Israel: Verfahren gegen Verweigerer stehen vor dem Abschluss

Urteil im Fall Yoni Ben-Artzi

von Forum der Eltern von VerweigerInnen

Im folgenden berichten wir von den Verhandlungstagen am 11. und 12. November, dem Plädoyer der Verteidigung und dem Urteil im Fall Yoni Ben-Artzi.

Yoni Ben-Artzi wegen Befehlsverweigerung verurteilt

Eine Stunde lang saßen wir im überfüllten und schlecht gelüfteten Gerichtssaal des Militärgerichtes Jaffa und hörten dem Vorsitzenden, Richter Oberst Avi Levi, zu, wie er das Urteil verlas. Es war schwer zu verstehen, weil er durch das Dokument hetzte, das verschiedene und widersprüchliche Hinweise beinhaltete.

"Wir sind davon überzeugt, dass Yonathan Ben-Artzi eine ernsthafte pazifistische Überzeugung hat, und wir sind weit davon entfernt, anzunehmen, dass das Gewissenskomitee gut daran getan hat, seinen Antrag auf Ausnahme von der Ableistung des Militärdienstes abzulehnen.

Die Behauptung, dass er den Militärdienst aus persönlicher Bequemlichkeit vermeiden wollte, hält nicht den vorgelegten Unterlagen stand, da er ein Jahr hinter Gittern verbrachte und zudem Angebote verschiedener hoher Offiziere verweigerte, die ihm einen einfachen und bequemen Militärdienst anboten. Wir sind auch nicht mit der Behauptung der Staatsanwaltschaft einverstanden, dass seine Teilnahme an einer Demonstration von Yesh Gvul beweise, dass er ein politischer Verweigerer und kein Pazifist sei. Ein Pazifist kann ebenso eine politische Meinung haben. Gegen die Rolle Israels hinter der Grünen Linie zu sein, ist genau die Position, die wir von einem Pazifisten erwarten würden. Wir wären vielmehr überrascht, eine andere von ihm zu hören.

In seiner Aussage gab Oberst Simchi, Leiter des Gewissenskomitees, viele Fehler des Komitees zu. Ihm ist seine Ehrlichkeit hoch anzurechnen. Nichtsdestoweniger stellt dieses Komitee die verfassungsmäßige Autorität dar, die entscheidet, ob eine Person den Militärdienst abzuleisten hat oder von der Ableistung ausgenommen wird. Dieses Gericht ist nicht bevollmächtigt, als Berufungsinstanz gegen das Gewissenskomitee zu fungieren. Dies gilt auch bezüglich der Klage von Ben-Artzi, die er gegen die Entscheidung des Komitees beim Obersten Gericht einlegte.

Wir können nicht die Behauptung des Verteidigers akzeptieren, dass die Behandlung des Angeklagten durch die Militärbehörden maßlos unfair gewesen sei, also die ihm gegebenen Befehle ungerechtfertigt gewesen seien. Es waren rechtmäßige Befehle, weswegen er wegen Befehlsverweigerung schuldig zu sprechen ist. Dennoch rufen wir die Militärbehörden und den Verteidigungsminister nachdrücklich dazu auf, die Fakten des Falles zu überprüfen und das Gewissenskomitee erneut darüber befinden zu lassen, ob Yonathan Ben-Artzi von der Ableistung des Militärdienstes ausgenommen werden soll oder nicht."

Im Gegensatz zum üblichen Verfahren, beendeten die Richter die Verhandlung nicht. Erst einmal rief Oberst Levi den Staatsanwalt Yaron Kostelitz und den Verteidiger Michael Sfard zu sich und sie zogen sich für mehr als eine halbe Stunde in sein Büro zurück. Währenddessen richteten sich im Gerichtssaal die Fernsehkameras auf Ben-Artzi und seinen Vater Matanya, während alle Anwesenden lebhaft diskutierten und debattierten.

