Türkischer Militarismus, das türkische Problem

Eine Kritik des Kopfgeldzwanges

von Gürsel Yildirim

In der "Republik Türkei" wird bereits den Kindern in der Grundschule beigebracht, dass jeder Türke als Soldat zur Welt kommt1, unterstützt von Lesestoff wie den Abenteuergeschichten der "kleinen Soldaten". Ein wesentlicher Bestandteil des Sportunterrichts besteht in der Ausführung von Kommandos wie "stramm stehen" oder "marschieren". Für die Sozialisation der Jungen ist der Wehrdienst die wichtigste Stufe. Sprüche wie: "Wer seinen Wehrdienst nicht ableistet, ist kein richtiger Mann!"2, haben in der türkischen Gesellschaft ihren festen Platz.

Diese Haltung wird vom Generalstab der Türkei als Argument gegen das elementare Menschenrecht auf Kriegdienstverweigerung benutzt: "Wie alle bereits wissen, stellen Traditionen und Normen nicht juristisch formulierte Quellen dar. Natürlicherweise ist auch unsere Rechtsprechung von unserer Kultur beeinflusst. Das nach der europäischen Kultur als Norm geltende Recht auf Kriegdienstverweigerung steht im Widerspruch zu unserem Kulturverständnis und kann deshalb nicht Gegenstand einer Diskussion sein." Als Beispiel dieses Kulturverständnisses erwähnt der ranghohe Offizier Ersin Kaya in der Zeitschrift des Generalstabes absurde Einstellungen, die innerhalb der türkischen Gesellschaft existieren würden: "Wer seinen Militärdienst nicht hinter sich hat, verdient kein Frau." oder ihm werde "die Muttermilch nicht gegönnt", wenn er seinen Militärdienst nicht absolviert.3

Auch der Alltagsverstand und die Lebensverhältnisse der meisten "Auslandstürken" sind von türkischem Nationalismus und solchen militaristischen Sichtweisen geprägt. Dafür sorgen nicht nur die türkischen TV-Kanäle und Tageszeitungen, sondern auch die zumeist nationalistisch organisierten zahlreichen türkischen Vereine und deren Dachorganisationen. "Es gibt heute einen Long-Distance-Nationalismus jener Leute, die in anderen Ländern leben und sich selbst als nicht völlig akzeptierte Minderheit fühlen".4

Inwieweit selbst hier geborene Jugendliche unter dem Einfluss der rassistisch-nationalistischen türkischen Medien und ihres sozial-politischen Umfelds stehen und von solchen militaristischen Einstellungen sozialisiert werden, konnte man bei den Demonstrationen in den letzten Wochen erleben, die teilweise unter Pogromstimmung gegen die kurdische Bevölkerung in Berlin, Hamburg, Hannover oder Köln stattfanden.

Es ist kein Geheimnis, dass die Demonstrationen unter dem Einfluss der türkischen Konsulate standen. Organisiert wurden sie von den Grauen Wölfen oder anderen türkisch-nationalistischen Vereinen. Nach Angaben der Tageszeitung Milliyet vom 24.10.07 skandierten dort vor allem Jugendliche, dass jeder Türke als Soldat zur Welt komme.

Je nach politischer Lage in der Türkei tauchen die Einstellungen auch in den Schulen auf. Pascal Buecker beschrieb in der Jungle World5, wie manche türkisch-nationalistisch orientierten Jugendlichen in den Schulen den Türkisch-Unterricht für ihr rassistisches Weltbild nutzen. Angesichts dessen ist es nicht verwunderlich, dass hierzulande in der türkischen Community die Kopfgeldpflicht6 fast ein Tabuthema ist.

Zum Wesen der "Republik Türkei"

Um die Hintergründe der aktuellen Entwicklungen in der Türkei zu begreifen, ist es notwendig, einen Blick auf die Geschichte und das Wesen der "Republik Türkei" zu werfen.

Die Gründungsväter der "modernen Türkei" bestanden aus militärischen Eliten, die während des 1. Weltkriegs als Feldherren fungierten. Als einen der aggressivsten und mörderischen Spätzünder unter den Nationalstaaten basiert der türkische Staat auf Vernichtung und Vertreibung der nicht-muslimischen Bevölkerungsteile, wie der Armenier, Yeziden, Suryanis und Pantos. Darüber hinaus war der Staat von Beginn an nicht für die Bürger gedacht, sondern umgekehrt: Die Bürger und die politischen Parteien sind in erster Linie für den Staat und sein Militär da, und jedermann musste sich dementsprechend verhalten.

