Rebel Clowns Army in Aktion; Foto: bundeswehr-wegtreten.org

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Deutschland: Wiederkehr der Zwangsdienste?

von Gernot Lennert

Seit Anfang der 1990er hatte eine wachsende Zahl von Staaten in Europa die sogenannte Wehrpflicht1 entweder abgeschafft oder ausgesetzt, 2011 auch Deutschland.

2014 drehte sich der Trend um: Mehrere Staaten Europas und Westasiens begannen wieder mit der Zwangsrekrutierung zum Militär oder führten sie erstmals ein.

Seitdem gab es auch in Deutschland zunehmend die Forderung nach Reaktivierung des Kriegsdienstzwangs, vor allem seitens der AfD, des Reservistenverbands und Teilen der CDU. Im Sommer 2018 häuften sich Forderungen nach militärischen und zivilen Zwangsdiensten: Es wurden Umfragen lanciert, wonach eine Mehrheit der Bevölkerung eine Reaktivierung des Militärdienstzwangs befürworte, bevorzugt eingebettet in einen allgemeinen Zwangsdienst für Jugendliche beiderlei Geschlechts. Am meisten beachtet wurde der Vorstoß von Kramp-Karrenbauer, Generalsekretärin der CDU, vom August 2018, die sogar Flüchtlinge zwangsverpflichten will. Zuvor hatte im Juni Günter Wallraff die „Wehrpflicht“ und ein soziales Jahr für Männer und Frauen gefordert, ähnlich auch Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung. Eine Autorin der Wochenzeitung Jungle World forderte die Rückkehr zum Militärdienstzwang, sogar ohne zivile Zwangsdienste.

Trendwende

Bis zum Ende des Ost-West-Konflikts wurden in ganz Kontinentaleuropa junge Männer ins Militär gezwungen. Nur Gebiete wie West-Berlin, Åland, Gibraltar und die meisten Zwergstaaten waren frei vom Zwang zum Kriegsdienst.

In den 1990er begannen Staaten in Westeuropa allmählich den Kriegsdienstzwang abzuschaffen oder auszusetzen. Ihnen folgten Staaten in der Mitte und im Osten Europas. Mit großer Verspätung gegenüber den meisten Nachbarländern wurde 2011 auch in Deutschland der Kriegsdienstzwang ausgesetzt. Das bedeutet, dass in Deutschland Männer gemäß dem nach wie vor gültigen Wehrpflichtgesetz weiterhin zum Kriegsdienst verpflichtet sind, dass aber zur Zeit niemand zwangsweise gemustert oder einberufen wird. Der Bundestag kann mit einfacher Mehrheit den Kriegsdienstzwang reaktivieren. Im Spannungs- und Verteidigungsfall tritt die Zwangsrekrutierung automatisch wieder in Kraft.

Schon 2013 stoppte die Tendenz zur Abschaffung oder Aussetzung der Dienstpflicht: Ein Referendum in Österreich bestätigte den Fortbestand des Kriegsdienstzwangs, und in Norwegen wurde beschlossen, die Zwangsrekrutierung nicht nur nicht abzuschaffen, sondern auf Frauen auszudehnen (gesetzlich festgelegt 2014).

Mit der Ukraine-Krise 2014 kam die Trendwende. In der Ukraine, die gerade ein Jahr zuvor die Zwangsrekrutierungen beendet hatte, wurde angesichts der Annexion der Krim durch Russland und des Kriegs in der Ost-Ukraine der Kriegsdienstzwang wieder eingeführt. Auch Litauen und Georgien kehrten seitdem zur Zwangsrekrutierung zurück, ebenso Kuwait. Katar und die Vereinigten Arabischen Emirate führten die Militärdienstpflicht erstmals ein.

Seit 2018 werden in Schweden erstmals seit 2010 wieder junge Menschen ins Militär gezwungen, jetzt auch Frauen. In Frankreich wird nun auf Betreiben Macrons ein zivil-militärischer Zwangsdienstmonat für 16-Jährige eingeführt, dem später ein freiwilliger ziviler oder militärischer Dienst folgen soll.

Parteipolitische Debatte in Deutschland 2018

Am entschlossensten fordert die AfD die Reaktivierung der sogenannten Wehrpflicht. Darüber hinaus können sich AfD-Politiker auch eine Reihe von Ersatzdiensten bei der Feuerwehr, Technischem Hilfswerk und dergleichen vorstellen. Auch die diversen Vorschläge aus der CDU kombinieren Militärdienstzwang mit einer allgemeinen Dienstpflicht für Jugendliche beider Geschlechter. Die Junge Union spricht von einem „verpflichtenden Gesellschaftsjahr“ mit Wahlfreiheit zwischen Bundeswehr und anderen Diensten. Spahn und Klöckner wollen das Thema beim CDU-Parteitag diskutiert sehen, bei dem mehrere Dienstpflichtmodelle zur Diskussion gestellt werden sollen. Über all das geht Kramp-Karrenbauer hinaus, indem sie auch Asylsuchende und Flüchtlinge zu einem Jahr Zwangsdienst verpflichten will, angeblich um ihre Integration zu fördern.

Bundeskanzlerin Merkel erklärte: „Ich möchte die Wehrpflicht nicht wieder einführen“,2 befürwortete aber die Debatte über eine Dienstpflicht. Gleichzeitig verwies sie darauf, dass sich mehr Menschen fürs Freiwillige Soziale Jahr bewerben, als bezahlt werden können.3

Eindeutiger Widerspruch kam von der Linkspartei4, den Grünen und der FDP sowie Teilen der SPD. Sie lehnen die mit Zwangsdienst verbundene Freiheitseinschränkung und die staatliche Bevormundung ab. Die FDP betont den volkswirtschaftlichen Schaden. Die Linke sieht die Zwangsdienstvorschläge auch im Kontext von Aufrüstung und Militarisierung.

