arzt verpflichtet, jeden zu behandeln, der ärztlicher Versorgung bedarf. Aber ich habe mich in diesem Rahmen immer an Recht und Gesetz gehalten“.

Die Verteidigung machte in ihren Plädoyers deutlich, dass Dr. Serdar Küni als Arzt der Schweigepflicht unterliegt und es seine Verpflichtung als Arzt sei, jede Person zu behandeln, die ärztlicher Versorgung bedarf. Sie forderte angesichts des Prozessverlaufs die sofortige Freilassung von Dr. Serdar Küni.

Die Staatsanwaltschaft hingegen äußerte in dürren Worten weiterhin Zweifel an seiner Unschuld. Es gäbe da noch einen geheimen Zeugen. Sie forderte das Gericht auf, die Untersuchungshaft zu verlängern. Nach kurzer Beratungszeit kam das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft nach. Obwohl also alle von der Staatsanwaltschaft zum Prozess eingebrachten Zeugen ihre Aussagen widerrufen hatten, wurde Künis Untersuchungshaft bis zum nächsten Verhandlungstermin, dem 24. April 2017, verlängert.

Nach der Folterkonvention ist ein Verfahren unverzüglich einzustellen, wenn sich herausstellt, dass Zeugenaussagen unter Folter erpresst wurden. Das betonten im Anschluss mehrere DelegationsteilnehmerInnen. Und klar war auch, dass die Aussagen der Zeugen kaum hätten deutlicher zum Ausdruck bringen können, mit welcher Brutalität die türkischen Sicherheitskräfte im Krieg im Südosten vorgegangen sind.

Die Enttäuschung bei den BesucherInnen der Verhandlung war groß. Aber, so eine spätere Einschätzung, letztlich kam die Verlängerung der Untersuchungshaft nicht überraschend. Das Vorgehen des Gerichts zeigt, wie weit die politischen Vorgaben der türkischen Regierung in das Justizwesen hinein wirken.

Serdar Küni selbst, der in Cizre auch Vertreter der dortigen Menschenrechtsstiftung ist und Präsident der Ärztekammer in Şırnak war, hatte solch ein Ergebnis bereits befürchtet. Er war zu der Verhandlung per Videokonferenz hinzugeschaltet worden und konnte auch mit Angehörigen sprechen. Sichtlich erfreut war er über die zahlreiche Unterstützung.

Metin Bakkalcı von der Menschenrechtsstiftung der Türkei wies im Anschluss an das Verfahren noch einmal darauf hin, dass dieser Fall sehr bedeutsam für die Türkei ist: „Es geht hier um die freie ärztliche Versorgung und Verschwiegenheitspflicht des Arztes.“

Es war schon später Nachmittag, als wir unsere Rückreise nach Diyarbakır antraten. Wir hatten noch die Gelegenheit, die Familie von Serdar Küni in Cizre zu besuchen und auch seine Eltern zu treffen. Am späten Abend erreichten wir Diyarbakır.

Dienstag ___________________________________

Sur in der Hand des Staates

Am nächsten Morgen überlegten die internationalen BeobachterInnen gemeinsam mit RechtsanwältInnen und der Menschenrechtsstiftung, wie Serdar Küni weiter auf internationaler Ebene unterstützt werden kann. Wir bereiteten Pressemitteilungen auf deutsch und englisch vor. Vereinbart wurde, zum nächsten Prozesstermin, dem 24. April, erneut BeobachterInnen zu entsenden. Die Menschenrechtsstiftung verspricht sich dadurch nicht nur erhöhte internationale Aufmerksamkeit. Sie hofft auch darauf, dass Serdar Küni an dem Tag aus der Haft entlassen wird.

Im Anschluss hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig in Diyarbakır umzuschauen. Die Innenstadt Sur, die auch über Monate unter Ausgangssperren stand, ist weiterhin von Checkpoints umgeben. In der gesamten Stadt fahren gepanzerte Polizeifahrzeuge. Und in Sur selbst sind nach wie vor Gebäude zerstört, große Teile sind immer noch nicht zugänglich. Die Gassen sind mit hohen Betonplatten versperrt, so dass es nicht möglich ist, hineinzugehen oder auch nur hineinzusehen. Nach Informationen von Aktiven aus Diyarbakır sollen dort etwa 40.000 Menschen vertrieben worden sein. Teile der Altstadt wurden in ähnlicher Weise wie in Şırnak eingeebnet. Die IPPNW, die die Tage darauf eine Delegationsreise in die Stadt unternahm, schreibt dazu: „Unter den Vertriebenen sind viele, die schon einmal in den 90er Jahren aus ihren Dörfern vertrieben und damals zwangsweise in die große Stadt kamen.“3

Sur war am stärksten von den Enteignungen betroffen. Praktisch die gesamte Innenstadt von Diyarbakır ist nun in der Hand des türkischen Staates. Die IPPNW berichtet weiter: „Der Wert eines Hauses wurde geschätzt und den Eigentümern eine Eigentumswohnung am Rande der Stadt in einem der ‚Erdogan-Schlaftürme‘ angeboten, allerdings zu einem sehr viel höheren Preis, als sie für ihr altes Haus erhielten. Nimmt jemand dieses Angebot wahr, kann er es in monatlichen Mietraten abstottern. Nur die wenigsten können das auf die Dauer und verschulden sich. Verloren hat diese Bevölkerung in mehrfacher Hinsicht: durch die militärischen Angriffe auf ihren Stadtteil; sie hatten in der Zeit keinen Anspruch auf medizinische Behandlung; sie verloren ihr Haus und ihr soziales Umfeld; als Flüchtlinge im eigenen Land müssen sie ihren letzten Besitz einsetzen, um wieder ein eigenes Dach über den Kopf zu bekommen und sich zudem verschulden; sie verlieren ihre Hoffnung und können sich nicht gemeinsam wehren, da ihnen sonst Verhaftung und Gefängnis droht und die vormals bestehenden Unterstützungsstrukturen und zivilen Selbstorganisationen sind verboten oder systematisch zerschlagen worden.“

Am Nachmittag traf ich mich noch mit verschiedenen Organisationen, um mit ihnen einen Vorschlag für ein Training in gewaltfreien Methoden des Schutzes und des Widerstands zu diskutieren. Die Idee war im Laufe der Delegationsreise vor einem Jahr entstanden. Die dort aktiven Organisationen hatten sich sehr darum bemüht, die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Daneben gab es umfangreiche Ansätze der Selbstverwaltung. Aber angesichts des Ausmaßes des Krieges und der Unterdrückung herrschte große Ratlosigkeit, welche anderen Handlungsmöglichkeiten es geben könnte. Ein Training soll hier die Chance bieten, gemeinsam auf Grundlage internationaler Erfahrungen neue Ansätze zu finden. Gegenwärtig sind wir im Rahmen der Kampagne „Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei“ mit der War Resisters‘ International dabei, die finanziellen Mittel für das Training einzuwerben.

