Kolumbien: Jugendliche zwischen den Fronten

Bericht über die Arbeit von Red Juvenil Medellin

von Jochen Schüller

(01.02.2009) Der Klang der Klarinette und der Rhythmus der Tabores – großer Trommeln – begleiten die Jugendlichen vom RED JUVENIL und ihre Sprech-Chöre: „Stopp den Kriegsdienst“ und „Die Jugend zieht nicht in den Krieg!“ schallt es durch die Straßen und Gassen der 3,5-Millionen-Metropole Medellín, der drittgrößten Stadt Kolumbiens.

Antimilitaristische DemonstrationDie antimilitaristische Demo ist bunt und karnevalistisch. Geschminkt und in grellen Kleidern ziehen mehrere Dutzend Aktivisten und Aktivistinnen zum Stadion. Dort warten Tausende junger Männer. Die Armee hat sie dorthin geordert, um sie für den Wehrdienst zu registrieren. Dagegen demonstriert das Jugendnetzwerk RED JUVENIL und wirbt für die Kriegsdienstverweigerung.

In Kolumbien herrscht Wehrpflicht. In einem Land, in dem seit über 40 Jahren ein ständiger Krieg zwischen Staat und Guerilla-Gruppen tobt, folgt auf die Grundausbildung oft schnell der blutige Einsatz an der Front. Seit 17 Jahren kämpft das RED JUVENIL für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und für eine friedliche Lösung des bewaffneten Konflikts.

Auch Alejandra ist dabei – sie ist nicht die einzige junge Frau bei den Protesten. „Niemand traut sich zu sagen, dass wir uns in einem Krieg befinden. Und in diesem unerklärten Krieg werden die Jugendlichen weiterhin als Kanonenfutter geopfert und sind die Mehrzahl der Opfer. Wir sind die Manövriermasse derer, die die Macht des Geldes besitzen.“

Im RED JUVENIL spielen die jungen Aktivistinnen eine ebenso wichtige Rolle wie die jungen Männer. Alejandra: „Der Krieg betrifft auch uns und die Verweigerung ist eine Lebenshaltung. Es geht nicht nur um die Ablehnung bewaffneter Gruppen. Wir sind auch gegen die ungerechte Globalisierung.“ Jhony ergänzt: „ Antimilitarismus heißt für uns, gegen alle Formen der Ausgrenzung zu sein: z.B. Konkurrenzdenken, Machismus, autoritäre Regime und Kapitalismus.“

Kolumbiens langer blutiger Konflikt

Mahnwache für Opfer von MassakernDer bewaffnete Konflikt in Kolumbien ist der längste und blutigste in der jüngeren Geschichte Lateinamerikas. Tausende fallen ihm jedes Jahr zum Opfer. Die Zivilbevölkerung – insbesondere auf dem Land - leidet am meisten; mehr als vier Millionen Menschen wurden in den letzten beiden Jahrzehnten zu Flüchtlingen im eigenen Land. Entwurzelt leben sie meist in den Slums der Großstädte.

Der historisch gewachsene Konflikt hat seit eh und je die gleiche Ursache. Eine Gesellschaft wird von einer kleinen Elite regiert, die alle Macht, die Medien und den Reichtum in den Händen hält. Dagegen kämpfen linke Guerillagruppen, die jedoch wenig Rücksicht auf die Zivilbevölkerung nehmen. Die offiziellen Streitkräfte des Staates - Militär und Polizei - sind in den letzten Jahren unter dem rechtsextremen Präsidenten Álvaro Uribe Vélez auf eine Stärke von über 420.000 Mann angewachsen.

Die illegalen rechten Paramilitärs, geduldet und gefördert von Armee und Regierung, sind für rund 70% aller Gräueltaten verantwortlich. In den 60-iger Jahren entstanden sie als Teil einer in den USA entwickelten Aufstandsbekämpfungsstrategie. Die Opfer ihres Terrors - meist Oppositionelle und Zivilisten - werden auf bestialische Art gefoltert und ermordet, bisweilen mit Kettensägen oder Macheten bei lebendigem Leib zerstückelt.

Die Guerillagruppen scheren sich ebenfalls wenig um die Unversehrtheit der Zivilbevölkerung. Sie setzen Anti-Personen-Minen ein. Auch ihre selbstgebauten Raketen verfehlen oft ihr Ziel und treffen die Bevölkerung.

Alle illegalen Truppen – rechts wie links – rekrutieren Minderjährige. Auf über 11.000 schätzte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch die Zahl der Kindersoldaten im Jahr 2003. Das ist rund ein Viertel aller Kämpfer. Die Paramilitärs zahlen sogar einen Sold, eine attraktive „Beschäftigung“ in einem Land ohne Arbeit und Perspektive.

