Rundbrief »KDV im Krieg« - September 2021

Rundbrief »KDV im Krieg« - September 2021

War Resisters‘ International - zum 100. Jubiläum

Wolfram Beyer im Interview

Vor hundert Jahren, 1921, wurde die War Resisters‘ International (WRI), in den Niederlanden gegründet. Aus diesem Anlass hat Wolfram Beyer zwei Publikationen zur WRI-Geschichte herausgegeben. Wir hatten die Gelegenheit, mit ihm insbesondere über die Bedeutung der Kriegsdienstverweigerung zu sprechen. (d. Red.)

Was ist dein biographischer Zugang zur Kriegsdienstverweigerung?

Als mein politisches Denken begann, das war Anfang der 1970er Jahre in West-Berlin, kannte ich den Fall von einem Cousin, der Anfang der 1960er Jahre von Hannover nach West-Berlin umzog, um nicht erfasst, gemustert und zur Bundeswehr einberufen zu werden. Das klappte gut, er machte eine Lehre in West-Berlin und zog dann in die Schweiz. Der Wehrpflichtentzug erschien mir menschlich plausibel und politisch gerechtfertigt und das war auch die Sicht meines familiären Umfeldes. Erst später festigte sich dies in meiner politischen Haltung, nämlich der Ablehnung von sämtlichen Kriegsdiensten und ich wurde 1978 Mitglied der Internationale der Kriegsdienstgegner (IDK), einer deutschen Sektion der War Resisters‘ International (WRI).

In Berlin gab es nach dem 2. Weltkrieg bis 1991 keine Wehrpflicht aufgrund des Vier-Mächte-Status‘. Die vier Siegermächte des 2. Weltkrieges (Sowjetunion, Großbritannien, Frankreich und die USA) waren mit ihrem Militär in Berlin präsent, ohne Wehrpflicht für die deutsche Bevölkerung. Wie sah die Situation aus?

Auch in Ost-Berlin hätte es nach dem Vier-Mächte-Status keine Wehrpflicht geben dürfen, doch die DDR hatte eine Wehrpflicht-Armee und damit bestand auch die Wehrpflicht in der DDR-Hauptstadt Berlin (Ost). Das war also eigentlich rechtswidrig, wurde aber von den Siegermächten hingenommen. So gab es nur auf der „Insel“ West-Berlin keine Wehrpflicht. Das hatte zur Folge, dass viele junge Männer aus Westdeutschland, der BRD, nach West-Berlin kamen. Wir sprachen von Wehrpflicht-Flüchtlingen, die sich der Wehrpflicht entzogen hatten. Einige Wehrpflicht-Flüchtlinge aus Westdeutschland konnten aber anfangs nicht ruhig in West-Berlin leben, denn es gab einen Rechtsstreit mit bitteren Konsequenzen für die Betroffenen. Es bestand von Seiten der Bundesbehörden die Rechtsauffassung, dass die westberliner Behörden, u.a. die westberliner Polizei, Amtshilfe für westdeutsche Behörden leisten müssten. Es wurden Flugzeuge gechartert, die einige Wehrpflichtflüchtlinge nach Westdeutschland flogen und den Strafverfolgungsbehörden auslieferten bzw. der Bundeswehr übergaben. Die Abschiebung auf dem Landweg, dem Transitweg durch die DDR, von West-Berlin in die BRD ging nicht, weil die DDR von der „selbständigen politischen Einheit Westberlin“ sprach und diesen Transitverkehr nicht zugelassen hätte.

1968/1969, in der Zeit der Studentenrevolte, gab es eine erfolgreiche Kampagne vom Republikanischen Club an der die IDK federführend beteiligt war. Die direkten Aktionen der Kampagne übten starken politischen Druck aus und der Rechtsstreit wurde dann zugunsten der Wehrpflicht-Flüchtlinge entschieden. So konnten ab 1969 junge Männer ruhig, ohne juristische Verfolgung der Bundeswehr, in West-Berlin leben. Neben der Beratung war die IDK aktiv gegen die militärische Präsenz der Alliierten in der Stadt, z.B. gegen Militärparaden und auch aktiv zu anderen antimilitaristischen Themen.