Seit Gründung der "Republik Türkei" 1923 fungiert das Militär als ein Über-Vater des Staates und ist hauptsächlich damit beschäftigt, die demokratische Opposition in Schach zu halten. Seitdem das Einparteien-System in der Türkei 1950 abgeschafft wurde, können politische Parteien zwar zur Wahl antreten, Koalitionen schmieden oder mit absoluter Mehrheit eine Regierung bilden, aber sie können nicht den gesamten Staat lenken. Weder die politischen Parteien noch die Gewerkschaften und andere zivile Organisationen wie die Berufskammern dürfen das politische System in der Öffentlichkeit laut in Frage stellen, sonst droht ihnen ein Verbot. Dem entsprechend müssen sich die Regierungen in der Hierarchie der Herrschaftsverhältnisse den Militärchefs unterordnen. Ihr weiteres "Schicksal" hängt davon ab, inwieweit sie die Spielregeln respektieren. Nicht nur das Verfassungsgericht, auch die wichtigsten Schaltstellen des Staates in Legislative, Exekutive und Judikative sind von Militärs besetzt oder werden von ihnen kontrolliert.

Durch ritualisierte Verlautbarungen des Militärs unter dem Motto "Wir sind von Feinden umzingelt, die die Türkei spalten wollen", werden immer wieder aufs Neue Feindbilder konstruiert. Begründet wird dies damit, dass sie das Erbe von Mustafa Kemal Atatürk - "Vater der Türken" - schützen würden, die Türkei gegen die inneren und äußeren Feinde verteidigen und im Sinne von Atatürks Modernisierungskurs aufrechterhalten wollen. Es werden Bedrohungsszenarien durch "Islamisten" oder "Terroristen" beschworen oder es wird vor der "Kolonisierung der Türkei" durch die Europäische Union und USA gewarnt.

Bestärkt wird dies z.B. durch die Beisetzungsrituale für gefallene Soldaten. Seit sich die PKK dem bewaffneten Kampf verschrieben hat, sind diese Beisetzungen in der Tat öffentliche Demonstrationen hochrangiger Militärs, die dort um junge Männer werben und zu Racheakten gegen die "Terroristen" anstiften. Während die im Kampf gefallenen Soldaten in der Öffentlichkeit schamlos als "Helden" gefeiert werden, gelten die getöteten kurdischen Töchter und Söhne als "armenische Bastarde". "Hoch lebe die Nation" wird von den Untertanen skandiert. Eltern gefallener Soldaten, die Kritik am Missbrauch ihrer Söhne äußern, werden in der Öffentlichkeit diffamiert.7

Durch die vom Militär geschürten Ängste entstehen nicht wenige paranoide männliche Persönlichkeiten und weibliche Militärbegeisterte, die das Militär als "Beschützer" betrachten. Von der antiimperialistischen Rhetorik des türkischen Nationalismus und der Panikmache des türkischen Militärs vereinnahmt, stehen längst auch traditionell eher linke Aleviten und Teile der türkischen Linken, sowie der größte Teil der Zivilgesellschaft hinter dem Generalstab der Türkei.

Offene und indirekte Putsche

Läuft die gesellschaftliche und politische Entwicklung gegen die Interessen des Militärs, gilt ein Putsch jederzeit als legitim. Es hat 1960, 1972, 1980 geputscht und jegliche demokratische Entwicklung des Landes zunichte gemacht. Auch mehrere Aufstände der Kurden nach Gründung der "Republik Türkei" wurden brutal niedergeschlagen. Seit 1975 ist das türkische Militär als Besatzungsmacht auf Zypern und verhindert damit jegliche Annäherung der "Türken" an die "Griechen" der Insel.

Am 27. April 2007 kam es erneut zu einem "Putsch" des Militärs, diesmal jedoch per eMail: "Wer sich gegen das Verständnis des unantastbaren Führers Atatürk stellt, ist ein Feind der Republik Türkei." Der Generalstab meinte damit einen in der Türkei gebetsmühlenartig ritualisierten Spruch von Atatürk: "Wie erhaben ist es zu sagen: Ich bin ein Türke." Als Vorwand für diese eMail-Intervention galt die Haltung der mit absoluter Parlamentsmehrheit regierenden Partei für Gerechtigkeit und Fortschritt (AKP), die entgegen den Erwartungen des Militärs den Außenminister Gül als Kandidat für das Amt des Präsidenten nominiert hatte. Hauptsächlich von den Militärs veranlasst, ging daraufhin die "hohe türkische Nation" auf die Straße und folgte damit unter anderem einem Appell Deniz Baykals, dem Führer der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP). Laut Baykal, der als zivilpolitischer Arm des Militärs fungiert, sei die Türkei "eingekreist und belagert" von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK), der Europäischen Union und den USA. Die Türkei drohe zur "Kolonie" zu verkommen. Er werde dies mit Hilfe des Militärs zu verhindern wissen.