Argumente

Auffällig ist, dass in den wenigsten Fällen militärische Argumente angeführt werden. Rekrutierungsprobleme und Funktionsfähigkeit der Bundeswehr sind noch am ehesten Thema der AfD. Andere rücken die vermeintlichen Segnungen einer Dienstpflicht in den Vordergrund. Der CDU-Politiker Otte lehnt die traditionelle Wehrpflicht zwar ab, sympathisiert aber mit einer allgemeinen Dienstpflicht für Männer und Frauen. „Dadurch könnte sich ein stärkeres Bekenntnis zu unserem Land entwickeln und der gesellschaftliche Zusammenhalt gestärkt werden.“5 Heribert Prantl spricht gar von einem „Anti-Egoismus-Jahr“.6 Den aktuellen Zwangsdienstüberlegungen ist gemeinsam, dass man sich bemüht, wenig bedrohlich aufzutreten und Erinnerungen an inquisitorische Gewissensprüfungen nicht aufkommen zu lassen, indem meist von Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Diensten die Rede ist. Kramp-Karrenbauer selbst beschwichtigte: „Ich selber bin noch nicht ganz entschlossen.“7 Es handele sich um den Anfang einer Debatte ums neue CDU-Grundsatzprogramm.

Gegenstimmen

Widerspruch gegen eine Wiederbelebung sowohl der „Wehrpflicht“ im alten Sinn als auch einer allgemeinen Dienstpflicht kommt von Militärexperten. Sowohl der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn, und Ex-Verteidigungsminister Rühe argumentieren, dass die Bundeswehr mangels Infrastruktur wie Kreiswehrersatzämtern und Kasernen die Massen an Rekruten nicht aufnehmen könne und dass sich die Bundeswehr strukturell so grundlegend gewandelt habe, dass sie durch eine Rückkehr zur „Wehrpflicht“ ins Chaos gestürzt werde.8

Rühe und etliche andere Stimmen verweisen auch darauf, dass für eine allgemeine Dienstpflicht die Verfassung geändert werden müsse, wofür keine Mehrheit erreichbar sei.

Wie wahrscheinlich sind alte oder neue Zwangsdienste?

Naheliegend ist die Annahme, dass die CDU wahltaktisch versucht, sich gegenüber der AfD als konservativ, militaristisch und flüchtlingsfeindlich zu profilieren, um Wählerstimmen zu gewinnen. Das schließt allerdings nicht aus, dass die CDU die Zwangsdienstideen auch durchsetzen will.

Von Regierungsseite wurde in den letzten Jahren mehrfach versichert, dass man kein Interesse an einer Reaktivierung des Militärdienstzwangs habe. Das ist sicherlich richtig. Die Bundeswehr wurde einerseits drastisch verkleinert, andererseits zu einer weltweit einsetzbaren Interventionstruppe umgebaut. Die Zwangsrekrutierungen wurden eingestellt, weil in dieses Konzept sogenannte Wehrpflichtige nicht gut hineinpassen.

Aber gerade im militärischen Bereich funktioniert nicht alles so wie gewünscht, wie schon viele, die Kriege begonnen haben, feststellen mussten. Auf Ebene von NATO und EU soll massiv aufgerüstet werden, und die Bundesregierung schickt in ihrem Drang nach militärischer Weltgeltung die Bundeswehr in immer mehr Kriegseinsätze. Mali droht für die Bundeswehr ein zweites Afghanistan zu werden. Immer mehr NATO-Truppen werden nach Osten an die Grenzen Russlands verlegt. Gleichzeitig fällt es der Bundeswehr trotz ihrer massiven Werbekampagnen schwer, ihre Rekrutierungsziele zu erreichen.

Auch wenn die Bundesregierung es gerne vermeiden möchte, wieder auf den herkömmlichen Kriegsdienstzwang zurückzugreifen, könnte es sein, dass sie ihn unter bestimmten Bedingungen doch wieder reaktiviert.

Um sich diese Option offen zu halten, wurde die Zwangsrekrutierung 2011 bewusst auch nur ausgesetzt und nicht abgeschafft. Die nötigen Institutionen wurden beibehalten, auch wenn das Bundesamt für Zivildienst umbenannt wurde in Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben. Obwohl es eine Vielzahl von Freiwilligendiensten gibt, wurde der Bundesfreiwilligendienst offensichtlich eingeführt, um dem Bundesamt für Zivildienst eine Existenzberechtigung zu erhalten.

Die gegenwärtige Debatte ist geeignet, den Boden für die Reaktivierung alter und die Einführung neuer Zwangsdienste vorzubereiten.

Kriegsdienst, Militär und Heldentod fürs Vaterland sind gegenwärtig in der deutschen Gesellschaft nicht gut angesehen. Wer also die sogenannte Wehrpflicht reaktivieren will, tut gut daran, sie in eine allgemeine Dienstpflicht zu verpacken oder vermeintlich gesellschaftlich nützliche zivile Ersatzdienste in den Vordergrund zu rücken. Beim Referendum in Österreich 2013 wurde erfolgreich für die Beibehaltung des Militärdienstzwangs argumentiert, dass ohne ihn der Zivildienst wegfallen müsste.

Geschickt ist auch, als Opfer der Pflichtdienste diejenigen ins Visier zu nehmen, die sich am wenigsten an der Debatte beteiligen können: Flüchtlinge und Jugendliche. Die Zwangsrekrutierung politisch Rechtloser hat eine lange Tradition. Es ist ein alter Mythos, dass politische Mitsprache an die Bereitschaft zum Kriegsdienst gekoppelt sei. Doch gerade in Deutschland durften Männer erst ab 25 Jahren (Kaiserreich) oder ab 21 Jahren (BRD bis 1970) wählen, zwangsrekrutiert wurden sie meist mit 18 Jahren.

Die jetzigen volljährigen und wahlberechtigten Jugendlichen können davon ausgehen, dass nur nachfolgende Jahrgänge, aber nicht sie selbst im Fall einer zukünftigen Dienstpflicht betroffen sein werden. Und abgesehen davon fallen sie in einer alternden Gesellschaft numerisch immer weniger ins Gewicht. Diejenigen, die es treffen wird, sind noch zu jung, um zu ermessen, was auf sie zukommt. Vor allem haben sie kein Wahlrecht. „Dienstpflicht - Ein Angriff auf die Jugend“9 heißt es in der Zeitschrift Cicero.

Frauen und Zwangsdienste

Es zeichnet sich ab, dass Frauen in Zukunft in Deutschland von etwaigen Zwangsdiensten nicht verschont bleiben werden. Das entspricht auch der Entwicklung in anderen Staaten. Traditionell waren Frauen nur in Israel und Eritrea militärdienstpflichtig. In den letzten Jahren sind Nordkorea, Norwegen und Schweden hinzugekommen. Auch in den Niederlanden und in Tschechien sind Frauen laut Gesetz dienstpflichtig. Zur Zeit wird dort aber niemand zwangsweise einberufen, da dort der Zwangsdienst ausgesetzt ist.10

Sowohl in Finnland als auch in den USA wird die Ausweitung des Kriegsdienstzwangs auf Frauen gefordert. In Finnland ist der traditionelle Kriegsdienstzwang noch voll in Kraft. In den vergangenen Jahren wurden dort immer wieder totale Kriegsdienstverweigerer zu Freiheitsstrafen verurteilt. In den USA geht es um die Militärregistrierung, die zur Zeit nur gegen Männer angewendet wird.

