Beschluss zum Petitionsantrag für Familie Abdülrezzak und Semsi Er

Besorgt bei Rückkehr in die Türkei

von Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages

(03.07.2003) Der Deutsche Bundestag hat Ihre Petition für Familie Abdülrezzak und Semsi Er beraten und am 03.07.2003 beschlossen:

Die Petition der Bundesregierung - dem Bundesministerium des Innern und dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge - zur Erwägung zu überweisen.

Er folgt damit der Beschlussempfehlung des Petitionsausschusses (BT-Drucksache 15/1339), dessen Begründung beigefügt ist.

Begründung

Die Petenten - abgelehnte Asylbewerber aus der Türkei - erbitten den weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet.

Die Petenten, ein Ehepaar und ihre vier Kinder, sind türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit. Das Ehepaar reiste mit einer Tochter eigenen Angaben zufolge am 25. Januar 1996 in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragte am 5. Februar 1996 seine Anerkennung als Asylberechtigte. Zwei weitere Kinder stellten am 16. August 1996 und am 30. Juli 1997 einen Asylantrag, ohne eigene Asylgründe zu benennen. Mit Bescheiden vom 10. März 1996, 20. September 1996 und 12. August 1997 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (BAFl) die Asylanträge als unbegründet ab und verneinte auch das Vorliegen eines Abschiebungsverbots gemäß § 51 Ausländergesetz (AuslG) und von Abschiebungshindernissen nach § 53 AuslG. Das Verwaltungsgericht (VG) Gießen wies die dagegen erhobene Klage mit Urteil vom 3. Mai 2000 ab. Ein gegen dieses Urteil beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof gestellter Antrag auf Zulassung der Berufung wurde mit Beschluss vom 17. Mai 2000 abgelehnt.

Am 17. Juni 2002 stellten das Ehepaar und drei Töchter einen Asylfolgeantrag, den sie damit begründeten, dass sich der Ehemann an Kundgebungen beteiligt habe, engagierter Kriegsgegner sei und zudem schwer psychisch krank sei. Die Ehefrau habe außerdem eine Fehlgeburt erlitten. Mit Bescheid des BAFl vom 25. Juli 2002 wurden die Asylfolgeanträge mit der Begründung abgelehnt, dass die psychische Erkrankung erstmalig vorgetragen worden sei und auch in der Türkei behandelt werden könne. Kriegsdienstverweigerung und die Teilnahme an Kundgebungen führten nicht zur Verfolgung in der Türkei. Eine hiergegen beim VG Gießen eingelegte Klage ist derzeit noch rechtshängig.

Die Petenten verfolgen ihr Anliegen daneben im Wege der Petition. Sie tragen im Wesentlichen vor, das Bundesamtsverfahren sei fehlerhaft verlaufen und das BAFl habe ihre Asylanträge zu Unrecht abgelehnt.

Die Petition wird von diversen Organisationen und Unterzeichnern von Unterschriftenlisten unterstützt.

Die Petition ist auch beim Petitionsausschuss des Hessischen Landtages anhängig.

Das Bundesministerium des Innern (BMI) bestätigt in seiner zu der Eingabe eingeholten Stellungnahme die Korrektheit des Bundesamtsverfahrens und verweist zu § 53 AuslG auf die seiner Auffassung nach zutreffende Begründung des BAFl.

Die parlamentarische Prüfung führt zu folgenden Ergebnissen:

Dem Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages stehen bei Bitten abgelehnter Asylbewerber um einen weiteren Aufenthalt im Bundesgebiet nur äußerst geringe Einwirkungsmöglichkeiten zur Verfügung. Gemäß den gesetzlichen Vorgaben sind abgelehnte Asylbewerber grundsätzlich zur Ausreise verpflichtet. Auch der Petitionsausschuss ist an die geltende Rechtslage gebunden und kann selbst in Härtefällen keine Ausnahmen erwirken.