„Libreta Militar“

Die reguläre Rekrutierung durch die Armee findet an festen Terminen im Jahr statt. Dann werden Tausende junger Männer auf ihre „Tauglichkeit“ untersucht. Von den „Tauglichen“ werden zuerst die Freiwilligen genommen und dann der fehlende Bedarf über ein Losverfahren ausgewählt. Wer dabei ausscheidet, muss nicht mehr zum Militär. Er muss aber eine einkommensabhängige Ablöse-Summe an das Militär zahlen. Er kauft die „Libreta Militar“. Nur wer untauglich ist, bekommt diese Bescheinigung kostenlos.

„Als Kriegsdienstverweigerer zahle ich die ‚Libreta’ natürlich nicht, denn es ist eine Kriegssteuer und ich will den Krieg nicht finanzieren“, erklärt der 26-jährige Wirtschaftsstudent Fredy. Doch wer keine „Libreta“ besitzt kann zwar studieren, wird aber nicht zu den Abschlussprüfungen zugelassen. „Deine Zukunft ist Dir damit verbaut!“ Auch auf dem Arbeitsmarkt wird die „Libreta“ fast immer gefordert, nicht nur im öffentlichen Dienst.

„Söhne von Politikern oder hohen Militärs gehen gar nicht zur Musterung – die kaufen sich sofort frei“, klagt Fredy. Im korrupten Kolumbien müssen daher hauptsächlich junge Männer aus den ärmeren sozialen Schichten an die Front.

„Batidas“ – Razzien des Militärs

Immer wenn dem Militär zwischen den regulären Rekrutierungsterminen das „Kanonenfutter“ ausgeht, finden sogenannte „Batidas“ statt: Das Militär macht Jagd auf junge Männer - in die Armenviertel, an den Unis oder auf öffentlichen Plätzen.

„Es begann mit einem Anruf abends um sieben Uhr. Meine Mutter warnte mich, dass sie wieder mit den Rekrutierungen begonnen hätten“, berichtet Gabriel. „Das Militär hätte schon einige Jugendliche auf den Laster gezerrt. Als einer der Jugendlichen vom Laster sprang, sei er von den Soldaten wieder eingefangen, geschlagen und beschimpft worden, so erzählte meine Mutter. Ich beruhigte sie, dass ich nach der Arbeit um neun gleich mit dem Fahrrad nach Hause fahren werde.“

Doch dorthin gelangte er nicht mehr. „Als ich schon ein Stück gefahren war, kamen mehrere Motorräder und hätten mich beinahe zu Fall gebracht. Sie fragen mich gleich nach der Libreta Militar.“ Er studiere noch, habe aber kein Geld eine „Libreta“ zu kaufen, erklärte er. Das Studium interessiere sie nicht, erklärten die Militärs. Sie drohten, ihn in Handschellen zu legen, und nahmen ihn einfach mit. „Besonders ungerecht war, dass sie einen Jungen aus einem Haus herausholten, obwohl sie wussten, dass er alleine für seine alte Großmutter sorgt“. Erst als der Lastwagen voll Jugendlicher war, fuhren sie in die Kaserne, wo sie eingesperrt wurden. Die Jugendlichen wurden schikaniert und eingeschüchtert. „Wenn ihr versucht abzuhauen, hagelt es Blei“, drohten die Militärs.

Doch Gabriel hatte Glück. Nicht nur seine Familie setzte sich für ihn ein, auch die Gruppe „Das fünfte Gebot“ und das RED JUVENIL haben ihn beraten und ermutigt. „Ich wusste genau was ich sagen musste, als ich dann zur Psychologin gebracht wurde. Ich sagte, dass ich noch studiere. Außerdem zeigte ich den Nachweis, dass wir „Vertriebene“ sind und erklärte, dass ich weiß, dass das Gründe gegen eine Einziehung zum Wehrdienst sind und dass ich außerdem keine Waffe in die Hand nehmen werde.“

Gabriel kam wieder frei. Seine Zurückstellungsgründe wurden akzeptiert und ganz offensichtlich half der öffentliche Druck des RED JUVENIL und anderer antimilitaristischer Gruppen. Auch in anderen Fällen hat die Armee lieber Kriegsdienstverweigerer laufen lassen, als zuviel Unruhe in der Truppe oder der Öffentlichkeit zu provozieren. Manche Verweigerer blieben jedoch über Monate in den Kasernen eingesperrt bis sie endlich entlassen wurden.