Die herkömmliche Dienstpflicht nur für Männer ist inzwischen politisch einer Mehrheit der Bevölkerung nicht mehr vermittelbar. Früher ging man davon aus, dass nur Männer für Militärdienst geeignet seien, Frauen nicht. In der Beratung von Kriegsdienstverweigerern stellte ich fest, dass diese Vorstellung gesellschaftlich so stark verankert war, dass sie von den meisten betroffenen Männern bis in die 1990er Jahre als normal und unabänderlich akzeptiert wurde. Nachdem die Bundeswehr Frauen auch in Kampftruppen zugelassen hatte und offensichtlich war, dass auch Frauen Militärdienst leisten können, änderte sich die Wahrnehmung: In den Nullerjahren fragten immer mehr junge Männer, warum Frauen sich frei für oder gegen Militärdienst entscheiden können, während Männer dazu gezwungen werden. Das dürfte auch erheblich dazu beigetragen haben, dass der Kriegsdienstzwang in Deutschland immer mehr an Zustimmung verlor und 2011 ausgesetzt wurde.

Mögliche Szenarien

Auch wenn aus der SPD von Medien überwiegend über ablehnende Stimmen zu den Zwangsdienstideen Kramp-Karrenbauers berichtet wurde, sollte man hier genauer hinsehen. Auch wenn es in diesen Jahren wenig auffällt: Die SPD hat eine ideologisch tief verankerte Affinität zum Militärdienstzwang und zu Zwangsdiensten. Der Wehrbeauftragte Bartels (SPD) nannte eine allgemeine Dienstpflicht „eine sympathische Idee“, der aber das Verbot der Zwangsarbeit entgegenstehe. Er plädiert für eine „Auswahlwehrpflicht“, wie sie schon die Weizsäcker-Kommission 2000 vorgeschlagen hatte und wie sie jetzt in Schweden und Norwegen praktiziert wird. Es werden dabei keineswegs alle sogenannten Wehrpflichtigen einberufen, sondern gerade so viele, wie das Militär zu benötigen glaubt. Über Fragebögen werden die Qualifikationen und die Dienstbereitschaft der Wehrpflichtigen ermittelt. Das Militär beruft diejenigen ein, die es für geeignet hält. Just zu Beginn der sommerlichen Zwangsdienstdebatte wurde im Juni 2018 für den Bundestag ein Gutachten über die „Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden“ erstellt. Demnach ist vorgesehen, vier Prozent des Jahrgangs tatsächlich einzuberufen. Der für Kriegsdienstverweigerer rechtlich vorgesehene Ersatzdienst ist weiterhin deaktiviert.11 In Norwegen werden alle jungen Männer und Frauen der militärischen Zwangsmusterung unterzogen, aber nur ausdrücklich Militärdienstwillige einberufen: „de facto eine Freiwilligenarmee mit ‚aggressiver‘ Personalbeschaffung.“12

Dazu passt auch, dass in den kursierenden Dienstverpflichtungsmodellen meist großzügig die Wahlfreiheit zwischen verschiedenen Diensten vorgesehen ist. Denn selbst die AfD müsste wissen, dass die Bundeswehr kurz- und mittelfristig nur einen Bruchteil der Dienstpflichtigen unterbringen könnte. Da kann man bezüglich Wahlfreiheit zwischen Diensten kulant sein.

Mit der „Auswahlwehrpflicht“ wären auch die Argumente, wonach eine Reaktivierung des Kriegsdienstzwangs organisatorisch, strukturell und finanziell nicht machbar sei, hinfällig. Die Bundeswehr würde nur so viele Personen einberufen, wie sie zu benötigen glaubt und für die sie gerade die Kapazitäten hat. Sie könnte ohne jede Gesetzesänderung im Lauf der Jahre ihre Kapazitäten erweitern. Das dürfte bei zivilen Diensten noch einfacher sein, indem man die Strukturen bestehender Freiwilligendienste nutzt, z.B. den Bundesfreiwilligendienst.

Gegen dieses Modell wurde vor zwei Jahrzehnten eingewandt, dass damit die sogenannte Wehrgerechtigkeit nicht gewährleistet sei. Zur Erinnerung: Als Wehrgerechtigkeit wurde definiert, wenn alle Dienstpflichtigen Zwangsdienst leisten, als ungerecht galt, wenn beträchtliche Teile eines Jahrgangs dem Zwang entgehen konnten. Dass nur Männer betroffen waren, Frauen nicht, spielte in dieser Debatte noch keine Rolle. Da inzwischen die im wilheminischen Kaiserreich, von den Nazis und in der alten Bundesrepublik propagierte Auffassung, dass jeder gedient haben müsse, ideologisch längst nicht mehr so verankert ist und inzwischen eine Generation die Erfahrung gemacht hat, dass es keineswegs normal ist, dass fast alle dienen müssen, dürfte die sogenannte Auswahlwehrpflicht nicht am „Wehrgerechtigkeits“argument scheitern, wenn sie von Staat und Militär mit wenig Repression praktiziert wird. In englischsprachigen Staaten war es lange Zeit vollkommen normal, dass nicht alle Dienstpflichtigen auch tatsächlich einberufen wurden. Der Dienst hatte deshalb sogar den Namen „Selective Service“. Und auch im militärdienstvergötternden wilheminischen Deutschland wurde in den ersten beiden Jahrzehnten nur ein Teil der potenziellen Rekruten tatsächlich einberufen, bis in den beiden Jahrzehnten vor dem Ersten Weltkrieg die Einberufungszahlen immer mehr gesteigert wurden.13

Ein kontroverser Punkt könnte bei diesem Modell entstehen, wenn die Bundeswehr so unklug wäre, wie in Norwegen im Rahmen der „aggressiven Personalbeschaffung“ Hunderttausende zwangsweise zu mustern, um dann nur einen kleinen Teil einzuberufen, was in den Nullerjahren aus der SPD auch vorgeschlagen worden war. Das könnte die früher auch von Kriegsdienstverweigerungsorganisationen weitgehend ignorierte und verdrängte Musterung zu einem Politikum machen und zu massenhafter Musterungsverweigerung führen.