Die IDK stand – aus westdeutscher Sicht – mit ihrer Beratungsarbeit für Wehrpflicht-Flüchtlinge in dieser Zeit am politischen Rande. Hinzu kam, dass die IDK die Auffassung vertrat, dass jede Verweigerungsform oder Vermeidungsform unterstützt werden müsse. Die IDK wollte dann auch enge Kooperationen mit allen pazifistischen Verbänden in Westdeutschland, insbesondere mit der DFG-VK. Niemand wollte aber auf die Fluchtalternative vor der Wehrpflicht in West-Berlin hinweisen. Wenn man die Publikationen in der BRD, die Beratungshefte und -Bücher zur Kriegsdienstverweigerung bis Mitte der 1980er Jahre nachschlägt, dann findet man die IDK-Adresse in West-Berlin selten und wenn, dann wirklich nur im Anhang der Publikationen. Vorherrschend war  eine Beratungs-Praxis, die nur auf die Verweigerung nach Grundgesetz Art. 4/3 verwies. Diese Verweigerer waren die „richtigen“ Kriegsdienstverweigerer. Alle anderen Formen der Verweigerung wurden als „unpolitisch“ ignoriert, abgelehnt oder an den Rand gestellt. Mit den totalen Kriegsdienstverweigerern und auch mit der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden (SOdZDL) änderten sich ab Mitte der 1980er Jahre allmählich die Sichtweisen und die unterschiedlichsten Formen im Widerstand gegen die Wehrpflicht, die Ablehnung des Kriegsdienstzwangs, bekamen langsam eine breitere Akzeptanz.

Welche Bedeutung hatte der Arbeitsschwerpunkt Kriegsdienstverweigerung für die War Resisters‘ International?

Die Gründung der WRI vor 100 Jahren (1921) stand unmittelbar unter den Erfahrungen der Kriegsdienstverweigerer des 1. Weltkrieges. Damals gab es keinerlei Rechte für die Verweigerer. Aus diesem Mangel sprachen WRI-Gründungsmitglieder von der Notwendigkeit der persönlichen Unterstützung von einzelnen Verweigerern. Die WRI und die Mitgliedsorganisationen arbeiteten gegen die Vereinzelung der Kriegsdienstverweigerer, weil die Mehrheitsgesellschaften in vielen Ländern die Verweigerer als Feiglinge und Drückeberger stigmatisierten. Kriegsdienst galt konservativen und rechtsextremen Parteien als die wahre und heroische Aufgabe des Mannes und der Nationalismus war überall die vorherrschende Politik. Auch sozialdemokratische und sozialistische Parteien waren davon nicht frei, nicht grundsätzlich gegen Militär und Wehrpflicht eingestellt, und meinten (sogar heute noch!), dass die Wehrpflicht dem Militär einen demokratischen Charakter geben würde. Manche bezeichneten sich auch als Antimilitaristen und einer der bekanntesten Vertreter dieser Richtung war Karl Liebknecht (1871 – 1919) mit seinem noch heute viel zitierten Standardwerk „Militarismus und Antimilitarismus“ (1907). Er war kein Vertreter der Kriegsdienstverweigerung.

Die WRI war seit der Gründung zweigleisig aufgestellt: Viele sahen grundsätzlich die Wehrpflicht als ein politisches Problem, nämlich als einen staatlichen Zwangsdienst, und wollten eine Gesellschaft ohne Wehrpflicht und zivile Dienstpflicht. Manche WRI-Mitglieder sahen bereits einen politischen Erfolg, wenn es das Recht auf Kriegsdienstverweigerung mit einem zivilen Ersatzdienst gab. Es galt, dass die jeweilige politische Lage in einem Land wichtig ist, um ein Recht auf Kriegs­dienst­ver­wei­ge­rung zu schaffen.

Konsens war das weltweite Engagement für die Rechte der Kriegsdienstverweigerer. Für verfolgte und inhaftierte Kriegsdienstverwei­ger*innen gibt es alljährlich Anfang Dezember die „Liste der Gefangenen für den Frieden“ mit dem Aufruf inhaftierten Kriegsdienst­gegner*innen in Gefängnissen Briefe/Postkarten zur Ermutigung zu schreiben. Später wurde der 15. Mai, der Tag der Kriegsdienstverweigerung geschaffen, an dem öffentlichkeitswirksam weltweit auf die Thematik hingewiesen wird.