Ich war überrascht, wie viele zu dem kurzzeitig anberaumten Treffen in Diyarbakır gekommen waren. Sie zeigten sich sehr interessiert an dem Vorschlag und wollen nun überlegen, wer aus den Organisationen daran teilnehmen kann.

Am Nachmittag machte ich mich schließlich auf nach İzmir, das ich abends erreichte.

Mittwoch ___________________________________

Flüchtlinge am Rande der Gesellschaft

In İzmir ist erst einmal nichts von dem Anspannung im Südosten des Landes zu spüren. Es war schön, Freunde und Freundinnen wieder zu treffen, die ich zum Teil seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. In İzmir hatte 1993 unsere Arbeit zur Unterstützung der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei begonnen, als die dort im Verein der Kriegsgegner- und -gegnerinnen Aktiven ein Internationales Treffen zur Kriegsdienstverweigerung organisierten.

Bei einem Spaziergang am Rande der Innenstadt zeigte mir mein Gastgeber das Viertel der Zugezogenen. Es sei ein Viertel, in das immer wieder diejenigen Menschen kommen, die neu in der Stadt stranden. Es liegt unterhalb der Burg, mit steilen engen Gassen, sehr verwinkelt. Viele Kinder waren auf der Straße. Es war eines der alten Zentren von İzmir.

Es ist geplant, das gesamte Viertel abzureißen, mit der Begründung, das historische İzmir zu rekonstruieren. Ein weiteres Großprojekt der derzeitigen türkischen Regierung.

Derzeit leben in dem Viertel vor allem syrische Flüchtlinge. Es gibt für sie keine weitere Versorgung, der größte Teil der Kinder geht nicht in die Schule. Einige der Flüchtlinge haben Geschäfte eröffnet, manchmal sind auch syrische Taxifahrer anzutreffen. Sie versuchen sich, irgendwie einzurichten und zurecht zu kommen. All dies geschieht zwar mitten in der Stadt, wer aber nicht zufällig von den üblichen Plätzen und Orten in die Viertel geht, wird es überhaupt nicht wahrnehmen.

Donnerstag ________________________________

Repressionswelle und Referendum

An einem Abend trafen wir uns in einer größeren Gruppe mit ehemaligen Aktiven des Vereins für Kriegsgegner und -gegnerinnen. Es gab großes Interesse, von meinen Erfahrungen in Diyarbakır und Şırnak zu hören. Dann hatte ich Gelegenheit, mehr über die Repressionswelle gegen Oppositionelle in der Türkei zu erfahren.

Seit dem versuchten Putsch im Juli 2016 hat die Repression das ganze Land ergriffen. Zumeist unter dem Vorwurf, entweder der für den versuchten Putsch verantwortlich gemachten Gülen-Bewegung anzugehören oder aber unter dem Verdacht des Terrorismus‘, wurden tausende LehrerInnen, AkademikerInnen und Beamte entlassen, ein Drittel der Richterschaft. Die Gefängnisse sind voll von frisch Inhaftierten, darunter auch viele JournalistInnen.

Einer der Professoren, der im Januar 2016 den Internationalen Appell der AkademikerInnen für den Frieden4 mit unterzeichnet hatte, berichtet über die ganz persönlichen Konsequenzen seiner Entlassung: „Mich traf der dritte Erlass im Januar 2017 gegen die AkademikerInnen. Es werden immer wieder neue Verfügungen erlassen, die weitere Personen treffen. Niemand kann sicher sein vor dieser Art der Repression. Es bedeutet, dass du von einem Tag auf den anderen den Job verlierst. In manchen Fällen traf dies beide Elternteile von Familien.“5

Die Entlassung bedeutet aber nicht nur, dass die wirtschaftliche Grundlage für den Lebensunterhalt von heute auf morgen entfällt. Den Betroffenen wurden auch die Pässe entzogen, so dass sie nicht mehr ins Ausland gehen können. Zudem können sie keine Anstellung bei Behörden oder öffentlichen Institutionen aufnehmen.

In der Türkei wird auch gegen die Wehrpflichtigen vorgegangen, die sich seit Jahren der Ableistung des Militärdienstes entziehen. Es sind nicht nur Kriegsdienstverweigerer, die öffentlich ihre Verweigerung erklärt haben. Es betrifft zwischen 590.000 und 800.000 Wehrpflichtige. Viele von ihnen leben verborgen in der Türkei und haben sich ihr Leben außerhalb der staatlichen Kontrolle eingerichtet.6

In der Türkei besteht für alle Männer die Verpflichtung einen 12-monatigen Militärdienst abzuleisten. Wer sich dem Dienst entzieht, verliert faktisch die bürgerlichen Rechte. Er erhält keinen Pass, kann kein Konto eröffnen, keine legale Arbeit annehmen, nicht heiraten und auch die eigenen Kinder nicht anerkennen. Kriegsdienstverweigerern droht überdies mehrmalige Rekrutierung und Strafverfolgung, da die Wehrpflicht erst dann als erfüllt gilt, wenn der Militärdienst abgeleistet wurde.7 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nannte dies in einer Entscheidung im Jahr 2006 einen „Zivilen Tod“8.

Im Dezember 2016 erging ein Erlass des Verteidigungsministeriums, mit dem die Arbeitgeber aufgefordert wurden, den Wehrpflichtstatus ihrer Mitarbeiter prüfen zu lassen. Die Arbeitnehmer sollen sich innerhalb von 15 Tagen beim Rekrutierungsbüro melden und sich registrieren lassen. Wer dem nicht nachkommt, verliert unweigerlich den Job. Damit verlieren sie auch jede soziale Absicherung z.B. bei Krankheit. Der Verein für Kriegsdienstverweigerung schreibt dazu: „Mit dieser Praxis können die Kriegsdienstverweigerer keine bürgerlichen Rechte wie andere Bürger wahrnehmen. Kriegsdienstverweigerer sind dazu gezwungen sich aus dem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben zurückzuziehen.“9

Eine andere Gruppe, die nun in Deutschland um Asyl nachsucht, sind türkische Soldaten, die im Rahmen der NATO in Deutschland stationiert waren. Auch sie wurden von einem auf den anderen Tag aus dem Dienst entlassen, unter dem Vorwurf, an dem Putschversuch beteiligt gewesen zu sein. Zwei Offiziere sind Ende Januar erstmals an die Öffentlichkeit getreten. „Wenn ich in die Türkei zurückgehe, riskiere ich, verhaftet und womöglich gefoltert zu werden“, sagte ein hochrangiger Offizier. Mit dem Putschversuch in der Türkei hätten sie nichts zu tun, betonten die Soldaten. Und andere, die zurückgegangen sind, seien in der Türkei unverzüglich verhaftet worden.10

Das derzeit alles überdeckende Thema ist das Referendum, mit dem über die von der AKP vorgeschlagenen Verfassungsänderungen abgestimmt werden soll. Ein Referendum ist übrigens nur deshalb erforderlich, weil die AKP gemeinsam mit der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) nicht die notwendige 2/3-Mehrheit im Parlament für eine sofort wirksame Verfassungsänderung hat. Mit mehr als 3/5 der Stimmen jedoch konnte das Referendum initiiert werden, das am 16. April 2017 stattfinden soll.