Zwangsarbeitsverbot und allgemeine Dienstpflicht

Wie schon einige, die sich für eine Dienstpflicht begeistern, zu ihrem Bedauern festgestellt haben, steht der Einführung einer Dienstpflicht das Verbot der Zwangsarbeit entgegen.

In Artikel 4 GG heißt es: „(2) Niemand darf zu einer bestimmten Arbeit gezwungen werden, außer im Rahmen einer herkömmlichen allgemeinen, für alle gleichen öffentlichen Dienstleistungspflicht. (3) Zwangsarbeit ist nur bei einer gerichtlich angeordneten Freiheitsentziehung zulässig.“

Militärdienst ist eine herkömmliche Dienstleistungspflicht, ebenso ein Militärersatzdienst, allerdings nicht ein Arbeitsdienst ohne Bezug zum Militärdienstzwang.

Einige Zwangsarbeitsbefürworter würden das gerne ändern: Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung) schlägt vor, einfach das Wort „herkömmlich“ aus dem Grundgesetz zu streichen. CDU-MdB Otte meint: „Juristisch sehe ich hier noch grundgesetzliche Hürden, die beseitigt werden müssten. Aber dieses Thema ist die Prüfung wert.“14

Prantl und Otte setzen sich dabei allerdings über das Internationale Recht hinweg. Die Menschenrechtskonventionen sowohl des Europarats als auch der Vereinten Nationen verbieten gleichermaßen Sklaverei und Zwangsarbeit. Eine Ausnahme sind Militärdienst und Militärersatzdienst. Selbst wenn es gelingen sollte, das Zwangsarbeitsverbot aus dem Grundgesetz zu streichen, würde weiterhin das völkerrechtliche Zwangsarbeitsverbot gelten. Allerdings ist zu bedenken, dass Staaten, wenn es um Krieg, Militär und Zwangsdienste geht, sich häufig ungestraft über nationale und internationale Rechtsvorschriften hinwegsetzen, und das die bundesdeutsche Gesellschaft in diesem Bereich zumindest bisher Dinge als selbstverständlich hingenommen hat, die in anderen Lebensbereichen als vollkommen unerträglich skandalisiert werden würden.

Liberales versus totalitär-kollektivistisches Denken

Bei der Frage der Zwangsdienste prallen zwei Ideologien und politische Kulturen aufeinander. Wenn ein Mensch zu Kriegsdiensten zwangsrekrutiert werden soll, entsteht gewöhnlich aufgrund der damit verbundenen Freiheitseinschränkung und der Gefährdung von Leib und Leben ein akuter Interessenskonflikt. Von daher ist es naheliegend, die lebensgefährliche Freiheitsberaubung mit dem Verweis auf das Recht auf Leben und Selbstbestimmung abzulehnen. Das war auch der Standpunkt der im Englischen Bürgerkrieg 1642-1648 entstandenen frühliberalen Bewegung der Levellers, die sich darum bemühten, Menschen- und Bürgerrechte konstitutionell zu verankern. Sie bestritten dem Parlament, wie sie einer Petition von 1648 formulierten, die „power of pressing and forcing any sort of men to serve in warrs, there being nothing more opposite to freedom“15 - „die Macht, irgendeinen Menschen zu pressen und zu zwingen, in Kriegen zu dienen, wobei es nichts gibt, was der Freiheit mehr entgegengesetzt ist.“

Artikel 11 ihres Verfassungsentwurfs An Agreement of the Free People of England von 1649 sah vor, dass der Staat niemanden zu Kriegsdienst zu Wasser oder zu Land zwingen dürfe, das Gewissen jedes Einzelnen sollte über die Gerechtigkeit der Sache, für die er sein eigenes Leben riskiert oder andere zerstören könnte, entscheiden.16 Der Kriegsdienstzwang wurde in erster Linie als massive Freiheitseinschränkung verstanden. Im Mittelpunkt steht die freie Entscheidung jedes Einzelnen, wofür er sein Leben riskiert oder andere tötet. Die Verfassungsentwürfe der Levellers wurden nicht verwirklicht, leben aber in der politischen Kultur der angelsächsischen Länder fort. Das Bewusstsein, dass der Kriegsdienstzwang einen schweren Eingriff in die Freiheit des Individuums darstellt, ist dort lebendig geblieben. Menschen werden zu Kriegsdiensten gezwungen, wenn es für notwendig gehalten wird. Der Zwangsdienst gilt in der Regel nicht als positiver Wert an sich. Im Hintergrund steht der Gedanke, dass der Staat seine Ansprüche an das Individuum rechtfertigen muss. Der Kriegsdienstzwang wird in Kriegs- oder Ausnahmesituationen eingeführt und später wieder abgeschafft oder minimiert.

In Kontinentaleuropa galt in der Tradition der Französischen Revolution über die ideologischen Grenzen von ganz rechts bis ganz links Zwangsmilitärdienst als Pflicht des Staatsbürgers, selbst dann, wenn es militärisch nicht erforderlich ist. Das Militär ist Schule der Nation, das Individuum schuldet dem Staat oder der Gemeinschaft einen Dienst und soll in einer bestimmten Weise sozialisiert werden. Diese staatsvergötternde totalitäre Dienstideologie gibt es in der älteren militärischen und in der jüngeren zivilen Variante. In der zivilen Variante wird zwar der Militärdienst kritisch gesehen oder gar ablehnt, aber nicht der Zwang zum Dienst. Zivile Zwangsdienste erscheinen in diesem Weltbild als etwas Nützliches und Erstrebenswertes. Der Zivildienst wird zur zweiten Schule der Nation.17

Die deutsche politische Kultur war bis in die 1990er Jahre von der etatistischen und kollektivistischen Dienstideologie geprägt. In den ersten Jahren des 21. Jahrhunderts wurde das Klima liberaler. Heute stellen Grüne, FDP und Linkspartei und auch Teile der SPD in ihren öffentlichen Äußerungen zum Thema Zwangsdienste den Respekt vor den Menschenrechten des Individuums in den Vordergrund. In CDU, CSU, Teilen der SPD und ganz massiv in der AfD ist die herkömmliche totalitäre Dienstideologie weiterhin lebendig.