Seit WRI-Gründung werden die Fragen kontrovers diskutiert, ob ein Staat einen Mann oder eine Frau zum Kriegsdienst einberufen oder zu einer Dienstpflicht zwingen darf. In vielen Ländern hat sich politisch die eingeschränkte Möglichkeit durchgesetzt. Auf den Punkt bringt es das deutsche Grundgesetz mit dem Art. 4/3, in dem nur der „Kriegsdienst mit der Waffe“ verweigert werden kann. Kriegsdienst ohne Waffe kann nach dem Gesetz nicht verweigert werden. Aus meiner Sicht als Kriegsdienstgegner ist dieses eingeschränkte Recht politisch ungenügend und ich unterstütze die pazifistisch-antimilitaristische Forderung für ein Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Da müsste wohl auch das Völkerrecht verändert werden, denn nach dem Völkerrecht gibt es das Kriegführungsrecht eines jeden Staates, der seine jeweilige Form der Rekrutierung von Soldat*innen oder eines zivilen Kriegsdienstes bestimmt.

Welche Bedeutung hatte das Internationale Manifest gegen die Wehrpflicht 1925?

Das Manifest 1925 kann auch als ein Manifest gegen Nationalismus gelesen werden und für die persönliche Freiheit des einzelnen Menschen. Es wurde von namhaften Persönlichkeiten unterschrieben und war ein Mosaikstein für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung, wie es oben eingeschränkt beschrieben ist. Neben dem eingeschränkten Recht gibt es auch einen weiteren Makel, nämlich die Gewissensprüfung für die Verweigerer. Personen, die einfach keinen Kriegsdienst wollten oder keine Neigung hatten ihr Gewissen zu offenbaren, bekamen erhebliche Probleme. Die Verweigerer mussten ihre „Gewissensnot“ erklären. Rationale Begründungen, auch politische Begründungen, wurden meist nicht anerkannt. Religiöse, christliche Begründungen waren gefordert, weil die Gewissenserklärung die „Not“ meint, das „Nicht-Können“ und nicht den rationalen individuellen Willen.

Da gibt es auch heute noch einiges zu tun, um diese Rechtsgrundlage zu revidieren. Die Wehrpflicht in Deutschland ist nur ausgesetzt und kann jederzeit einfach wieder in Kraft gesetzt werden.

Ist die Kriegsdienstverweigerung ein Pfeiler einer Strategie des gewaltfreien Widerstandes gegen Krieg?

Kriegsdienste verweigern, im umfassenden Sinn verstanden, ist eine Grundlage im gewaltfreien Widerstand gegen jeden Krieg. Das ist überall gültig, auch wenn es in vielen Ländern keine Wehrpflicht gibt. Es geht um eine breite Palette von Handlungsmöglichkeiten gegen Militär und Krieg, aber auch gegen die bürokratischen Strukturen und den militärisch-industriellen Komplex, die Kriege technisch ermöglichen. Wir unterstützen Deserteure und Wehrpflichtflüchtlinge, Kriegsflüchtlinge und alle Personen, die sich dem Militär und dem Krieg entziehen, verweigern, flüchten etc.

Eigentlich kann die IDK-Arbeit in West-Berlin bis 1991 auch als eine Form der Flüchtlingshilfe bezeichnet werden, denn wir machten Beratung für alle diejenigen, die nicht zum Militär wollten. Die IDK hatte nicht nur den Berlin-Fokus, sondern hat bundesweit Mitglieder und ist transnational aufgestellt. Entgegen anderer Auffassungen ist aktuell die Arbeit für Kriegsdienstgegner*innen ein zentraler Pfeiler im Widerstand gegen jeden Krieg. Jede/r war und ist willkommen, der sich dem Wehrpflichtsystem, dem Krieg und dem Militär entzog und aktuell entzieht. Das gilt auch heute für unsere internationale Arbeit für Kriegsdienst­geg­ner*innen. Aktuell unterstützen wir Ruslan Kotsaba, einen Kriegsdienstgegner in der Ukraine. Er ist als Journalist auch publizistisch gegen den Krieg in der Ukraine tätig und wird deshalb juristisch-politisch vom ukrainischen Staat verfolgt und von Rechtsextremisten angegriffen.