Die Eskalation und Unsicherheit, so lässt sich in den letzten zwei Jahren deutlich feststellen, ist Programm des Präsidenten Tayyip Erdoğan und seiner Partei AKP. Nach der im Juni 2015 verlorenen absoluten Mehrheit reagierte Erdoğan mit der Aufkündigung des Friedensprozesses und der Eskalation im Südosten des Landes. Die AKP blockierte zugleich die Parlamentsarbeit, um eine neue Wahl zu erzwingen, bei der sie dann auch mehr Stimmen erringen konnte. Im Mai 2016 brachte die AKP unter Erdoğan eine Gesetzesvorlage ein, womit die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten aufgehoben wurde. Die Entscheidung traf vor allem die pro-kurdische HDP. Im November 2016 waren daraufhin zwölf Abgeordnete der Partei verhaftet worden.11 Präsident Erdoğan will sich als der starke Mann präsentieren, der allein für Sicherheit, Aufschwung und Wohlstand sorgen kann.

Nun steht er vor dem entscheidenden Schlag, der seine Macht als Präsident für ein weiteres Jahrzehnt festigen könnte. Seit dem versuchten Putsch im Juli 2016 regiert er über die Ausrufung des Ausnahmezustandes gemeinsam mit dem Ministerrat über das Parlament hinweg. Vom Ministerrat erlassene Dekrete haben faktisch Gesetzeskraft. In Zukunft, das ist ein Bestandteil der Verfassungsänderung, soll diese Möglichkeit dem Präsidenten in alleiniger Verantwortung offenstehen.

Die Verfassungsänderung würde zugleich bedeuten, dass der Präsident die Gerichtsbarkeit kontrolliert, indem er den Präsidenten und die Hälfte der Mitglieder des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Mitgliedern des Obersten Verfassungsgerichtes beruft.

Er erhält auch in anderen Bereichen umfangreiche Befugnisse, bestimmt die nationale Sicherheitspolitik, wird Oberkommandierender der Armee und entscheidet über den Einsatz der Armee und die Ausrufung des Ausnahmezustandes.12

Kurz: Der Präsident erhält weitreichende Machtbefugnisse, die ihm ermöglichen, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, und dafür sorgen, dass er die Kontrolle über die Institutionen, wie z.B. das Justizwesen, hat, die eigentlich ihn und die staatlichen Organe kontrollieren sollen. Damit wird der derzeit bestehende Ausnahmezustand mit all seinen Folgen verfassungsrechtlich legitimiert.

„Wir wissen wirklich nicht, was wir zu erwarten haben“, so hatte mir ein Aktivist am Rande der Verhandlung in Şırnak gesagt. „Wenn Erdoğan das Referendum verliert, wenn also wirklich die Mehrheit mit Nein stimmt, könnte das wieder eine Eskalation und Krieg zur Folge haben, wie vor zwei Jahren. Aber wenn er das Referendum gewinnt, kann er schalten und walten, wie er will.“ Es ist sehr offensichtlich, dass die bisherigen Maßnahmen nicht nur die Opposition ausschalten sollen, sondern auch die Kontrollinstanzen des Staates schwächen und eine Öffentlichkeit über Menschenrechts- und Rechtsverletzungen verhindert werden soll.

Es gibt in der Türkei zahlreiche Versuche, sich für ein Hayir, ein Nein, am 16. April stark zu machen. Und es ist nach heutigem Stand nicht sicher, wie es tatsächlich ausgehen wird, vorausgesetzt, dass es ein freies Referendum ohne Manipulationen ist. „Noch sind nach Umfragen 17% der WählerInnen unentschlossen“, so eine Einschätzung. „Das sind aber zumeist Anhänger der AKP oder MHP. Es ist wirklich sehr unsicher, wie es ausgehen wird.“

Freitag ____________________________________

Gehen oder kämpfen

Während ich mich wieder auf dem Weg nach Offenbach machte, dachte ich noch einmal an die unsichere Situation der Aktiven in der Türkei, die sich so engagiert für Menschenrechte und gegen Krieg einsetzen. Einige aus der Opposition, insbesondere jene, gegen die Anklagen vorbereitet wurden oder gegen die Strafverfahren laufen, sind bereits ins Ausland gegangen. Andere bleiben im Land, ratlos, unsicher ob der eigenen und der Zukunft des Landes und mit der Erwartung, dass sie jederzeit verhaftet werden können.

Trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - werden weitere Aktivitäten vorbereitet. In Izmir soll es am 1. April 2017 ein Festival geben, um das Hayir gegen die Verfassungsänderung zu stärken. Andere Gruppen in Izmir wollen am Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, dem 15. Mai 2017, eine Kriegsdienstverweigerungsaktion durchführen. Sie alle wissen, unter welchen Gefahren sie agieren und wie wichtig ihnen internationale Unterstützung ist.

Fußnoten

1 Rudi Friedrich: Reise durch ein Kriegsgebiet. gwr 410, Sommer 2016

2 Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in South-East Turkey, July 2015 to December 2016, February 2017

3 IPPNW: Diyarbakır - Eine verwundete Stadt. 20. März 2017

4 http://voiceofjiyan.com/2016/01/13/turkish-academicians-forpeace-we-will-not-be-a-party-to-this-crime/

5 Zum Schutz der Personen sind in diesem Artikel keine Namen genannt

6 Association for Conscientious Objection: Briefing paper regarding the OHCHR of Turkey. 17.02.2017.

7 Auf Dauer im Ausland lebende türkische Staatsbürger haben die Möglichkeit, die sogenannte Freikaufsregelung in Anspruch zu nehmen und 1.000 € zu zahlen als Ersatz für die Ableistung des Militärdienstes

8 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Pressemitteilung vom 24.01.2006 zur Entscheidung Ülke v. Turkey, application no. 39437/98

9 Association for Conscientious Objection, ebd.

10 Spiegel Online: Asyl-Anträge türkischer Nato-Soldaten - Türkei bedrängt deutsche Behörden. 29.1.2017

11 FAZ: Ein Land im Ausnahmezustand. 4.11.2016

12 Telepolis: Wodurch unterscheidet sich Erdoğans Präsidialdiktatur von anderen existierenden Präsidialsystemen? 12. Januar 2017

Rudi Friedrich: Türkei - Ein Reisebericht. 3. April 2017. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2017

Vom 11. bis 17. März 2017 reiste Rudi Friedrich für Connection e.V. und die War Resisters‘ International in die Türkei. Anlass war ein Strafverfahren gegen den Arzt Serdar Küni in Şırnak, einer im Südosten des Landes gelegenen Stadt. Befreundete türkische AktivistInnen hatten uns gebeten, Beobachter zu entsenden und damit die Arbeit für Menschenrechte und gegen Krieg zu stärken. Rudi Friedrich nutzte die Gelegenheit auch zu Besuchen in Diyarbakır und İzmir. Die Namen der GesprächspartnerInnen sind aus Sicherheitsgründen anonymisiert. (d. Red.)