Militarismus von Links

Im Sommer 2018 wurde nicht nur von rechter Seite nach der „Wehrpflicht“ gerufen. „Zu den Waffen, Genossen – Die allgemeine Wehrpflicht sollte wieder eingeführt werden“ forderte Lena Rackwitz in der Wochenzeitung Jungle World, die gewöhnlich als links eingestuft wird.18 Rackwitz sieht in der Bundeswehr eine sich faschisierende Berufsarmee, in der die Zahl der Nationalrevolutionäre, Nationalkonservativen und Islamisten steige. Um dem entgegenzuwirken, sollen möglichst viele Linke ins Militär, die dort auch, in der Tradition der von marxistischer Seite im Lauf der Geschichte erhobenen Forderung nach Volksbewaffnung auch das Waffenhandwerk erlernen sollen. Der Militärdienstzwang soll die Linken und dem Militär nicht zugeneigte Menschen in die Bundeswehr bringen.

Diese Position gehört in die politische Tradition des marxistischen Antimilitarismus wie er namentlich von Karl Liebknecht vertreten wurde, der Militarismus als Instrument der kapitalistischen Klassenherrschaft und der imperialistischen Kriegspolitik sah.19 Für das eigene sozialistische Lager forderte er „Erziehung zur allgemeinen Wehrhaftigkeit. Volkswehr an Stelle der stehenden Heere.“20 Der Anarchist Ferdinand Domela Nieuwenhuis charakterisierte diesen sozialdemokratischen Antimilitarismus: „Die Sozialdemokraten wollen den Militarismus nicht an der Wurzel treffen; sie wollen bloß ein Volksheer (…). Sie wollen nur eine Form-, keine Wesensänderung. Was die Sozialdemokraten Antimilitarismus nennen, sind in Wahrheit Reformen im Heere … Sie greifen den Militarismus nicht als Institution an.“21

Kerngedanke der marxistischen Forderung nach Zwangsrekrutierung ist, dass damit das Militär nicht reaktionären Berufssoldaten überlassen werde, sondern vom Volk und der Linken so beeinflusst werden könne, dass Putsche oder Angriffskriege oder Kriegsverbrechen verhindert werden. Diese Hypothesen sind von der Realität vielfach widerlegt, werden aber umso inbrünstiger geglaubt. Gerade die Massenheere und Massenkriege des 19. und 20. Jahrhunderts waren ohne Kriegsdienstzwang unmöglich. Typisch für die Militärputsche der letzten Jahrzehnte ist, dass sie meist von Armeen mit Kriegsdienstzwang verübt wurden, wie in der Türkei, Griechenland, Argentinien, Chile, Brasilien und Thailand. Die Putschneigung hängt vor allem vom Selbstverständnis des Militärs ab: Wenn die Armee politisiert ist und sich für den wahren Hüter der Nation und gleichzeitig die totalitäre Schule der Nation hält, dann hält sie es für ihr Recht zu putschen, wenn sie mit der zivilen Regierung unzufrieden ist. Gleichzeitig militarisiert sie über den Kriegsdienstzwang die Gesellschaft, so dass sie Beifall erhält, wenn die angesehene Armee die vermeintlich unfähigen zivilen Politiker*innen wegputscht. Die Putschisten verfügen dank militärischer Massenindoktrination über das gehorsame Menschenmaterial, das sie für ihre Putsche einsetzen können.

In Staaten mit starker Berufsarmee-Tradition in dem Sinn, dass sich die Soldaten als Militär- und Kriegsprofis empfinden, aber keine Ambitionen haben, die Regierung zu übernehmen oder Zivilisten grundsätzlich zwangsweise zu rekrutieren, kommen Militärputsche nicht vor: z.B. USA, Großbritannien, Irland, Kanada, Australien, Neuseeland, Indien. Der letzte Militärputsch in Großbritannien geschah unter Oliver Cromwell, durch eine politisierte Bürgerkriegsarmee.

Gerade Militaristen und Faschisten fordern vehement die Zwangsrekrutierung, um eine möglichst enge Verzahnung von Militär und Gesellschaft zu erreichen. In der Türkei gibt es sogar einen Strafrechtsartikel, der die „Entfremdung des Volkes vom Militär“ bestraft.

Dass – wie in der Jungle World geschehen - eine linke Befürwortung des Militärdienstzwangs schriftlich formuliert und veröffentlicht wurde, ist selten. Solche Ansichten sind in der sozialdemokratischen und leninistischen Linken zwar weit verbreitet, sie werden in der Regel aber nur mündlich geäußert, im privaten Gespräch oder bei Vorbereitungstreffen für Ostermärsche oder für Aktionen zum Antikriegstag, meist in dem Moment, in dem vorgeschlagen wird, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung und vor allem die Abschaffung des Kriegsdienstzwangs in einen Aufruf aufzunehmen.

Schon Liebknecht hatte die Kriegsdienstverweigerung als „utopische Position“ abgelehnt. Die Strategie, antifaschistische und militärkritische Personen in nennenswerter Zahl in die Bundeswehr zu bringen, könnte nur funktionieren, wenn das Recht auf Kriegsdienstverweigerung abgeschafft würde. Denn sonst landen in der Bundeswehr vorwiegend Leute, die naiv, militaristisch, rechtsgerichtet oder zu gleichgültig oder zu träge oder unfähig zum Verweigern sind. Was Rackwitz und Gleichgesinnte nicht thematisieren, sind die mit der von ihnen propagierten Zwangsrekrutierung einhergehenden Menschenrechtsverletzungen: entwürdigende Zwangsmusterungen, Gewissensprüfungen, millionenfache massive Freiheitsberaubung durch Zwangsdienste und Gefängnisstrafen, Schikanen und letztendlich auch Misshandlungen und Tod. Im Vergleich zum Militarismus von Rackwitz sind selbst die Konzepte von AfD und CDU noch gemäßigt, indem sie zumindest in Lippenbekenntnissen das Recht auf „Wehrdienstverweigerung aus Gewissensgründen“ beinhalten,

Friedensbewegung und Zwangsrekrutierung

Abgesehen von einigen wenigen Organisationen wie der DFG-VK, IDK und den spezifisch zu Totalverweigerung und Zivildienst arbeitenden Gruppen waren und sind Kriegsdienstzwang und Kriegsdienstverweigerung in der Friedensbewegung insgesamt kaum ein Thema. In größeren Bündnissen war und ist es fast unmöglich, die Forderung nach Abschaffung der Zwangsrekrutierung unterzubringen.22 Diejenigen, die in der Tradition des schon erwähnten Liebknecht‘schen Antimilitarismus stehen, blockierten und blockieren solche Vorstöße. Auch kirchliche Kreise in der Friedensbewegung hielten lange mehrheitlich an der Zwangsrekrutierung fest, weil die Kirche vom Zivildienst profitierte, ihn als Friedensdienst einschätzte und den Zwangscharakter bestritt. Erst in den Nullerjahren entwickelten auch im christlich-kirchlichen Spektrum allmählich mehr Menschen Kritik am Zwangsdienstsystem. Von vielen Friedensbewegten wurde Kriegsdienstverweigerung als ein privates Problem der direkt davon Betroffenen empfunden, aber kaum als ernsthaftes politisches Thema eingeschätzt. Kriegsdienstverweigerung sei ein unpolitisches Thema, hörte ich beim Vorbereitungstreffen für eine Friedensdemonstration von einem antiimperialistisch-marxistisch-leninistisch gesinnten Friedensaktivisten.

