Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Belarus, Russische Föderation und Ukraine

von Rudi Friedrich, Connection e.V.

In Belarus, Russland und der Ukraine existieren unterschiedliche Regelungen zur Wehrpflicht, zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung sowie  zu Militärdienstentziehung und Desertion. In keinem der drei Länder wird das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Weise umgesetzt, wie es durch diverse internationale Gremien und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingefordert wird.

So müsste das Antragsverfahren zeitlich unbegrenzt zur Verfügung stehen, also auch während oder nach dem Militärdienst, die Entscheidung über einen Antrag soll unabhängig und unparteiisch erfolgen und die Antragstellung muss allen Personen offen stehen, die vom Militärdienst betroffen sind. Darüber hinaus darf der Ersatzdienst zum Beispiel aufgrund einer deutlich längeren Dienstzeit keinen Strafcharakter aufweisen. Mehr dazu bei Laurel Townhead: International Standards on Conscientious Objection to Military Service.

Belarus – Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung

Alle jungen Männer müssen zwischen ihrem 18. und 27. Lebensjahr einen 18-monatigen Militärdienst ableisten (zwölf Monate für Männer mit Hochschulbildung). Danach können Männer zu einer jährlichen Reservistenübung einberufen werden.

Die in Litauen ansässige belarussische Organisation Nash Dom teilte Anfang März mit, dass in Belarus alle Männer im Alter zwischen 18 und 58 Jahren aufgefordert wurden, sich bei den zuständigen Behörden zu melden. Staatspräsident Lukaschenko plane die Einberufung von 35.000 bis 40.000 Männern. Das könnte der Auftakt zum Kriegseintritt sein.

Viele Jahre lang bestrafte das Regime junge Männer, die den Kriegsdienst verweigerten, mit Gefängnis- oder Geldstrafen. Zu den Verfolgten gehörten zum Beispiel der Zeuge Jehovas Dmitry Mozol, der messianische Jude Ivan Mikhailov, der nichtreligiöse Pazifist Yevhen Yakovenko und der nichtreligiöse Pazifist Andrei Chernousov.

Am 1. Juli 2016 trat ein Gesetz über den Alternativen Dienst in Kraft. Es sieht vor, dass nur junge Männer mit einer religiösen pazifistischen Verweigerung einen Antrag auf Ableistung eines zivilen Ersatzdienstes stellen können, nicht aber die Männer, die ihre Kriegsdienstverweigerung mit einer nicht-religiösen pazifistischen Überzeugung begründen.

Darüber hinaus ist der Ersatzdienst doppelt so lang wie der Militärdienst (36 Monate im Allgemeinen beziehungsweise 24 Monate für Personen mit Hochschulbildung). Und die Ersatzdienstleistenden erhalten eine geringere Vergütung als die Militärdienstleistenden. Zudem haben Soldaten und Wehrpflichtige, die bereits Militärdienst abgeleistet haben, keinen Anspruch auf eine Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer.

Militärdienstentziehung und Desertion werden in Belarus nach den Artikeln 435, 437, 445, 446 und 447 des Strafgesetzbuchs geahndet. Die Umgehung der Wehrpflicht wird mit einer Geldstrafe oder mit bis zu drei Monaten Haft geahndet. Die Umgehung der Wehrpflicht wird mit einer Geldstrafe oder einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet, wenn sie nach der Verhängung einer Ordnungsstrafe begangen wird. Desertion und Militärdienstentziehung durch Verstümmelung oder auf andere Art und Weise wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren geahndet.

Mitte März 2022 schrieb  Nash Dom an Connection e.V., dass nach ihren Schätzungen zumindest 3.000 Militärdienstpflichtige aus Belarus nach Litauen geflohen sind.

Russische Föderation – Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung

Die Wehrpflicht ist in Artikel 59 der Verfassung von 1993 verankert. Die Dauer des Wehrdienstes beträgt zwölf Monate. Wehrpflichtig sind alle Männer zwischen 18 und 27 Jahren. Die Pflicht zum Reservedienst gilt bis zum Alter von 50 Jahren.