Sonntag ___________________________________

Unterstützung für Serdar Küni

Die Reise von Offenbach nach Diyarbakır dauert schon einige Stunden und war mit einer Zwischenstation in Antalya verbunden, eine Touristenmetropole der Türkei, die an der Küste des Mittelmeers liegt und von schneebedeckten Gipfeln der nahegelegenen Berge umkränzt war. So waren nicht nur viele Menschen auf dem Weg zu ihren Familien im Flugzeug, sondern auch einige Touristen, die ungeachtet der angespannten politischen Situation in der Türkei dort ihre Ferien verbringen.

In Diyarbakır angekommen, wurde ich von Vertretern der Menschenrechtsstiftung sogleich zu einem Forum gebracht, das eigens zur Unterstützung des Arztes Serdar Küni stattfand. Dr. Serdar Küni ist seit Jahren im Gesundheitszentrum von Cizre, in dem im Südosten der Türkei gelegenen Bezirk Şırnak, tätig. Dort führte er auch während der über Monate andauernden Ausgangssperren und Gefechte Anfang des Jahres 2016 Behandlungen durch. Er wurde im Oktober 2016 vorgeladen und unter dem Vorwurf verhaftet, „mutmaßlich Militante behandelt zu haben“ und dies nicht gegenüber den Sicherheitskräften zur Anzeige gebracht zu haben. Er sei zudem Mitglied der PKK. Das Verfahren sollte am nächsten Tag in der Provinzhauptstadt Şırnak stattfinden.

Zum Forum waren etwa 100 Personen gekommen. Es diente vor allem dazu, dass die verschiedensten Organisationen und Parteien aus der Türkei sowie die anwesenden internationalen BeobachterInnen ihre Unterstützung für Serdar Küni erklären konnten. So waren neben mir VertreterInnen von Menschenrechtsorganisationen und Ärzteverbänden aus England, USA, Deutschland, Schweden und Norwegen gekommen. Die Menschenrechtsstiftung der Türkei (TİHV) hatte sie eingeladen, weil dieses Verfahren auch grundsätzliche Bedeutung hat, inwieweit das Arztgeheimnis bei Behandlungen gewahrt wird bzw. der Arzt zum Helfershelfer der Sicherheitskräfte werden soll. Im Anschluss erhielt Serdar Küni den diesjährigen Peace Companionship and Democracy Preis der Ärztekammer Diyarbakır. Sein Bruder nahm ihn stellvertretend entgegen.

Kaum war dies geschehen, saßen wir schon im Kleinbus, um nach Şırnak zu fahren. Wir fuhren möglichst schnell los, um nicht in der Dunkelheit auf Checkpoints zu treffen. Es ging zunächst nach Süden an der hoch auf einem Berg gelegenen Stadt Mardin vorbei. Später fuhren wir entlang der Grenze nach Syrien. Dort errichtet die Türkei eine drei Meter hohe Mauer. Gebaut wird sie im Auftrag der staatlichen Wohnungsbaubehörde aus Betonelementen mit Stacheldraht und gesichert durch Wachtürme. Damit soll der Grenzübertritt von Flüchtlingen aus Syrien verhindert werden.

An der Grenze liegt auch die Stadt Nusaybin, auf drei Seiten umgeben vom Grenzzaun. Nusaybin ist nach wie vor von Ausgangssperren betroffen. Wir wurden dort an einem Checkpoint angehalten und kontrolliert.

Als wir uns der Stadt Cizre näherten, kamen wir plötzlich in einen Stau. Ursache dafür war ein weiterer Checkpoint, wo die Polizei mit gepanzerten Fahrzeugen kontrollierte. Unsere Ausweise wurden einbehalten und geprüft. Dann durften wir weiterfahren. Aber schon fünfhundert Meter weiter am Eingang der Stadt wartete der nächste Checkpoint auf uns. Insgesamt passierten wir in Cizre sechs Checkpoints. In der Stadt sind nach wie vor die Spuren der Kämpfe von Ende 2015, Anfang 2016 zu sehen.

Wir folgten dann dem Flusslauf des Tigris durch beeindruckende Felsformationen. Nach sechs Stunden Fahrt erreichten wir am Abend – nach weiteren Checkpoints – das Hotel in Şırnak.

Montag ____________________________________

Ein Lehrstück über das Vorgehen im Krieg

Fast genau ein Jahr zuvor war ich bereits als Teil einer Delegation der War Resisters‘ International in der Region gewesen. Es war die Zeit der sogenannten Ausgangssperren, faktisch ein Krieg in einer Vielzahl von Städten in der vor allem von KurdInnen bewohnten Region im Südosten des Landes.

Noch im Februar 2015, also vor gerade mal zwei Jahren, war von der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), der Regierungspartei, und der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ein Zehn-Punkte-Friedensplan (Dolmabahçe-Abkommen) bekannt gegeben worden. Als aber klar wurde, dass die regierende AKP unter Präsident Erdoğan in den darauf folgenden Wahlen die absolute Mehrheit verfehlen würde und die HDP die Zehn-Prozent-Hürde überschreiten könnte, kündigte der Präsident das Abkommen auf und erklärte, dass er „unter keinen Umständen die Vereinbarungen des Dolmabahçe-Abkommens akzeptiere“ und dass „ein Abkommen nicht mit denen gemacht werde, die sich auf eine terroristische Organisation (PKK) stützen“.1

Daran schloss sich eine Eskalation an, die im Südosten des Landes, in den vor allem von KurdInnen bewohnten Bezirken, in einen Krieg mündete. Auf der einen Seite standen bewaffnete Gruppen der Patriotisch Revolutionären Jugendbewegung (YDG-H), die in den Städten Gräben aushob und Barrikaden errichtete. Auf der anderen Seite rückten türkische Polizei und Militär an. Es folgten monatelange Rund-um-die-Uhr Ausgangssperren in 30 Stadtteilen in neun Provinzen. 1,8 Millionen Menschen waren davon betroffen. In einem Bericht des Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen von Mitte Februar 2017 wird die Zahl der Getöteten mit 2.000 angegeben, 350.000 bis zu einer halben Million Menschen wurden aus ihren Häusern und Wohnungen vertrieben.2

In Şırnak sieht das jetzt so aus: Die Stadtteile, die unter Ausgangssperre standen, wurden zunächst vollständig von den türkischen Sicherheitskräften abgeriegelt und es wurde dann ohne Unterschied gegen die noch in den Gebieten befindlichen Personen vorgegangen. Nach der Räumung wurden die Hausbesitzer vom Staat enteignet und mit einer völlig unzureichenden Entschädigung abgefunden. Dann kamen Bagger und Bulldozer und rissen die kompletten Stadtviertel bis auf die Grundmauern ab. 40.000 von insgesamt 62.000 BewohnerInnen, so ein Mitarbeiter der Menschenrechtsstiftung der Türkei, verlor so ihre Wohnung, ihr Hab und Gut. Tiefe Wunden sind in die Stadt gerissen.