Einige, die dem Verfahren von Anfang an folgten, waren wütend: "Verflucht diesen Richter! Wie kann er ihn nach all den Enthüllungen für schuldig erklären!" Yoni schien aber nicht so enttäuscht zu sein. "Ich bin so zufrieden, wie ich es mit einem Militärgericht überhaupt nur sein kann. Diese drei Richter sind über ihren Schatten gesprungen, in dem sie feststellten, dass sie mir glauben und die Ernsthaftigkeit meiner pazifistischen Überzeugung akzeptieren. Sie wiesen einen Gegenantrag der Staatsanwaltschaft nach dem anderen zurück. Sie mussten mich wegen Befehlsverweigerung schuldig erklären. Ich habe diesen Befehl verweigert."

Als sie schließlich aus dem Büro des Richters kamen und sich sofort die wartenden JournalistInnen auf sie stürzten, war Rechtsanwalt Sfard sehr beschwingt: "Im Moment gibt es keinen Anlass, von einer Verurteilung auszugehen. Nun ist die Rechtsabteilung der Armee gefragt. Sie müssen jetzt auf den sehr gewichtigen Vorschlag des Gerichts antworten, das das Gewissenskomitee erneut zur Entscheidung aufgefordert hat. Ich an ihrer Stelle würde zweimal darüber nachdenken, bevor ich diese Aufforderung ablehne. Unabhängig vom Urteil haben sie in diesem Verfahren nicht sehr gut ausgesehen. Es war das erste Mal in der Geschichte Israels, dass ein Militärgericht mit drei Richtern einstimmig eine Person als Pazifisten anerkannte. Das Gericht, Teil der Armee, verlangt von den Militärbehörden, die Misshandlung dieses großartigen jungen Mannes einzustellen, der genug gelitten hat und ihm am Ende die Ausnahme zuzugestehen, die er vor zwei Jahren hätte erhalten sollen. Lasst uns sehen, was sie tun werden!"

Das Verfahren gegen die "Fünf"

Was bedeutet dieses Urteil für die anderen fünf Verweigerer? In deren Verfahren hörten wir gestern das Plädoyer der Verteidigung.

Bevor die Verhandlung begann, waren schon etwa 150 Leute gekommen, für einen normalen Arbeitstag ganz beeindruckend. Glücklicherweise hatte der Regen kurz vor der Demo aufgehört. Transparente wurden ausgerollt: "Gewissen im Gefängnis - Dummheit an der Macht", "Alternativdienst für Kriegsdienstverweigerer!", "Hier steht die Besatzung auf der Anklagebank!" und eine Gruppe Jugendlicher begann zu singen: "Geh nach Hebron, Kämpf für Sharon - und komm zurück in einem Sarg". Chen Gutman nahm das Megafon und las ein Gedicht von Yehonathan Gefen von vor zwanzig Jahren vor, bevor sie selbst geboren worden war: "Wir feiern die Unabhängigkeit - auf dem Rücken anderer Menschen. Wir fühlen uns vollständig frei - sie herumzustoßen und ihre Bäume zu fällen..." Werden weitere Generationen mit der andauernden Besatzung aufwachsen müssen?

Um 9.00 Uhr stellten wir uns an. Die Knesset-Abgeordneten Bronfman, Barake und Makhoul waren da, wie auch die ehemalige Abgeordnete Gozanski. Dr. Anat Matar, Dozentin der Philosophie und Mutter von Haggai, sprach im Mittelgang: "Wir sind heute zu viele, um alle in den Gerichtssaal zu kommen, selbst wenn wir noch weitere Bänke hineinstellen. Kommt bitte um 10.30 raus und gebt Euren Platz jemandem, der noch draußen wartet." Auf der Anklagebank saßen die Fünf. Matan Kaminer drehte seinen Kopf und lachte: "Dank Euch allen, dass Ihr gekommen seid !" Dann traten die Richter in den Saal.