Die Fortsetzung folgte am 8. Juni 2007. Erneut meldete sich der Generalstab per eMail: "Die Erwartung (der Armee) ist, massenhaft Reflexe der türkischen Nation gegen die terroristischen Ereignisse zu zeigen." Dieser Aufruf war insofern von neuer Qualität, als die Bevölkerung vom Militär direkt aufgerufen wurde, selbst aktiv gegen die von den Militärs als "nicht türkisch" bezeichneten Teile der Bevölkerung vorzugehen. Besonders gegen die Oppositionellen in den Provinzstädten der Türkei oder in den Ortschaften, in denen Kurdinnen und Kurden leben, ist seitdem ein Anstieg der offen rassistischen Aggressionen des aufgehetzten Mobs zu verzeichnen; er sieht sich bei Lynchjustiz und Massakern durch die eMails der Paschas gedeckt.

Vor wenigen Tagen beantragte die Generalstaatsanwaltschaft zudem das Verbot der kurdischen Partei für eine Demokratische Gesellschaft (DTP). Abgeordnete der Partei hatten sich für die Befreiung der Soldaten eingesetzt, die von der PKK gefangen genommen und im Nordirak festgehalten worden waren. Die Kontakte zur PKK werden ihnen nun zum Vorwurf gemacht. Das Verbotsverfahren sei keine Überraschung, so Nurettin Demirtas von der Parteiführung: "Die momentane Lynchkampagne und die gegen unsere Partei gerichteten Angriffe richten sich auch gegen unsere Rechtsfähigkeit. Als DTP werden wir uns weiterhin für ein Schweigen der Waffen und eine friedliche Lösung der kurdischen Frage einsetzen."

Krieg gegen die kurdische Bevölkerung

Seit 1984 hat das so genannte Kurdenproblem tausenden Zivilisten, Guerilleros und Soldaten das Leben gekostet. Rund 4.000 Dörfer sind in Kurdistan entvölkert und tausende Hektar Wald durch "Dorfschützer", Miliz und Militärs zerstört worden. Die Lage spitzt sich weiter zu, die Gesellschaft zerfällt Schritt für Schritt in zwei Lager: Türken und Kurden - ein Bürgerkrieg ist somit in der Türkei nicht auszuschließen. Im Rahmen einer Wahlveranstaltung für die Kandidaten und Kandidatinnen der DTP mahnte Leyla Zana am 18. Juli 2007 in Diyarbakir: "Niemand soll mit unserer Würde spielen. Zum letzten Mal reichen wir unsere Hand für den Frieden. Falls sie unsere gereichte Hand nicht annehmen, ziehen wir diese zurück." Für solch einen friedlichen Schritt, scheint es auf der türkischen Seite bisher niemanden zu geben. Insofern ist das so genannte "Kurden-Problem" tatsächlich ein "Türken-Problem", ein blutiger Konflikt, der in erster Linie der Machtstabilisierung des türkischen Militärs dient.

Die Türkei will die "Auslandstürken" ab 38 Jahren nicht aus der türkischen Staatsbürgerschaft entlassen, weil das Militär für die Kriegführung gegen die kurdische Bevölkerung nicht auf das Kopfgeld der "Auslandstürken" verzichten will. Dieser Krieg dient der Machtstabilisierung einer militaristischen Clique, die nach dem Parlamentwahlen im Sommer 2007 für eine kurze Zeit an Einfluss einbüsste. Nun scheint es so, als ob sie die AKP-Regierung und den Staatspräsident Abdullah Gül unter ihre Kontrolle bringen konnte. Der gemeinsame Feind - "die Kurden" - schweißt die Erzrivalen zusammen.

Die gegenwärtig dramatische Entwicklung in der Türkei und Kurdistan verpflichtet uns "Auslandstürken", dass wir uns positionieren: gegen die rassistisch-aggressive Lynchlust der türkischen Faschisten und gegen die mordlustigen Generäle der Türkei, die sich gegen die kurdische Bevölkerung und andere Minderheiten wendet.

Fußnoten

1. Her Türk Asker Dogar!

2. Askerligini yapmayan adamdan sayilmaz

3. Mu. Kur. Bnb. Ersin KAYA : "Vicdani Red Uygulamasi ve Türkiye: In "Stratejik Arasatirmalar Dergisi, Eylül 2006 Yili: 4 Sayi: 8,: "Das Recht auf Totalverweigerung und die Türkei" in der Zeitschrift des Generalstabs der Türkei: "Zeitschrift für Strategische Studien"

4. B. Anderson: taz vom 06. 08. 07

5. Jungle World Nr. 45, 2007

6. Bedelli Askerlik

7. Her sey Vatan icin

Der Beitrag erschien in: Connection e.V. und AG "KDV im Krieg" (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, November 2007.

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