Für den Vormittag des Tages hatte ich darum gebeten, dass wir einen Blick in die Stadt werfen können. Davon wurde aber aus Sicherheitsgründen abgeraten. Erst kurz vor der Beginn der Verhandlung fuhren wir mit einem Kleinbus durch die abgerissenen Stadtviertel und sahen, wie große Flächen dem Erdboden gleichgemacht worden waren. Die dort früher lebende Bevölkerung versucht, bei ihren Familien oder anderen UnterstützerInnen unterzukommen. Der gesamte Hausrat und die eigene Wohnung sind verloren.

Wir hatten bereits letztes Jahr über den Rojava Hilfs- und Solidaritätsvereins erfahren, dass ein wesentliches Ziel der Arbeit der kurdischen Organisationen mit den Vertriebenen ist, die Menschen in der Region zu halten. Für die von den Ausgangssperren betroffenen Menschen startete der Verein eine Kampagne unter dem Namen „Öffnet Eure Herzen und Türen“. Ihm sei es damit gelungen, dass die allermeisten entweder bei eigenen oder befreundeten Familien unterkommen konnten, oder von anderen Familien in benachbarten Städten aufgenommen wurden. Die Absicht dabei sei, einen ähnlichen Exodus wie in den 90er Jahren zu vermeiden, als 4,5 Millionen KurdInnen wegen des Krieges aus der Region in den Westen der Türkei oder nach Europa flohen und sich dort assimilieren mussten. Heute gingen sie in den nahegelegensten Stadtteil und können somit in der Region bleiben. Das zeigt eine große Solidarität, aber auch ein deutlich vergrößertes Selbstbewusstsein der eigenen (kurdischen) Identität.

Am frühen Nachmittag sollte der Prozess gegen Serdar Küni beginnen. Der Eingang war wieder einmal nur über einen Checkpoint möglich. Es kamen etwa 70 Personen zur Verhandlung, Familie, FreundInnen, UnterstützerInnen. Kurz nach unserem Eintreffen stellten wir fest, dass das Gericht noch verschiedene andere Fälle zu behandeln hatte.

Das gab mir die Möglichkeit, mit Aktiven aus der Region zu sprechen. So diskutierte ich mit einem Kriegsdienstverweigerer aus Cizre über die dortige Situation. Er schilderte mir, dass die Bevölkerung sehr von der militanten kurdischen Bewegung enttäuscht sei. Das Ausheben von Gräben in den Städten und die Aufnahme des bewaffneten Kampfes habe dazu geführt, dass die Bevölkerung fliehen musste, viele Zivilisten bei den Kämpfen starben und schließlich weiträumige Enteignungen erfolgten, mit anschließendem Abriss und Vertreibung. Es wäre falsch gewesen, so vorzugehen. Ich schilderte ihm meinen Eindruck, dass die Gruppen der Patriotisch Revolutionären Jugendbewegung offensichtlich das Modell des Kampfes im Norden Syriens gegen den IS, in Rojava, übernommen hätten. Er sagte daraufhin: „Ja, aber da war es eine völlig andere Situation. Der IS war militärisch nicht so stark, wie die türkische Armee. Die kurdische Bewegung werde dort von den USA und anderen unterstützt, die gegen den IS vorgehen. In der Türkei hat das alles gefehlt. Und schließlich sind die türkischen Sicherheitskräfte in den Städten in der Türkei wesentlich besser vernetzt und hatten daher auch besseren Zugriff auf interne Informationen.“

Er berichtete mir auch davon, dass praktisch alle Amtsträger in der Region von der türkischen Regierung abgesetzt oder sogar verhaftet worden sind. Entweder seien sie inzwischen ins Ausland geflohen oder sie ständen unter Anklage. Die Amtsgeschäfte werden seitdem von Gouverneuren und Bevollmächtigten geführt, die von der türkischen Regierung zentral eingesetzt wurden. Es ist ein Gebiet, das unter Besatzung steht.

Dann begann das eigentliche Verfahren. Schon im Vorfeld waren Zweifel an den Aussagen der Zeugen geäußert worden. Den RechtsanwältInnen war bei Durchsicht der Protokolle aufgefallen, dass alle mitten in der Nacht unterzeichnet worden waren. Zudem enthielten sie wenig substantiierte Vorwürfe gegen eine Vielzahl von Personen in Cizre. Die vier jungen Männer, die dann vor Gericht aussagten, waren alle während der Ausgangssperren verhaftet worden.

Ihre Vermutung bestätigte sich: Ein Belastungszeuge nach dem anderen erklärte unter Eid vor Gericht, dass er den Arzt Dr. Serdar Küni nie gesehen habe und nicht kenne. Einer erklärte, auf ihn sei psychisch Druck ausgeübt worden, damit er die Aussage unterschreibt. Die anderen Zeugen machten deutlich, dass sie nach ihrer Verhaftung durch Polizei und Sicherheitskräfte gefoltert worden seien. „Sie haben mir einen Zahn ausgeschlagen“, berichtete einer von ihnen. „Dann zogen sie mir eine Weste mit einem Sprengsatz an und drohten mich in die Luft zu sprengen. Ich habe unterschrieben, aber nichts davon, was dort steht, ist wahr.“

Bei den FreundInnen, Verwandten und MitstreiterInnen von Serdar Küni wuchs daraufhin die Hoffnung, dass er aus der Untersuchungshaft entlassen werden könnte. Serdar Küni selbst betonte: „Ich bin in meinem Beruf als Arzt verpflichtet, jeden zu behandeln, der ärztlicher Versorgung bedarf. Aber ich habe mich in diesem Rahmen immer an Recht und Gesetz gehalten“.

Die Verteidigung machte in ihren Plädoyers deutlich, dass Dr. Serdar Küni als Arzt der Schweigepflicht unterliegt und es seine Verpflichtung als Arzt sei, jede Person zu behandeln, die ärztlicher Versorgung bedarf. Sie forderte angesichts des Prozessverlaufs die sofortige Freilassung von Dr. Serdar Küni.