Schon seit den 1990er Jahren verbreitete sich in der Friedensbewegung und auch in der DFG-VK die Auffassung, dass es sich kaum noch lohne, sich mit der sogenannten Wehrpflicht auseinanderzusetzen, weil sie ohnehin bald abgeschafft werden würde. Viele in der Friedensbewegung hielten das Thema Kriegsdienstverweigerung für ein Thema der Vergangenheit, gerade noch relevant für die Solidaritätsarbeit für Kriegsdienstverweiger*innen in anderen Ländern und für verweigernde Berufssoldat*innen in Deutschland.

Die Aussetzung des Kriegsdienstzwangs 2011 wurde nicht als Erfolg wahrgenommen. In Mainz und Berlin gab es kleine Feiern aus diesem Anlass,23 ansonsten ignorierte man das Ereignis oder kommentierte es abfällig.

Seitdem haben sich sowohl die potenziell betroffenen jungen Menschen als auch die Friedensbewegung sehr sicher gefühlt, dass der Kriegsdienstzwang für sie keine Rolle mehr spielen würde. Sachkenntnis und Problembewusstsein begannen schnell zu verschwinden. Friedensorganisationen haben ihre frühere Kompetenz in der Kriegsdienstverweigerungsberatung weitgehend verloren. Auf die Debatte um die Wiederaufnahme der Zwangsrekrutierung ist die Friedensbewegung schlecht vorbereitet.

Dass sich einzelne Stimmen aus Spektren der Friedensbewegung, die sich traditionell nicht gegen Zwangsrekrutierung ausgesprochen haben, in letzter Zeit kritisch zur Reaktivierung des Kriegsdienstzwangs geäußert haben, lässt hoffen.24 Die Linkspartei lehnt Zwangsdienste in ihren öffentlichen Stellungnahmen ab, allerdings lebt der oben erwähnte traditionelle marxistische Glaube an die positiven Auswirkungen des Militärdienstzwangs an der Basis weiter, erstaunlicherweise auch bei jüngeren Parteimitgliedern.

Die Friedensbewegung wendet sich einhellig gegen die Aufrüstung. Doch dass auch die Wiederaufnahme von Zwangsrekrutierung ein Teil dieser Aufrüstung ist, wird bislang so gut wie nicht thematisiert.

Kriegsdienstverweigerung: Menschenrecht oder Ausnahmerecht?

Die Friedensbewegung ist mehrheitlich noch immer dem staatlich-kirchlichen Modell der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen verhaftet. Dabei wird das Recht auf Kriegsdienstverweigerung von der Gewissensfreiheit abgeleitet und an das Vorhandensein von Gewissensgründen gebunden. Damit ist die Verweigerung rein konzeptionell nur eine Ausnahme von der Regel, de facto eine Untauglichkeit aus Gewissensgründen, die nicht bei der Musterung, sondern mittels Gewissensprüfung festgestellt wird. Gewissensprüfung und Ersatzdienstpflicht sind integrale Bestandteile dieses Konzepts. Zwangsrekrutierung an sich wird nicht in Frage gestellt.

Eine konsequente Ablehnung von Zwangsdiensten ergibt sich, wenn man jenseits des von Staaten vorgegebenen Rechts das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung vertritt, abgeleitet von den Rechten auf Freiheit, körperliche Unversehrtheit und Leben. Demnach kann jeder Mensch den Kriegsdienst verweigern, unabhängig von seiner Motivation und seinen Persönlichkeitsmerkmalen, einfach weil er es will, und nicht weil eine Gewissensprüfungskommission ihm attestiert, dass er aus Gewissensgründen keinen Militärdienst leisten könne.25

Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen muss notwendigerweise ein Ausnahmerecht für Menschen mit einer bestimmten Motivation oder einem bestimmten Persönlichkeitsbild bleiben. Damit wird garantiert, dass es immer Menschen geben wird, die mangels nachweisbarer Gewissensentscheidung und mangels der erwünschten Persönlichkeitsmerkmale zum Militär gezwungen werden können. Eine solche Personalbestandsgarantie fürs Militär kann aus pazifistischer Perspektive nicht erstrebenswert sein. Wer die Abschaffung von Krieg und Militär als Ziel hat, kann nicht wollen, dass auch nur eine einzige Person, egal wie gewissensmotiviert oder gewissenlos sie ist, Militärdienst leistet. Friedensbewegte, die einen Zwangsdienst für gute Zwecke befürworten, sollten bedenken, dass auch Menschenrechtsverletzungen wie Gewissensprüfungen und Zwangsrekrutierungen höchst unfriedliche Gewaltakte sind und mit Friedenswillen eigentlich unvereinbar sein sollten.

Gegen Ausbeutung und Abwertung von Arbeit

Angesichts der Forderung nach Zwangsdiensten ist zu fragen, warum irgendein Mensch für seine Arbeit nicht adäquat bezahlt werden soll. Eigentlich müssten Gewerkschaften allein bei diesem Gedanken schon seit Jahrzehnten – bildlich gesprochen - auf die Barrikaden gehen. Doch wenn es um Militärdienstzwang und zivile Zwangsdienste geht, gelten im gesellschaftlichen Bewusstsein die üblichen Standards nicht mehr.

Warum sollen ausgerechnet Jugendliche und Flüchtlinge fast unbezahlt und in Unfreiheit arbeiten? Möglicherweise sogar Flüchtlinge, die gerade wegen Zwangsrekrutierung geflohen sind? Und das in einer Zeit, in der die Schere zwischen Arm und Reich immer mehr auseinander geht und gerade Jugendliche mit unbezahlten Praktika, befristeten Stellen und prekären Arbeitsplätzen konfrontiert werden.