Der Ausschuss ist daher bei Bitten und Beschwerden abgelehnter Asylbewerber auf die parlamentarische Kontrolle der Entscheidungen des BAFl beschränkt. Es ist jedoch auch insoweit darauf hinzuweisen, dass die rechtsverbindlichen Entscheidungen über Asylanträge dem BAFl und den Verwaltungsgerichten, nicht jedoch dem Petitionsausschuss obliegt. Er kann deshalb im Wege des Petitionsverfahrens kein zweites Asylverfahren durchführen. Er kann allenfalls beim Vorliegen offensichtlicher Fehler und Unrichtigkeiten des BAFl um ein Wiederaufgreifen des Asylverfahrens ersuchen.

Da im vorliegenden Fall das Asylerstverfahren der Petenten gerichtlich überprüft und die ablehnenden Entscheidungen des BAFl im Ergebnis rechtskräftig vom VG Gießen bestätigt worden sind, hat der Petitionsausschuss insoweit keine Möglichkeit mehr, dieses Verfahren auf offensichtliche Fehler und Unrichtigkeiten zu untersuchen.

Dies hindert den Ausschuss jedoch nicht daran, das noch nicht rechtskräftig bestätigte Bundesamtsverfahren zum Asylfolgeantrag auf mögliche offensichtliche Fehler zu prüfen. Hierzu ist festzustellen, dass das BAFl sich in seiner Entscheidung zum Asylfolgeantrag nur ungenügend mit den exilpolitischen Aktivitäten des Petenten und den hieraus drohenden Gefahren bei Rückkehr in die Türkei auseinandergesetzt hat. Im Bescheid des BAFl vom 25.07.2002 wird pauschal ausgeführt, dass der Petent als einer der vielen Mitläufer anzusehen sei, die auf dem Weg über in der Presse veröffentlichte Artikel, Bilder oder Unterschriftenlisten versuchten, in der Bundesrepublik Deutschland ein Bleiberecht zu erhalten. Ob eine individuelle Betrachtung der einzelnen Aktionen erfolgte, ist dem Bescheid des BAFl nicht zu entnehmen. Der Bescheid führt lediglich aus: "Diese Aktionen im Rahmen von Kriegsdienstverweigerung, die in letzter Zeit verstärkt als Abschiebungshindernis vorgetragen werden, erwecken im Einzelnen nicht die Aufmerksamkeit der türkischen Behörden. Nur wenn diese Aktivitäten mit exponierten Tätigkeiten sich aus der breiten Masse der Verweigerer abheben, kann es möglich sein, dass der türkische Staat Interesse zeigt."

Der Petitionsausschuss hat aus den eingereichten Unterlagen ein anderes Bild über die exilpolitischen Aktivitäten und über die Verfolgungswahrscheinlichkeit des Petenten bei Abschiebung in die Heimat gewonnen. Der Petent war seit dem Jahr 2000, insbesondere im Rahmen der Gruppe der türkischen Kriegsdienstverweigerer, aktiv beteiligt an Aktivitäten kurdischer und türkischer Kriegsdienstverweigerer. Am 1. Dezember 2000 nahm er an einer Aktion mit ca. 70 Teilnehmern auf dem Klagesmarkt in Hannover, gegenüber dem türkischen Konsulat, teil. Dort warf er zusammen mit anderen Delegationsteilnehmern eine persönliche Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung und eine mitunterzeichnete gemeinsame Erklärung in den Briefkasten des türkischen Konsulates. Die persönliche Erklärung enthielt u.a. auch sein Geburtsdatum, seinen Geburtsort und seine Anschrift in Deutschland.