Die Staatsanwaltschaft hingegen äußerte in dürren Worten weiterhin Zweifel an seiner Unschuld. Es gäbe da noch einen geheimen Zeugen. Sie forderte das Gericht auf, die Untersuchungshaft zu verlängern. Nach kurzer Beratungszeit kam das Gericht dem Antrag der Staatsanwaltschaft nach. Obwohl also alle von der Staatsanwaltschaft zum Prozess eingebrachten Zeugen ihre Aussagen widerrufen hatten, wurde Künis Untersuchungshaft bis zum nächsten Verhandlungstermin, dem 24. April 2017, verlängert.

Nach der Folterkonvention ist ein Verfahren unverzüglich einzustellen, wenn sich herausstellt, dass Zeugenaussagen unter Folter erpresst wurden. Das betonten im Anschluss mehrere DelegationsteilnehmerInnen. Und klar war auch, dass die Aussagen der Zeugen kaum hätten deutlicher zum Ausdruck bringen können, mit welcher Brutalität die türkischen Sicherheitskräfte im Krieg im Südosten vorgegangen sind.

Die Enttäuschung bei den BesucherInnen der Verhandlung war groß. Aber, so eine spätere Einschätzung, letztlich kam die Verlängerung der Untersuchungshaft nicht überraschend. Das Vorgehen des Gerichts zeigt, wie weit die politischen Vorgaben der türkischen Regierung in das Justizwesen hinein wirken.

Serdar Küni selbst, der in Cizre auch Vertreter der dortigen Menschenrechtsstiftung ist und Präsident der Ärztekammer in Şırnak war, hatte solch ein Ergebnis bereits befürchtet. Er war zu der Verhandlung per Videokonferenz hinzugeschaltet worden und konnte auch mit Angehörigen sprechen. Sichtlich erfreut war er über die zahlreiche Unterstützung.

Metin Bakkalcı von der Menschenrechtsstiftung der Türkei wies im Anschluss an das Verfahren noch einmal darauf hin, dass dieser Fall sehr bedeutsam für die Türkei ist: „Es geht hier um die freie ärztliche Versorgung und Verschwiegenheitspflicht des Arztes.“

Es war schon später Nachmittag, als wir unsere Rückreise nach Diyarbakır antraten. Wir hatten noch die Gelegenheit, die Familie von Serdar Küni in Cizre zu besuchen und auch seine Eltern zu treffen. Am späten Abend erreichten wir Diyarbakır.

Dienstag ___________________________________

Sur in der Hand des Staates

Am nächsten Morgen überlegten die internationalen BeobachterInnen gemeinsam mit RechtsanwältInnen und der Menschenrechtsstiftung, wie Serdar Küni weiter auf internationaler Ebene unterstützt werden kann. Wir bereiteten Pressemitteilungen auf deutsch und englisch vor. Vereinbart wurde, zum nächsten Prozesstermin, dem 24. April, erneut BeobachterInnen zu entsenden. Die Menschenrechtsstiftung verspricht sich dadurch nicht nur erhöhte internationale Aufmerksamkeit. Sie hofft auch darauf, dass Serdar Küni an dem Tag aus der Haft entlassen wird.

Im Anschluss hatte ich Gelegenheit, mich ein wenig in Diyarbakır umzuschauen. Die Innenstadt Sur, die auch über Monate unter Ausgangssperren stand, ist weiterhin von Checkpoints umgeben. In der gesamten Stadt fahren gepanzerte Polizeifahrzeuge. Und in Sur selbst sind nach wie vor Gebäude zerstört, große Teile sind immer noch nicht zugänglich. Die Gassen sind mit hohen Betonplatten versperrt, so dass es nicht möglich ist, hineinzugehen oder auch nur hineinzusehen. Nach Informationen von Aktiven aus Diyarbakır sollen dort etwa 40.000 Menschen vertrieben worden sein. Teile der Altstadt wurden in ähnlicher Weise wie in Şırnak eingeebnet. Die IPPNW, die die Tage darauf eine Delegationsreise in die Stadt unternahm, schreibt dazu: „Unter den Vertriebenen sind viele, die schon einmal in den 90er Jahren aus ihren Dörfern vertrieben und damals zwangsweise in die große Stadt kamen.“3

Sur war am stärksten von den Enteignungen betroffen. Praktisch die gesamte Innenstadt von Diyarbakır ist nun in der Hand des türkischen Staates. Die IPPNW berichtet weiter: „Der Wert eines Hauses wurde geschätzt und den Eigentümern eine Eigentumswohnung am Rande der Stadt in einem der ‚Erdogan-Schlaftürme‘ angeboten, allerdings zu einem sehr viel höheren Preis, als sie für ihr altes Haus erhielten. Nimmt jemand dieses Angebot wahr, kann er es in monatlichen Mietraten abstottern. Nur die wenigsten können das auf die Dauer und verschulden sich. Verloren hat diese Bevölkerung in mehrfacher Hinsicht: durch die militärischen Angriffe auf ihren Stadtteil; sie hatten in der Zeit keinen Anspruch auf medizinische Behandlung; sie verloren ihr Haus und ihr soziales Umfeld; als Flüchtlinge im eigenen Land müssen sie ihren letzten Besitz einsetzen, um wieder ein eigenes Dach über den Kopf zu bekommen und sich zudem verschulden; sie verlieren ihre Hoffnung und können sich nicht gemeinsam wehren, da ihnen sonst Verhaftung und Gefängnis droht und die vormals bestehenden Unterstützungsstrukturen und zivilen Selbstorganisationen sind verboten oder systematisch zerschlagen worden.“

Am Nachmittag traf ich mich noch mit verschiedenen Organisationen, um mit ihnen einen Vorschlag für ein Training in gewaltfreien Methoden des Schutzes und des Widerstands zu diskutieren. Die Idee war im Laufe der Delegationsreise vor einem Jahr entstanden. Die dort aktiven Organisationen hatten sich sehr darum bemüht, die Menschenrechtsverletzungen zu dokumentieren. Daneben gab es umfangreiche Ansätze der Selbstverwaltung. Aber angesichts des Ausmaßes des Krieges und der Unterdrückung herrschte große Ratlosigkeit, welche anderen Handlungsmöglichkeiten es geben könnte. Ein Training soll hier die Chance bieten, gemeinsam auf Grundlage internationaler Erfahrungen neue Ansätze zu finden. Gegenwärtig sind wir im Rahmen der Kampagne „Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei“ mit der War Resisters‘ International dabei, die finanziellen Mittel für das Training einzuwerben.

Ich war überrascht, wie viele zu dem kurzzeitig anberaumten Treffen in Diyarbakır gekommen waren. Sie zeigten sich sehr interessiert an dem Vorschlag und wollen nun überlegen, wer aus den Organisationen daran teilnehmen kann.