Gerade der soziale und der Pflege-Bereich werden gerne als Einsatzfelder für einen Pflichtdienst genannt, unter anderem wegen des Personalmangels. Doch der Personalmangel ist vor allem ein Resultat der miserablen Bezahlung dieser wichtigen Arbeit. Der Einsatz von billigen Zwangsdienstleistenden würde diese Arbeitsplätze erstens gefährden, zweitens würde die Billig-Konkurrenz das Lohnniveau der Angestellten weiter sinken lassen. Ihnen würde in den sozialen und Pflege-Berufen signalisiert werden, dass ihre Arbeit nicht viel wert ist. Der vermeintlich so soziale Zwangsdienst erweist sich dann als zutiefst antisozial.

Auch Menschen, die damit rechnen müssen, selbst einmal gepflegt werden zu müssen, muss daran gelegen sein, dass sie von gut qualifizierten und gut bezahlten professionell arbeitenden Menschen versorgt werden und nicht von ungelernten Zwangsdienstleistenden. Auch hier würde ein Zwangsdienst die Botschaft vermitteln, dass die Pflegearbeit und die zu Pflegenden dem Staat wenig wert sind.

Auf Ablehnung stößt die Dienstpflicht bei sachkundigen Menschen aus Wohlfahrtsverbänden. Zum Beispiel meint Ulrich Schneider, Präsident des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, dass junge Menschen nicht fehlendes hauptamtliches Personal, zum Beispiel im Pflegebereich, ersetzen können. Er wünscht sich mehr Freiwillige im Bundesfreiwilligendienst, „allerdings geht das nicht mit Zwang.“26 Stimmen für Zwangsdienstjahr gibt es auch im sozialen Bereich, was angesichts der anderthalb Jahrhunderte alten Prägung der politischen Kultur Deutschlands durch die Zwangsdienstideologie nicht überrascht. „Manchmal muss man die Menschen auch zu ihrem Glück zwingen,“ meint Eva-Maria Matzke vom Diakoniewerk München.27

Die Zwangsdienstideologie beruht auf der Vorstellung, dass das Individuum dem Staat etwas schulde. Aus liberaler Sicht sind Institutionen für Menschen gemacht und nicht umgekehrt. Hier prallen wie oben schon geschildert eine liberale und demokratische am Individuum und Menschenrechten orientierte Weltanschauung und eine kollektivistische und autoritäre politische Ideologie aufeinander, mit jeweils unterschiedlichen Menschenbildern. Dass von den Zwangsdienstbefürwortern Individualismus geschmäht und gerne mit dem Etikett Egoismus versehen wird, ist erschreckend, gerade vor dem Hintergrund des weltweiten Anwachsens autoritärer Bewegungen. Probleme wie Krieg, Faschismus und Rassismus gehen allerdings nicht von individualistisch oder egoistisch gesinnten Menschen aus: Es sind die kollektivistischen autoritätshörigen Befehlsempfänger*innen, die Kriege führen und gewaltsam gegen Andersdenkende oder anders Aussehende vorgehen. Zwang wirkt auf verschiedene Menschen unterschiedlich. Bei einigen erzeugt er Aversionen und Widerstand. Andere identifizieren sich autoritätshörig mit ihrer entmündigenden Unterdrückung und übernehmen die ihnen aufoktroyierte Denkweise. Für eine Gesellschaft, in der freiheitliche, tolerante und soziale Menschen miteinander leben sollen, ist Zwang jedenfalls kontraproduktiv.

Gerade beim Begriff Egoismus fällt auf, dass diejenigen, die ihn gerne als Vorwurf gegen andere schleudern, selbst ihre eigene Ideologie und ihre eigenen Machtinteressen gegen andere durchsetzen wollen. Selbst wenn sie sich für ihren Glauben oder ihre Ideologie stark engagieren unter Inkaufnahme sogenannter persönlicher Nachteile, machen sie es, weil sie selbst es so wollen und sich dabei wohlfühlen, also aus letztendlich egoistischen Motiven, die es nicht rechtfertigen, sich über andere zu erheben und ihnen den „Egoismus“ austreiben zu wollen.

Fußnoten

1 Warum sogenannte Wehrpflicht? Wehrpflicht und Wehrdienst und davon abgeleitete Begriffe suggerieren bezüglich des zwischenstaatlichen Verhältnisses, dass das Militär der Verteidigung diene. Allerdings haben sogenannte Wehrdienstleistende schon viele Angriffskriege geführt. Das gilt gerade für Deutschland. Im Spannungsverhältnis zwischen Individuum und Staat ist der Begriff ebenfalls abwegig. Wehrdienst leisten gerade diejenigen, denen es nicht gelingt, sich erfolgreich gegen die Rekrutierung zum Militär zu wehren. Deshalb verwende ich diese sachlich unzutreffenden und realitätsverschleiernden Propagandabegriffe nicht.

2 Im ARD-Sommerinterview, 26.8.2018 https://www.tagesschau.de/inland/merkel-sommerinterview-119.html. Diese und alle nachfolgend genannten Internetlinks funktionierten am 25.8.2018

3 Ebd.

4 Jan Korte (MdB) Zwangsdienste sind mit einer demokratischen Gesellschaft nicht vereinbar. 15.8.2018 https://www.linksfraktion.de/themen/nachrichten/detail/zwangsdienste-sind-mit-einer-demokratischen-gesellschaft-nicht-vereinbar/

5 Henning Otte (MdB CDU) zitiert nach Spiegel Online. http://www.spiegel.de/politik/deutschland/wehrpflicht-debatte-politiker-kritisieren-cdu-vorstoss-a-1221677.html

6 Video vom 7. August 2018, 05:20: https://www.sueddeutsche.de/politik/wehrpflicht-debatte-deutschland-braucht-ein-pflichtjahr-fuer-alle-1.4084156

7 Annegret Kramp-Karrenbauer zitiert nach: Integration : Kramp-Karrenbauer erwägt Pflichtdienst für Flüchtlinge. http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/integration-kramp-karrenbauer-erwaegt-pflichtdienst-fuer-fluechtlinge-15754958.html, aktualisiert 25.8.2018

8 Zu Zorn: Interview: Wehrpflicht? Nein danke, in Die Zeit 23.8.2018 S. 7; zu Volker Rühe: Interview: Einführung einer Dienstpflicht: „Mit Sicherheit wird es keine Wehrpflicht geben in: Deutschlandfunk, 6.8.2018 https://www.deutschlandfunk.de/einfuehrung-einer-dienstpflicht-mit-sicherheit-wird-es.694.de.html?dram:article_id=424753

9 Constantin Wissmann: Dienstpflicht - Ein Angriff auf die Jugend. 6.8.2018. https://www.cicero.de/innenpolitik/annegret-kramp-karrenbauer-dienstpflicht-wehrpflicht-bundeswehr-pflege-jugend-rente

10 Ausnahme: Curaçao.

11 Wissenschaftliche Dienste Bundestag: Zur Wiedereinführung der Wehrpflicht in Schweden. 13.6.2018 https://www.bundestag.de/blob/564266/fad30779df491947ff3f18c44d316f59/wd-2-076-18-pdf-data.pdf, S. 7 und 9.