Rechtsanwalt Dov Chenin, Anwalt, politischer Veteran und Umweltaktivist, begann seine wohlformulierten Ausführungen. "Letzte Woche ging mein Kollege von der Staatsanwaltschaft ausführlich auf die Gefahr der Anarchie und des Chaos’ ein, die einer Akzeptanz der Kriegsdienstverweigerung folgen würde. Ich fordere ihn auf, ein einziges historisches Beispiel eines Staates oder einer Gesellschaft zu nennen, die durch die Anerkennung der Gewissensfreiheit zerrüttet wurde. Es gibt keine. Aber es gibt viele Beispiele des Schreckens, der über Gesellschaften oder Staaten kam, wegen des Ausmaßes an Gehorsam ohne Gewissen.

Die Versuche von Milgram und anderen Sozialpsychologen haben gezeigt, dass ein großer Teil der Menschheit fähig ist, teuflische Handlungen zu tolerieren oder an ihnen teilzunehmen - nicht notwendigerweise aufgrund von Grausamkeit oder Sadismus, sondern einfach aus Anpassung und Anerkennung der Autorität. Diejenigen, die die Autorität herausfordern und bei ihrer Auffassung bleiben, was falsch und was richtig ist, sind ein lebenswichtiges Schmiermittel für die Gesellschaft.

Wir brauchen nur einmal einen Blick auf die Personen zu werfen, die unsere Vorfahren, die die Bibel geschrieben haben, als Vorbilder hochhielten. Schaut auf die Geschichte von Moses. Er überlebte als Kleinkind nur, weil zwei hebräische Frauen und ein ägyptischer Prinz heimlich das ägyptische Gesetz brachen, wonach der kleine Moses wie die anderen Babys im Fluss ertränkt werden sollte. Herangewachsen, ermordete Moses einen ägyptischen Aufseher, der einen hebräischen Sklaven schlug und musste als Geächteter in die Wüste fliehen. Dann kam er als ein Agitator zurück, der den Widerspruch und die Rebellion unter den Sklaven schürte. Noch später debattierte diese streitsüchtige Person mit Gott selbst und hatte öfter das bessere Argument.

Später in der Geschichte, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, gab es eine Person, die Moses zu ihrem Vorbild nahm. Eine Frau namens Harriet Tubman, die regelmäßig in den Süden der USA ging um Sklaven aus den Plantagen zu befreien und sie in die Freiheit zu schmuggeln. Auf ihren Kopf wurde ein Preis ausgesetzt, aber da ihr Spitzname "Moses" war, haben die Verfolger nie nach einer Frau Ausschau gehalten. Nach dem Recht ihrer Zeit war sie eine Kriminelle. Sie brach bewusst die Gesetze, die vorschriftsmäßig vom Kongress verabschiedet und vom Höchsten Gericht der Vereinigten Staaten in Kraft gesetzt worden waren. Sie war ein Dieb, die den Sklavenhaltern ein Menge wertvollen Besitz stahl. Und heute: Wer von diesen Menschen würde als kriminell bezeichnet werden?

Sie mögen fragen: Was hat das alles mit dieser Gerichtsverhandlung zu tun? Dies ist ein den Gesetzen verpflichtetes Gericht, es kann nur ein Urteil nach den Gesetzen dieses Landes sprechen, nicht nach abstrakten moralischen oder philosophischen Prinzipien. Aber das genau ist meine Behauptung: Die Gewissensfreiheit, dieser lebenswichtige Funke, der so entscheidend für eine menschliche Gesellschaft ist, ist tatsächlich als wesentlicher Bestandteil des israelischen Gesetzes anerkannt. Mein Kollege Staatsanwalt, der ausführlich über unverständliche Punkte des Militärverfahrensgesetzes sprach, hat kaum eine Anmerkung zu der Verfassungsrevolution des Jahres 1992 gemacht, als die Knesset das Grundgesetz zur Freiheit und Würde des Menschen verabschiedete.