Am Nachmittag machte ich mich schließlich auf nach İzmir, das ich abends erreichte.

Mittwoch ___________________________________

Flüchtlinge am Rande der Gesellschaft

In İzmir ist erst einmal nichts von dem Anspannung im Südosten des Landes zu spüren. Es war schön, Freunde und Freundinnen wieder zu treffen, die ich zum Teil seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. In İzmir hatte 1993 unsere Arbeit zur Unterstützung der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei begonnen, als die dort im Verein der Kriegsgegner- und -gegnerinnen Aktiven ein Internationales Treffen zur Kriegsdienstverweigerung organisierten.

Bei einem Spaziergang am Rande der Innenstadt zeigte mir mein Gastgeber das Viertel der Zugezogenen. Es sei ein Viertel, in das immer wieder diejenigen Menschen kommen, die neu in der Stadt stranden. Es liegt unterhalb der Burg, mit steilen engen Gassen, sehr verwinkelt. Viele Kinder waren auf der Straße. Es war eines der alten Zentren von İzmir.

Es ist geplant, das gesamte Viertel abzureißen, mit der Begründung, das historische İzmir zu rekonstruieren. Ein weiteres Großprojekt der derzeitigen türkischen Regierung.

Derzeit leben in dem Viertel vor allem syrische Flüchtlinge. Es gibt für sie keine weitere Versorgung, der größte Teil der Kinder geht nicht in die Schule. Einige der Flüchtlinge haben Geschäfte eröffnet, manchmal sind auch syrische Taxifahrer anzutreffen. Sie versuchen sich, irgendwie einzurichten und zurecht zu kommen. All dies geschieht zwar mitten in der Stadt, wer aber nicht zufällig von den üblichen Plätzen und Orten in die Viertel geht, wird es überhaupt nicht wahrnehmen.

Donnerstag ________________________________

Repressionswelle und Referendum

An einem Abend trafen wir uns in einer größeren Gruppe mit ehemaligen Aktiven des Vereins für Kriegsgegner und -gegnerinnen. Es gab großes Interesse, von meinen Erfahrungen in Diyarbakır und Şırnak zu hören. Dann hatte ich Gelegenheit, mehr über die Repressionswelle gegen Oppositionelle in der Türkei zu erfahren.

Seit dem versuchten Putsch im Juli 2016 hat die Repression das ganze Land ergriffen. Zumeist unter dem Vorwurf, entweder der für den versuchten Putsch verantwortlich gemachten Gülen-Bewegung anzugehören oder aber unter dem Verdacht des Terrorismus‘, wurden tausende LehrerInnen, AkademikerInnen und Beamte entlassen, ein Drittel der Richterschaft. Die Gefängnisse sind voll von frisch Inhaftierten, darunter auch viele JournalistInnen.

Einer der Professoren, der im Januar 2016 den Internationalen Appell der AkademikerInnen für den Frieden4 mit unterzeichnet hatte, berichtet über die ganz persönlichen Konsequenzen seiner Entlassung: „Mich traf der dritte Erlass im Januar 2017 gegen die AkademikerInnen. Es werden immer wieder neue Verfügungen erlassen, die weitere Personen treffen. Niemand kann sicher sein vor dieser Art der Repression. Es bedeutet, dass du von einem Tag auf den anderen den Job verlierst. In manchen Fällen traf dies beide Elternteile von Familien.“5

Die Entlassung bedeutet aber nicht nur, dass die wirtschaftliche Grundlage für den Lebensunterhalt von heute auf morgen entfällt. Den Betroffenen wurden auch die Pässe entzogen, so dass sie nicht mehr ins Ausland gehen können. Zudem können sie keine Anstellung bei Behörden oder öffentlichen Institutionen aufnehmen.

In der Türkei wird auch gegen die Wehrpflichtigen vorgegangen, die sich seit Jahren der Ableistung des Militärdienstes entziehen. Es sind nicht nur Kriegsdienstverweigerer, die öffentlich ihre Verweigerung erklärt haben. Es betrifft zwischen 590.000 und 800.000 Wehrpflichtige. Viele von ihnen leben verborgen in der Türkei und haben sich ihr Leben außerhalb der staatlichen Kontrolle eingerichtet.6

In der Türkei besteht für alle Männer die Verpflichtung einen 12-monatigen Militärdienst abzuleisten. Wer sich dem Dienst entzieht, verliert faktisch die bürgerlichen Rechte. Er erhält keinen Pass, kann kein Konto eröffnen, keine legale Arbeit annehmen, nicht heiraten und auch die eigenen Kinder nicht anerkennen. Kriegsdienstverweigerern droht überdies mehrmalige Rekrutierung und Strafverfolgung, da die Wehrpflicht erst dann als erfüllt gilt, wenn der Militärdienst abgeleistet wurde.7 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte nannte dies in einer Entscheidung im Jahr 2006 einen „Zivilen Tod“8.

Im Dezember 2016 erging ein Erlass des Verteidigungsministeriums, mit dem die Arbeitgeber aufgefordert wurden, den Wehrpflichtstatus ihrer Mitarbeiter prüfen zu lassen. Die Arbeitnehmer sollen sich innerhalb von 15 Tagen beim Rekrutierungsbüro melden und sich registrieren lassen. Wer dem nicht nachkommt, verliert unweigerlich den Job. Damit verlieren sie auch jede soziale Absicherung z.B. bei Krankheit. Der Verein für Kriegsdienstverweigerung schreibt dazu: „Mit dieser Praxis können die Kriegsdienstverweigerer keine bürgerlichen Rechte wie andere Bürger wahrnehmen. Kriegsdienstverweigerer sind dazu gezwungen sich aus dem sozialen, politischen und wirtschaftlichen Leben zurückzuziehen.“9

Eine andere Gruppe, die nun in Deutschland um Asyl nachsucht, sind türkische Soldaten, die im Rahmen der NATO in Deutschland stationiert waren. Auch sie wurden von einem auf den anderen Tag aus dem Dienst entlassen, unter dem Vorwurf, an dem Putschversuch beteiligt gewesen zu sein. Zwei Offiziere sind Ende Januar erstmals an die Öffentlichkeit getreten. „Wenn ich in die Türkei zurückgehe, riskiere ich, verhaftet und womöglich gefoltert zu werden“, sagte ein hochrangiger Offizier. Mit dem Putschversuch in der Türkei hätten sie nichts zu tun, betonten die Soldaten. Und andere, die zurückgegangen sind, seien in der Türkei unverzüglich verhaftet worden.10

Das derzeit alles überdeckende Thema ist das Referendum, mit dem über die von der AKP vorgeschlagenen Verfassungsänderungen abgestimmt werden soll. Ein Referendum ist übrigens nur deshalb erforderlich, weil die AKP gemeinsam mit der Partei der nationalistischen Bewegung (MHP) nicht die notwendige 2/3-Mehrheit im Parlament für eine sofort wirksame Verfassungsänderung hat. Mit mehr als 3/5 der Stimmen jedoch konnte das Referendum initiiert werden, das am 16. April 2017 stattfinden soll.