Artikel 59 der Verfassung der Russischen Föderation erkennt das Recht eines jeden Bürgers an, den Militärdienst zu verweigern. Im Jahr 2002 wurde das föderale Gesetz "Über den zivilen Alternativdienst" verabschiedet, das dieses Recht konkretisiert. Die Dauer des Alternativdienstes beträgt 18 Monate.

Personen, die Dienst im Militär leisten, sei es als Wehrpflichtige oder als Berufssoldat*innen, können keinen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen, obwohl die russische Verfassung keine diesbezüglichen Einschränkungen vorsieht.

Das Gesetz sieht ein Verfahren vor, nach dem ein Antrag auf Alternativdienst sechs Monate vor der Einberufungskampagne, in der der Antragsteller voraussichtlich zur Armee eingezogen wird, bei einem Militärkommissariat gestellt werden muss. Die meisten Anträge werden abgelehnt, weil diese Frist versäumt wurde. Zudem werden die Anträge durch Ausschüsse der Militärkommissariate geprüft.

Militärdienstentziehung und Desertion werden strafrechtlich verfolgt. Militärdienstentziehung wird mit einer Geldstrafe, drei bis sechs Monaten Haft oder bis zu zwei Jahren Gefängnis bestraft (Artikel 328). Desertion wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sieben Jahren, im Falle eines bewaffneten Konflikts oder kollektiver Desertion mit bis zu zehn Jahren bestraft (Artikel 336). Die Flucht aus einer Einheit wird mit einer Freiheitsstrafe von bis zu sechs Jahren beziehungsweise in Disziplinarbataillonen mit einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren geahndet (Artikel 337).

Ukraine – Wehrpflicht und Kriegsdienstverweigerung

Nachtrag am 5. September 2022: Die Ukraine hat inzwischen das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ausgesetzt. Es wurden bereits einige Kriegsdienstverweigerer zu hohen Haftstrafen auf Bewährung verurteilt.

Die Wehrpflicht wurde in der Ukraine 2015 wieder eingeführt. Die Dauer des Militärdienstes beträgt 18 Monate. Im Februar 2022 verkündete die Regierung unter Präsident Selenskyj die allgemeine Mobilmachung aller Männer im Alter zwischen 18 und 60 Jahren. Zudem wurde diesem Personenkreis untersagt, das Land zu verlassen. Da das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in der Ukraine nur eingeschränkt gilt und nicht von allen wahrgenommen werden kann, verstößt das Ausreiseverbot und damit der Zwang, der Mobilmachung zu folgen, gegen den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, wie  zum Beispiel  Amy Maguire, Associate Professor in Human Rights and International Law,  Anfang März 2022 feststellte. Es widerspricht zudem dem 4. Zusatzprotokoll der Europäischen Menschenrechtskonvention, wonach es jeder Person „freisteht, jedes Land einschließlich seines eigenen zu verlassen“.

Nach Artikel 35 Absatz 3 der ukrainischen Verfassung von 1996 gibt es ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung: „Wenn die Ableistung des Militärdienstes im Widerspruch zu den religiösen Überzeugungen eines Bürgers steht, soll die Dienstpflicht durch einen alternativen Dienst erfüllt werden.“ Genauer definiert wird dies in Artikel 2 des Alternativdienstgesetzes. Danach können in der Ukraine nur religiöse Verweigerer, die zehn bestimmten, im Regierungserlass aufgeführten Konfessionen angehören, einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung stellen: Reformierte Adventisten, Siebenten-Tags-Adventisten, evangelikale Christen, evangelikale Baptisten, Pokutnyky, Zeugen Jehovas, charismatische christliche Kirchen, Christen des evangelikalen Glaubens, Christen des evangelischen Glaubens und die Krishna-Bewusstseinsgesellschaft. Das bedeutet, orthodoxe Christen, die die allergrößte Glaubensgemeinschaft bilden, dürfen den Kriegsdienst nicht verweigern.