Aufgrund der öffentlichen Erklärung der Kriegsdienstverweigerung ist es nach Ansicht des Petitionsausschusses sehr wahrscheinlich, dass dem Petenten in der Tükrei eine Bestrafung gemäß § 155 Türkisches Strafgesetzt (TCK) in Verbindung mit Art. 58 Militärisches Strafgesetzbuch droht. In Art. 155 TCK wird die "Distanzierung des Volkes vom Militärdienst" mit Haftstrafe bis zu zwei Jahren belegt. Dieser Tatbestand wäre im Fall des Petenten allein durch den öffentlichen Aufruf zur Kriegsdienstverweigerung erfüllt. In den vom Petenten unterschriebenen Aufrufen und in seinem eigenen Brief an das türkische Generalkonsulat in Hannover werden der Krieg in Kurdistan als Verbrechen gegen die Menschlichkeit bezeichnet und es wird erklärt, dass linke, demokratische Soldaten oder Kurden beim Militär getötet und diese Todesfälle anschließend als Selbstmorde deklariert würden. Diese Aussagen werden nach der Rechtspraxis der Türkei als Verstoß gegen Art. 159 TCK gewertet, der die "Beleidigung des Militärs und der Sicherheitskräfte" mit Haftstrafe zwischen einem und sechs Jahren bestraft. Der Gebrauch des Wortes "Kurdistan" und der Hinweis auf Unterdrückung "des kurdischen Volkes" macht darüber hinaus eine Strafverfolgung wegen "separatistischer Propaganda" nach § 8 des Anti-Terrorgesetzes wahrscheinlich.

Darüber hinaus ist nach Ansicht des Ausschusses auch mit hoher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Petent nicht nur aufgrund der öffentlichen Erklärung der Kriegsdienstverweigerung verfolgt würde, sondern auch staatliche Verfolgung als angeblicher PKK-Anhänger zu befürchten hätte. Diese Gefahr resultiert aus einem am 02.12.2000 erschienen Artikel in der türkischen Zeitung Hürriyet. Dieser zweiseitige Artikel beschreibt die am 01.12.2000 in Hannover stattgefundene Aktion und enthält die Beschuldigung, dass es sich bei den meisten der Teilnehmer, insbesondere denjenigen, die aktiv in Erscheindung getreten sind, um Anhänger der PKK handele. Auf dem veröffentlichten Foto ist der Petent deutlich zu erkennen. Somit ist im Zusammenhang mit der persönlichen Erklärung und dem Zeitungsartikel davon auszugehen, dass er den türkischen Behörden hinlänglich bekannt ist. Obwohl der Petent auch diesen Artikel dem BAFl vorlegte, findet er in der Begründung der ablehnenden Entscheidung keine Erwähnung. Es ist daher davon auszugehen, dass das BAFl die Verfolgungswahrscheinlichkeit, die durch den Verdacht der Sympathie für die Sache bzw. Mitgliedschaft bei der PKK entstehen kann, verkannt hat.

Der Petent nahm an vier weiteren Treffen der Kriegsdienstverweigerer teil und organisierte ein Treffen in Biedenkopf selbstständig und lud dazu ein. Auch über dieses Treffen wurde in der regionalen Zeitung und in der Özgür Politika vom 19.08.2002 mit einem Bild des Petenten berichtet. Bei einer weiteren Aktion, die am 31.08.2002 vor dem türkischen Generalkonsulat in Frankfurt stattfand, wurde von den Organisatoren besonders darauf geachtet, dass nur an der Vorbereitung beteiligte Aktive die gemeinsame Erklärung gegenüber dem türkischen Konsulat durch ihre Unterschrift vertraten. Auch von dieser Aktion wurde in diversen Medien berichtet. Zuletzt trat der Petent am 30.11.2002 im Fernsehsender Medya TV auf. Im Rahmen es Fernsehprogramms Platforma Azadi, die von 16.00 bis 18.00 Uhr gesendet wurde, erklärte er u.a., dass er Kriegsdienstverweigerer sei und rief die türkischen und kurdischen Jugendlichen auf, nicht zum Militär zu gehen.

Diese Aktionen, die zum Teil durch den Petenten selbst organisiert wurden, zeigen nach Ansicht des Petitionsausschusses nicht, dass es sich bei ihm lediglich um einen Mitläufer handelt, dem es allein darum geht, ein weiteres Bleiberecht in der Bundesrepublik Deutschland zu erhalten. Die Anzahl und Regelmäßigkeit der Aktivitäten ist vielmehr ein Beleg dafür, dass es ihm mit seinem Engagement für die Kriegsdienstverweigerung ernst ist und er auch bereit ist, durch riskante Aktionen ein erhöhtes Risiko einzugehen.