Die Eskalation und Unsicherheit, so lässt sich in den letzten zwei Jahren deutlich feststellen, ist Programm des Präsidenten Tayyip Erdoğan und seiner Partei AKP. Nach der im Juni 2015 verlorenen absoluten Mehrheit reagierte Erdoğan mit der Aufkündigung des Friedensprozesses und der Eskalation im Südosten des Landes. Die AKP blockierte zugleich die Parlamentsarbeit, um eine neue Wahl zu erzwingen, bei der sie dann auch mehr Stimmen erringen konnte. Im Mai 2016 brachte die AKP unter Erdoğan eine Gesetzesvorlage ein, womit die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten aufgehoben wurde. Die Entscheidung traf vor allem die pro-kurdische HDP. Im November 2016 waren daraufhin zwölf Abgeordnete der Partei verhaftet worden.11 Präsident Erdoğan will sich als der starke Mann präsentieren, der allein für Sicherheit, Aufschwung und Wohlstand sorgen kann.

Nun steht er vor dem entscheidenden Schlag, der seine Macht als Präsident für ein weiteres Jahrzehnt festigen könnte. Seit dem versuchten Putsch im Juli 2016 regiert er über die Ausrufung des Ausnahmezustandes gemeinsam mit dem Ministerrat über das Parlament hinweg. Vom Ministerrat erlassene Dekrete haben faktisch Gesetzeskraft. In Zukunft, das ist ein Bestandteil der Verfassungsänderung, soll diese Möglichkeit dem Präsidenten in alleiniger Verantwortung offenstehen.

Die Verfassungsänderung würde zugleich bedeuten, dass der Präsident die Gerichtsbarkeit kontrolliert, indem er den Präsidenten und die Hälfte der Mitglieder des Rates der Richter und Staatsanwälte sowie 12 von 15 Mitgliedern des Obersten Verfassungsgerichtes beruft.

Er erhält auch in anderen Bereichen umfangreiche Befugnisse, bestimmt die nationale Sicherheitspolitik, wird Oberkommandierender der Armee und entscheidet über den Einsatz der Armee und die Ausrufung des Ausnahmezustandes.12

Kurz: Der Präsident erhält weitreichende Machtbefugnisse, die ihm ermöglichen, Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, und dafür sorgen, dass er die Kontrolle über die Institutionen, wie z.B. das Justizwesen, hat, die eigentlich ihn und die staatlichen Organe kontrollieren sollen. Damit wird der derzeit bestehende Ausnahmezustand mit all seinen Folgen verfassungsrechtlich legitimiert.

„Wir wissen wirklich nicht, was wir zu erwarten haben“, so hatte mir ein Aktivist am Rande der Verhandlung in Şırnak gesagt. „Wenn Erdoğan das Referendum verliert, wenn also wirklich die Mehrheit mit Nein stimmt, könnte das wieder eine Eskalation und Krieg zur Folge haben, wie vor zwei Jahren. Aber wenn er das Referendum gewinnt, kann er schalten und walten, wie er will.“ Es ist sehr offensichtlich, dass die bisherigen Maßnahmen nicht nur die Opposition ausschalten sollen, sondern auch die Kontrollinstanzen des Staates schwächen und eine Öffentlichkeit über Menschenrechts- und Rechtsverletzungen verhindert werden soll.

Es gibt in der Türkei zahlreiche Versuche, sich für ein Hayir, ein Nein, am 16. April stark zu machen. Und es ist nach heutigem Stand nicht sicher, wie es tatsächlich ausgehen wird, vorausgesetzt, dass es ein freies Referendum ohne Manipulationen ist. „Noch sind nach Umfragen 17% der WählerInnen unentschlossen“, so eine Einschätzung. „Das sind aber zumeist Anhänger der AKP oder MHP. Es ist wirklich sehr unsicher, wie es ausgehen wird.“

Freitag ____________________________________

Gehen oder kämpfen

Während ich mich wieder auf dem Weg nach Offenbach machte, dachte ich noch einmal an die unsichere Situation der Aktiven in der Türkei, die sich so engagiert für Menschenrechte und gegen Krieg einsetzen. Einige aus der Opposition, insbesondere jene, gegen die Anklagen vorbereitet wurden oder gegen die Strafverfahren laufen, sind bereits ins Ausland gegangen. Andere bleiben im Land, ratlos, unsicher ob der eigenen und der Zukunft des Landes und mit der Erwartung, dass sie jederzeit verhaftet werden können.

Trotzdem - oder vielleicht gerade deswegen - werden weitere Aktivitäten vorbereitet. In Izmir soll es am 1. April 2017 ein Festival geben, um das Hayir gegen die Verfassungsänderung zu stärken. Andere Gruppen in Izmir wollen am Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, dem 15. Mai 2017, eine Kriegsdienstverweigerungsaktion durchführen. Sie alle wissen, unter welchen Gefahren sie agieren und wie wichtig ihnen internationale Unterstützung ist.

Fußnoten

1 Rudi Friedrich: Reise durch ein Kriegsgebiet. gwr 410, Sommer 2016

2 Office of the United Nations High Commissioner for Human Rights: Report on the human rights situation in South-East Turkey, July 2015 to December 2016, February 2017

3 IPPNW: Diyarbakır - Eine verwundete Stadt. 20. März 2017

4 http://voiceofjiyan.com/2016/01/13/turkish-academicians-forpeace-we-will-not-be-a-party-to-this-crime/

5 Zum Schutz der Personen sind in diesem Artikel keine Namen genannt

6 Association for Conscientious Objection: Briefing paper regarding the OHCHR of Turkey. 17.02.2017.

7 Auf Dauer im Ausland lebende türkische Staatsbürger haben die Möglichkeit, die sogenannte Freikaufsregelung in Anspruch zu nehmen und 1.000 € zu zahlen als Ersatz für die Ableistung des Militärdienstes

8 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte: Pressemitteilung vom 24.01.2006 zur Entscheidung Ülke v. Turkey, application no. 39437/98

9 Association for Conscientious Objection, ebd.

10 Spiegel Online: Asyl-Anträge türkischer Nato-Soldaten - Türkei bedrängt deutsche Behörden. 29.1.2017

11 FAZ: Ein Land im Ausnahmezustand. 4.11.2016

12 Telepolis: Wodurch unterscheidet sich Erdoğans Präsidialdiktatur von anderen existierenden Präsidialsystemen? 12. Januar 2017

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