„Es ist erschreckend“, erklärt Fredy. „Oft werden Jugendliche aus der Ausbildung oder dem Studium gerissen. Selbst junge Väter, die ihre Familie versorgen müssen, werden rekrutiert, obwohl sie eigentlich gar nicht zum Militär müssten. Das RED JUVENIL hat durch Aktionen und Gerichtsverfahren Einzelnen helfen können, das ist jedoch sehr wenig gemessen an der hohen Zahl dieser Razzien.“

Gewaltfrei aber nicht zahm

Auf ihre Aktionen bereiten sich die Mitglieder und Freunde des RED JUVENIL in Seminaren und Workshops über zivilen Ungehorsam vor. Die Methode der „aktiven Gewaltfreiheit“ orientiert sich an den Prinzipien Gandhis. Die kreativen Formen des gewaltfreien Widerstands sind bestechend und attraktiv zugleich, irritieren und provozieren zum Nachdenken.

Nicht nur gegen den Militärdienst, auch gegen die soziale Ungerechtigkeit engagieren sich die Jugendlichen vom RED. Den neoliberalen Kapitalismus, die extremen sozialen Unterschiede und die Armut sehen sie als die Hauptursachen für den bewaffneten Konflikt. 41% der Bevölkerung haben nicht genug zu Essen und mindestens 20% der Kinder sind unterernährt. Oft fehlt das nötigste für ein würdiges Leben. In den Armenvierteln engagiert sich das RED daher in der Kampagne für eine bezahlbare Versorgung mit Wasser, Strom und Telefon. Sie nehmen an Demonstrationen am 1. Mai oder am internationalen Frauentag teil. Außerdem vernetzen sie sich mit Friedensgemeinden, afrokolumbianischen und indigenen Gemeinschaften („Indios“).

Ihre Widerständigkeit hat jedoch auch ihren Preis. Haron ist Schauspieler und immer bei Straßenaktionen dabei: „Nach einem sehr erfolgreichen Protest gegen die Militärparade am Unabhängigkeitstag wurden wir zu dritt in ein Polizeiauto geschmissen und heftig geschlagen.“ Auch auf der Polizeiwache gingen die Misshandlungen weiter. Doch die AntimilitaristInnen sind nicht nur von Polizeibrutalität und staatlicher Repression betroffen.

„Tod den Anarchisten“

Am 30. Mai 2008 hat die paramilitärische Gruppierung „Aguilas Negras“ eine Morddrohung an Mitglieder des RED JUVENIL geschickt. In der Nachricht heißt es: „Tod den Anarchisten, die sich als Pazifisten tarnen, keine Konzerte im Drogenrausch und keine Kommunisten mehr, es gibt keine weiteren Warnungen.“

Den Unmut der paramilitärischen Todesschwadronen hatte sich das RED JUVENIL wohl insbesondere durch das antimilitaristische Konzert zugezogen, das es jedes Jahr am 15. Mai - dem internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerer - veranstaltet. Beim letzten „Anti-Mili“-Konzert tanzten und feierten über 5.000 Jugendliche bei Punk, Hip-Hop, Metal, Reggae und Rock-Musik.

Die Drohungen der Paramilitärs richteten sich sehr direkt gegen einzelne AktivistInnen des RED – offenbar kennen die „Paras“ ihre Namen.

Da solche Drohungen sehr ernst zu nehmen sind, reagierten Terre des Hommes und „Brot für die Welt“ sowie viele andere Internationale Organisationen bei der kolumbianischen Regierung. Bislang wurde das RED JUVENIL nicht wieder bedroht. Doch die Situation ist von einer repressiven Gesamtstimmung geprägt.

Die Erfahrungen des RED JUVENIL sind für viele andere Jugendliche in ganz Kolumbien ein positives Beispiel. Mittlerweile gibt es dreizehn antimilitaristische Gruppen, die sich in Kolumbien und auf internationaler Ebene vernetzt haben. Gerade die internationale Aufmerksamkeit bietet einen gewissen Schutz.

Dass sich immer mehr Jugendliche trauen, gegen Militär, Krieg und Ungerechtigkeit aktiv zu werden, ist eine ermutigende Entwicklung für Kolumbien. Auch wenn sie immer noch eine Minderheit sind.

Jochen Schüller: Kolumbien: Jugendliche zwischen den Fronten. Februar 2009. Mit freundlicher Genehmigung entnommen aus zivil 1/09 – Zeitschrift für Frieden und Gewaltfreiheit. Auszüge. www.zivil.de

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