Wie sich übereinstimmend aus dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 09.10.2002 und aus Erkenntnissen von amnesty international ergibt, werden Rückkehrer und abgeschobene Personen auf dem Flughafen Istanbul routinemäßig über ihren Aufenthalt im Ausland befragt. Schwierigkeiten für Abgeschobene können insbesondere dann eintreten, wenn der Verdacht der Mitgliedschaft in oder die Unterstützung der PKK oder anderer illegaler Organisationen vorliegt.

Nach Erkenntnis von amnesty international (vgl. Stellungnahme an das VG Sigmaringen vom 03.02.1999) kam es in diversen Fällen zunächst zu einer Freilassung nach der routinemäßigen Eingangskontrolle, später wurden die Betroffenen jedoch in ihrer Heimatregion festgenommen und zu Verhören zur Antiterrorabteilung gebracht. Im Zuge dieser Verhöre kann es mit hoher Wahrscheinlichkeit zur Anwendung von Folter und Misshandlung kommen, um Geständnisse von verdächtigen Personen zu erlangen. In der Polizeihaft wird nach den Erkenntnissen von amnesty international routinemäßig Folter angewandt. Weiter weist amnesty international in der besagten Stellungnahme darauf hin, dass die Personen, die bei ihrer Rückkehr Opfer der geschilderten Verfolgungsmaßnahmen geworden sind, sich nicht in allen Fällen an exponierter Stelle oppositionell betätigt haben. Auch Aktivitäten an nicht herausragender Stelle können gegenüber den türkischen Behörden Verdachtsmomente erregen.

Das tatsächliche Bestehen einer Gefahr für öffentliche Kriegsdienstverweigerer, bei Rückkehr in die Türkei verhaftet und gefoltert zu werden, erwies sich auch in einer beim Petitionsausschuss im Jahr 2002 eingereichten Petition (1-14-06-266-047845). Der Petent hatte ebenfalls in Deutschland öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung erklärt und war dennoch im Jahr 1998 abgeschoben und in der Türkei zur Ableistung des Militärdienstes gezwungen worden. Aufgrund seiner persönlichen Erklärung wurde er nicht nur während des Militärdienstes, sondern auch noch im Anschluss gefoltert. Erst bei einer erneuten Flucht wurde er vom BAFl, nachdem durch ein Gutachten die Folter bestätigt worden war, gemäß § 51 Abs. 1 AuslG als Flüchtling anerkannt. Auch diesem Petenten war die Nähe zur PKK vorgeworfen worden.

Diese Erkenntnisse zugrundelegend kann mit hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der Petent bei seiner Rückkehr bereits am Flughafen in Istanbul mit eine Personenkontrolle und der Einleitung von strafrechtlichen Ermittlungen zu rechnen hat. Es ist nicht auszuschließen, dass dem Petenten bei seiner Rückkehr aufgrund der im Hürriyet-Artikel ausgesprochenen Verdächtigung und seines Auftritts in Medya TV erhebliche Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit drohen. Hinzu kommt, dass seine Position für die türkischen Behörden auch schon durch die Ablehnung des Dorfschützeramtes erkennbar war. Er hatte sich der Übernahme des Dorfschützeramtes entzogen und war zudem der Unterstützung der PKK verdächtigt worden. Entsprechend der Aussage des Hürriyet-Artikels kann dies für die türkischen Behörden eine weitere Bestätigung sein, dass der Petent sich gegen das Militär wendet und sich für die Gegenseite entschieden hat.

Der Petitionsausschuss ist daher besorgt um das Schicksal des Petenten bei dessen Rückkehr in die Türkei. Der Ausschuss hält eine Wiederaufnahme des Verfahrens, zumindest hinsichtlich der Abschiebungshindernisse gemäß § 53 Abs. 6 AuslG, unter Einbeziehung der bisher nicht berücksichtigten Gesichtspunkte, für angebracht.

Das Anliegen der Petenten wird deshalb grundsätzlich befürwortet. Dieser Beschluss und die Petition werden der Bundesregierung - dem BMI sowie dem BAFl - zur Erwägung mit dem Ersuchen zugeleitet, nach Möglichkeiten der Abhilfe zu suchen.

Beschluss und Begründung des Petitionsausschusses des Deutschen Bundestages vom 03.07.2003. AZ Pet 1-14-06-266-050400. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Januar 2004.

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