12 André Anwar: Norwegens Frauen müssen in die Kasernen einrücken. In: Die Presse https://diepresse.com/home/ausland/aussenpolitik/5062649/Norwegens-Frauen-muessen-in-die-Kasernen-einruecken?_vl_backlink=/home/index.do. 3.8.2016

13 Ute Frevert: Schule der Gewalt. In: ZEIT Geschichte, Nr. 4/2018. Die Deutschen und ihre Soldaten S. 15-20, S. 17.

14 Allgemeine Dienstpflicht „Freiheitseingriff“ oder „Bekenntnis zu unserem Land“? Die Welt, https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/allgemeine-dienstpflicht-verfassungsmaessigkeit-freiheit-eingriff-rechtfertigung/, 6.8.2018

15 Petition vom 11.9.1648, in: Leveller Manifestoes of the Puritan Revolution. (Don M. Wolfe Hg.) New York u.a. 1944 S. 287, und in: Freedom in Arms. A Selection of Leveller Writings. (A. L. Morton Hg.) Ost-Berlin 1975, S. 190.

16 „XI. We doe not impower them to impresse or constraint any person to serve in war by Sea or Land every mans Concience being to be satisfied in the justness of that cause wherein he hazards his own life, or may destroy an others.“ Freedom in Arms S. 271f.; zu den Levellers: Gernot Lennert: Die Diggers. Grafenau 1987 S. 17-23, besonders S. 127f.

17 Zu den verschiedenen Modellen der Zwangsrekrutierung: Gernot Lennert: Rekrutierung im Krieg im Spannungsverhältnis staatlichen Anspruchs und individueller Selbstbestimmung. In: Kriegsdienstverweigerung und Asyl in Europa. (hg. von Connection e.V., Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V., Förderverein Pro Asyl e.V. u.a.) Offenbach 1998 S. 4-7; auch als: Recruitment in times of war. A conflict of interest between the demands of the state and individual self-determination. In: Conscientious Objection and Asylum in Europe. (hg. von Connection e.V., Niedersächsischer Flüchtlingsrat e.V., Förderverein Pro Asyl e.V. u.a.) Offenbach 1998 S. 4-7.

18 Lena Rackwitz: Zu den Waffen, Genossen – Die allgemeine Wehrpflicht sollte wieder eingeführt werden. Jungle World 14.6.2018, https://jungle.world/artikel/2018/24/zu-den-waffen-genossen. Ebenfalls dokumentiert in Zivilcourage Nr. 4/2018 S. 5f, zusammen mit zwei Entgegnungen. Die Entgegnung von Bernd Drücke wurde in der Jungle World nur stark gekürzt abgedruckt, der Leserbrief von Gernot Lennert überhaupt nicht. Inwieweit die politische Strömung der sogenannten Antideutschen, der die Jungle World zuzurechnen ist, noch als links gelten kann, ist umstritten. Der besagte Artikel steht jedenfalls exemplarisch für eine in der marxistischen Linken typische und weit verbreitete Position.

19 Mehr dazu: Gernot Lennert: Strömungen des Pazifismus und Antimilitarismus. Beitrag zum Symposium Zukunft des politischen Pazifismus, Frankfurt 28.1.2017, www.dfg-vk-hessen.de/fileadmin/Dokumente/Hessen/Bildungswerk/2017/Symp/stroezcfn.pdf

20 Die Kontroverse zwischen Domela Nieuwenhuis und Karl Liebknecht. In: Sozialgeschichte des Antimilitarismus. Sonderheft. Graswurzelrevolution Nr. 117/118 (1988), S. 18f

21 Ebd.

22 Eine Ausnahme sind die Aufrufe zum Mainz-Wiesbadener Ostermarsch (Aufrufe von 2004 bis 2018: www.dfg-vk-mainz.de.

23 www.dfg-vk-mainz.de/aktuell/wir-feiern-die-freiheit/

24 Beispiele: Die VVN-BdA Frankfurt hat sich in Flugblättern deutlich gegen Kriegsdienstzwang ausgesprochen. Ein deutliches Plädoyer in der Online-Zeitschrift Rubikon: Roland Rottenfußer: Finger weg von unseren Kindern! Ein Comeback der Wehrpflicht hätte fatale Folgen. https://www.rubikon.news/artikel/finger-weg-von-unseren-kindern, 22.8.2018

25 Ausführlicher zum Unterschied zwischen dem Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung und dem Recht auf Verweigerung aus Gewissensgründen: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung: Ein Widerspruch. In: Wolfram Beyer (Hg.): Kriegsdienste verweigern – Pazifismus aktuell. Libertäre und humanistische Positionen. Oppo-Verlag, Berlin 2007 S. 26-55, aktualisiert in der zweiten Auflage 2011, S. 50-79; ebenfalls erschienen in Forum Pazifismus Nr. 15, 3. Quartal 2007 S. 3-15 (unter dem Titel: Ein gravierender Widerspruch: Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen und Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung); Gernot Lennert: Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht. In: Menschenrechte und Pazifismus. (Wolfram Beyer Hg.) IDK, Berlin 2016, S. 24-29

26 Wehrpflicht, Dienstpflicht: Bereitschaft ja, Zwang nein - Reaktionen auf Pflichtjahr-Vorschlag https://www.br.de/nachricht/bereitschaft-ja-zwang-nein-reaktionen-auf-pflichtjahr-vorschlag-100.html

27 Ebd.

Gernot Lennert: Wiederkehr der Zwangsdienstes? 1. September 2018. Gernot Lennert ist Landesgeschäftsführer der Deutschen Friedensgesellschaft –Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK) Hessen. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2018

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