Wir verbinden mit der individuellen Solidaritätsarbeit unsere pazifistisch-antimilitaristischen Aufgaben, nämlich überall Militär und Krieg zu delegitimieren, denn Militär und Kriege schaffen keinen Frieden, lösen nicht gesellschaftliche Kriegsursachen, wie wir das wieder einmal aktuell (2021) nach 20 Jahren internationalem und deutschem Militäreinsatz und Krieg in Afghanistan offenkundig nachvollziehen können.

Was war Dir bei den Publikationen zum WRI-Jubiläum wichtig?

Zwei Publikationen habe ich zum 100. WRI-Jubiläum 2021 herausgegeben. Das Buch von Gernot Jochheim im Verlag Graswurzelrevolution ist ein Standardwerk zur Gewaltfreiheit und zum Antimilitarismus und thematisiert insbesondere die Dienstverweigerung in den Niederlanden, damals das europäische antimilitaristische Zentrum.

Das Buch verdeutlicht die historische Debatte von Karl Liebknecht 1907, der den niederländischen Kriegsdienstgegner und Antimilitaristen F. Domela Nieuwenhuis in seiner oben erwähnten Schrift kritisierte. Später gab es eine Fortsetzung dieser Diskussion mit der Gewalt- und Herrschaftskritik an der Russischen Revolution (1917/18). Das veranlasste W.I. Lenin die niederländischen Rätekom­mu­nist*innen mit seiner Polemik „Der linke Radikalismus, die Kinderkrankheit im Kommunismus“ (1920) zu bekämpfen. In den Niederlanden gab es nämlich eine starke antimilitaristische, links-sozialistische und anarchistische Strömung in der Arbeiterbewegung.

Gernot Jochheim hat die historische Analyse der internationalen Arbeiter*innen-Bewegung im Blick. Für uns heute ist u.a. seine Feststellung wichtig, dass in Europa Mahatma Gandhi und seine antikoloniale Bewegung, seine gewaltfreien Aktionen in Indien deshalb aufgenommen wurden, weil es bereits eine Debatte um Gewalt und Gewaltlosigkeit in der internationalen Arbeiterbewegung gab. Dass wir in der Geschichtsschreibung davon wenig wissen liegt daran, dass die siegende, politisch herrschaftsorientierte Fraktion im Staats-Sozialismus, die gewaltlosen Sozialist*innen und Anarchist*innen bekämpfte und teilweise skrupellos unterdrückte. Einmal verschüttet, waren die Debatten, die Gernot Jochheim beschreibt, kein Thema für die auch heute noch herrschende sozialistische und sozialdemokratische Geschichtsschreibung. Jochheim konstatierte, und das führt er umfassend aus, dass die Arbeiterbewegung im Kern gewaltlos handelte. Somit ist Jochheims Buch auch ein Werk gegen das Vergessen und vor allem für freiheitliche, sozialistische und antimilitaristische Perspektiven. Das Buch beschreibt die Zeit der WRI-Gründung und sollte als Nachschlagewerk in jedem Bücherschrank stehen.

Das IDK-Heft zum WRI-Jubiläum wirft Schlaglichter auf verschiedene Etappen der WRI-Geschichte. Beiträge im WRI-Heft sind von Gernot Jochheim (Historiker, Versöhnungsbund), Christian Scharnefsky (WRI-Historiker), Wolfgang Hertle (IDK), Gernot Lennert (DFG-VK) und Christine Schweitzer (BSV und Förderverein WRI e.V.).

Gernot Jochheim: Antimilitarismus und Gewaltfreiheit. Die niederländische Diskussion in der internationalen anarchistischen und sozialistischen Bewegung 1890 – 1940. Verlag Graswurzelrevolution Heidelberg 2021 (Hrsg.: Wolfram Beyer), ISBN 978-3-939045-44-1

100 Jahre War Resisters‘ International – Widerstand gegen den Krieg. Beiträge zur Geschichte des gewaltfreien Antimilitarismus und Pazifismus. (Hrsg. Wolfram Beyer) IDK-Verlag Berlin 2021, ISBN 978-3-9815536-7-0

Interview mit Wolfram Beyer, IDK e.V.: War Resisters‘ International – zum 100. Jubiläum. 28. August 2021. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2021.

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