Eine weitere Einschränkung erfährt das Recht durch die Regelung, dass ein Antrag innerhalb von sechs Monaten nach der Einberufung gestellt werden muss. Zudem haben Soldaten und Reservisten kein Recht auf Antragstellung.

Im Juli 2013 überprüfte das Menschenrechtskomitee der Vereinten Nationen den Siebten Regelmäßigen Bericht der Ukraine zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte. In den Schlussfolgerungen drückt das Komitee seine Besorgnis darüber aus, dass keine Maßnahmen getroffen wurden, um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung von Wehrpflichtigen auf Personen auszuweiten, die eine Gewissensentscheidung ohne religiösen Hintergrund getroffen haben oder anderen Religionen angehören. Das Komitee betont, dass die Regelungen zum Alternativen Dienst allen Kriegsdienstverweigerern offen stehen müssen unabhängig von ihrer Überzeugung und ob diese religiös oder nicht religiös motiviert sei.

Von Januar bis November 2020 wurden 3.361 Strafverfahren gegen Kriegsdienstverweigerer nach den Artikeln 335-337 und 407-409 des Strafgesetzbuches der Ukraine registriert, darunter 18 Fälle von Selbstverstümmelung. Im Jahr 2019 wurden wegen ähnlicher Delikte 190 Kriegsdienstverweigerer und Deserteure inhaftiert, 117 verhaftet, 24 in Disziplinarbataillonen untergebracht und 380 von Gerichten zu Geldstrafen verurteilt, wie das European Bureau for Conscientious Objection berichtet.

Desertion und Militärdienstentziehung können nach den Artikeln 335 und 336 des Strafgesetzbuchs mit Freiheitsstrafen von bis zu drei Jahren geahndet werden.

Am 5. Februar 2015 verabschiedete das ukrainische Parlament ein Gesetz, in dem besonders scharfe Möglichkeiten festgelegt werden, wie die Armee auf Ungehorsam, Missachtung oder Ungehorsam gegenüber dem Befehlshaber, Gewaltanwendung und das Verlassen der Kampfposition reagieren kann. In dem Gesetz heißt es: "In einer Gefechtssituation kann der Befehlshaber von der Waffe Gebrauch machen oder den Untergebenen Befehle zu deren Anwendung erteilen, wenn es keine andere Möglichkeit gibt, den Verstoß zu beenden." So dürfen die Befehlshaber nach den Worten der Zeitschrift Newsweek "auf Deserteure oder Ungehorsame schießen."

Internationale Beschlüsse und Entscheidungen

Die Frage der Kriegsdienstverweigerung wurde immer wieder auf Ebene der Vereinten Nationen im den Gremien für Menschenrechte behandelt. Wichtig sind dabei Resolutionen und Entscheidungen des Menschenrechtskomitees sowohl in Einzelfällen als auch bei der Prüfung von Länderberichten im Rahmen des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte sowie in den Allgemeinen Bemerkungen Nr. 22 und Nr. 32. Mehr dazu bei Laurel Townhead: International Standards on Conscientious Objection to Military Service.

Des Weiteren entschied 2011 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall Bayatyan gegen Armenien, dass die Verurteilung eines Kriegsdienstverweigerers Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), also das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit verletzt. Der Gerichtshof erkannte damit zugleich das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung an. (Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Entscheidung vom 7. Juli 2011, Antrag Nr. 23459/03).

Wie oben bereits ausgeführt wurde, wird somit in keinem der drei Länder das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Weise umgesetzt, wie es durch diverse internationale Gremien und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingefordert wird.

Informationen dazu, unter welchen Umständen ein flüchtlingsrechtlicher Schutz für die betreffenden Personen in Frage kommen könnte, die aus diesen Ländern in die Europäische Union fliehen, gibt es im Text „Schutz und Asyl bei Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Zeiten des Ukraine-Krieges“

Rudi Friedrich, Connection e.V.: Kriegsdienstverweigerung und Desertion in Belarus, Russische Föderation und Ukraine. 24. März 2022. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2022

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