Wie Richter Aharon Barak, Präsident des Obersten Gerichts, gezeigt hat, wurden die Grundrechte zu einer fundamentalen Norm des israelischen Gesetzes, eine Norm, an die sich alle staatlichen Institutionen und Organe halten müssen. Alle staatlichen Institutionen und Organe schließt auch die Armee ein. Und, wie Richter Barak und seine Kollegen bei verschiedenen Gelegenheiten ausführten, befindet sich unter diesen Rechten, und nicht an letzter Stelle, das Recht auf Gewissensfreiheit.

Das heißt selbstverständlich nicht, dass jede Person jede Handlung machen kann, die ihr in den Sinn kommt, und dabei Anspruch darauf erheben kann, dass es durch die Gewissensfreiheit gedeckt ist. Es liegt an der Person, nachzuweisen, dass besagte Handlung sich tatsächlich aus dem Gewissen herleitet. Das bedeutet, dass es eine so tiefe und fundamentale Überzeugung über Gut und Böse ist, so tief und fundamental, dass ein Brechen dieser Überzeugung auch die Person brechen würde. Aber wenn eine Person dies nachweist - und ich behaupte, dass diese fünf jungen Männer, die hier vor Gericht stehen, reichlich bewiesen haben, dass ihre Weigerung, sich von einer Besatzungsarmee rekrutieren zu lassen, von solch einer tiefen Überzeugung her rührt - dann ist die Handlung einer solchen Person als Teil der Gewissensfreiheit geschützt.

In unserem Rechtssystem ist kein Recht absolut gesetzt - weder die Meinungsfreiheit noch die Bewegungsfreiheit, und auch nicht die Gewissensfreiheit. Wenn eine Person eines Verbrechens angeklagt ist, kann die Polizei sie verhaften und in eine Zelle stecken, was offensichtlich ihre Freiheit verletzt. Die Polizei darf aber nicht willkürlich handeln. Es gibt ein Gesetz, das exakt bestimmt, wann sie eine Person verhaften darf, wie lange sie sie festhalten darf und unter welchen Bedingungen. Das gleiche gibt es bei anderen Rechten. Es mag dagegen verstoßen werden, weil andere Rechte oder ein grundlegender Wert der Gesellschaft bewahrt werden soll - aber wie es das Grundgesetz bestimmt und das Oberste Gericht bestätigt: Solch ein Verstoß eines Grundrechtes kann nur gerechtfertigt sein, wenn er in Übereinstimmung mit einem besonderen Gesetz geschieht und wenn es eine hohe Gewissheit gibt, dass er notwendig ist, um andere Werte zu bewahren.

Im gesamten Plädoyer meines Kollegen von der Staatsanwaltschaft war letzte Woche nicht der leiseste Verweis darauf gemacht worden. Es gab keinen Hinweis auf ein Gesetz, bei dem die Militärbehörden möglicherweise gegen die Gewissensfreiheit verstoßen, kein Nachweis, dass solch ein Verstoß mit großer Gewissheit notwendig sei. Es ist nicht der Fehler der Staatsanwaltschaft, dass eine solch große Lücke in der von ihr vorgetragenen Argumentation geblieben ist. Sie hat ihre Arbeit gewissenhaft erfüllt, treu die Positionen und die Praxis der Militärbehörden darzustellen. Es ist einfach nur so, dass diese Behörden bis jetzt nicht realisiert haben, dass eine Verfassungsrevolution stattgefunden hat, die sie auch selbst betrifft. Immer noch tut sich diese Lücke auf. Folgerichtig müssen die fünf hier Angeklagten freigesprochen werden." Anwalt Chenin setzte sich.

"Das Gericht dankt der Staatsanwaltschaft und der Verteidigung für die gutdurchdachten Plädoyers, die sie vor dem Gericht vortrugen. Dies ist ein sehr komplizierter Fall, den das Gericht gründlich zu erwägen hat. Erwarten Sie kein Urteil in den nächsten Wochen."

Objectors’ Parents Forum: eMail vom 13. November 2003. Übersetzung aus dem Englischen: Rudi Friedrich. Eine Entscheidung lag bei Redaktionsschluss noch nicht vor. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Januar 2004.

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