Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Junge Syrer fliehen aus Regimegebieten in die Türkei

von Sultan al-Kanj

(11.05.2021) Dutzende junger Männer aus den von der syrischen Regierung und den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF)1 kontrollierten Gebieten flüchten täglich auf Schmuggelrouten in die von der syrischen Opposition kontrollierten Gebiete, um die Türkei und schließlich Europa zu erreichen, damit sie der Einberufung in die syrische Armee entgehen.

Die verheerenden wirtschaftlichen Bedingungen und die steigenden Arbeitslosenzahlen in den von der syrischen Regierung kontrollierten Gebieten treiben viele junge Männer über die von der Opposition gehaltenen Gebiete im nördlichen Umland von Aleppo und die von Hayat Tahrir al-Sham kontrollierten Gebiete in Idlib in Richtung Türkei.

Diese jungen Männer sind auf ihrer Route zwischen den von der Regierung kontrollierten Städten verschiedenen Gefahren ausgesetzt. Die meisten von ihnen werden gesucht, weil sie der Wehrpflicht in der syrischen Regierungsarmee nicht nachgekommen sind. Um der Einberufung oder Verhaftung zu entgehen, begeben sie sich in die von der Opposition kontrollierten Gebiete, insbesondere in die, die von den mit der Türkei verbündeten Fraktionen der Freien Syrischen Armee (FSA) gehalten werden. Sie überqueren Schmuggelrouten zwischen den Regierungsgebieten und den FSA-Gebieten bzw. zwischen den von den Demokratischen Kräften Syriens gehaltenen Gebieten und den FSA-Gebieten.

Mohannad Darwish, ein Journalist, der sich derzeit in Idlib aufhält, sagte gegenüber Al-Monitor: "Mehrere Gründe treiben diese jungen Männer dazu, diese gefährliche Reise anzutreten. Der erste ist die miserable wirtschaftliche Situation im syrischen Regimegebiet. Der Einsatz von Milizen [die mit dem Regime verbunden sind], die Ausbreitung von Korruption und die Verschwendung staatlicher Ressourcen haben zu einer unerträglichen wirtschaftlichen Situation geführt.2 Das syrische Pfund ist abgestürzt und das Pro-Kopf-Einkommen liegt bei fast null. Das hat viele, auch die dem Regime nahestehenden Menschen, dazu getrieben auf der Suche nach besseren Lebensbedingungen zu fliehen."

Darwish fügte hinzu: "Der zweite Grund ist die Angst der Jugend, eingezogen zu werden. Die Armee des Regimes ist zu einem wahren Friedhof für die syrische Jugend geworden. Die Armeekräfte führen Razzien und Zwangsrekrutierungen für einen Militärdienst durch, der bis zu 10 Jahre dauern kann. Viele junge Syrer enden als Gefallene oder verlassen die Armee nach 10 Jahren, ohne eine andere Arbeit zu finden. Ganz zu schweigen von dem schlechten psychischen Zustand, unter dem sie aufgrund ihrer Erfahrungen leiden. All dies sind ausreichend Gründe für jeden jungen Mann, darüber nachzudenken, sich dem Militärdienst zu entziehen, selbst für alawitische junge Männer, die für ihre Loyalität gegenüber dem Regime bekannt sind. Zahlreiche [junge alawitische Männer] starben infolge der zwangsweise und unterdrückerisch durchgeführten Rekrutierung der Regimebehörden."

Der dritte Grund, sagte er, sei politisch: "Die Regimegebiete bieten keine Form der intellektuellen oder politischen Freiheit. Viele junge Männer fürchten, wegen ihrer politischen Position oder Meinung verhaftet zu werden. Manchmal werden Mitglieder der Miliz, die mit dem Regime verbunden sind, Anschuldigungen erfinden, um Zivilisten zu verhaften."

Darwish fuhr fort: "Die Gefahren auf dieser Reise aus den vom Regime kontrollierten Gebieten in die von der Opposition kontrollierten Gebiete sind enorm. Militärdienstentzieher könnten am Ende getötet oder verhaftet werden. Dem ersten Risiko unterliegen sie bei der Durchquerung der vom Regime kontrollierten Gebiete. Die Idee, diese Gebiete zu verlassen, insbesondere wenn es in die Gebiete der syrischen Opposition geht, wird von den Sicherheitskräften des Regimes als Verbrechen angesehen. Während sie sich innerhalb der Regimegebiete von einer Provinz in die andere bewegen, könnten Militärdienstentzieher Beschimpfungen ausgesetzt sein, ihres Besitzes beraubt werden oder an den Kontrollstellen von den Sicherheitskräften sogar erpresst werden. Die gefährlichste Etappe ist aber die Überquerung der Konfrontationslinien zur Opposition hin. Landminen haben schon Hunderte getötet.3 Hinzu kommt, dass Schmuggler von beiden Seiten diese Flüchtenden ausrauben könnten. Gefährlich ist auch die Überquerung der syrisch-türkischen Grenze."

Der aus Aleppo stammende 20-jährige Khaled Ismail hält sich derzeit in den Grenzgebieten zwischen der nördlichen Region von Idlib und der türkischen Grenze auf. Er erklärte gegenüber Al-Monitor: "Ich arbeitete in einer Bäckerei in Aleppo, um meinem Vater zu helfen, unsere Familie zu versorgen. Aber ich lebte in ständiger Angst, zum Militärdienst einberufen zu werden. Ich habe es geschafft, der Einberufung für fast zwei Jahre zu entgehen. Die Streitkräfte des Regimes schickten Einberufungen an meine Familie, aber ich wollte aus mehreren Gründen nicht in der Reserve dienen. Die Wehrpflicht könnte sich über mehrere Jahre hinziehen, und ich würde mich an den Fronten vielen lebensgefährlichen Risiken aussetzen."

Khaled ergänzte: "Ich dachte darüber nach, zu fliehen, und mein Vater ermutigte mich, dies zu tun und mich meinen Geschwistern anzuschließen, die seit 2016 in Deutschland leben. Er kontaktierte Schmuggler aus der Stadt Aleppo, dann holten sie mich mit einer Gruppe junger Männer ab. Wir nahmen mehrere Nebenstraßen, um die Kontrollpunkte des Regimes zu umgehen, bis wir Gebiete im Nordosten von Aleppo am Übergang Abu al-Zendin zwischen Regime- und Oppositionsgebiet erreichten. Dort liefen wir mehr als drei Stunden zu Fuß und überquerten Landminenfelder. Schließlich erreichten wir die Oppositionsgebiete im Umland der Stadt al-Bab, im nordöstlichen Umland von Aleppo. Die Reise hat mich 600 Dollar gekostet. Ich versuche nun, in die Türkei und von dort nach Deutschland zu gelangen. Bislang sind zwei Versuche gescheitert."

Mohammad al-Moussa, 24, aus dem südlichen Umland von Aleppo hält sich derzeit in der Türkei auf. Er floh 2013 aus Syrien in den Libanon. Dort verlor er seine Arbeit in einem Restaurant inmitten der lähmenden Wirtschaftskrise, die den Libanon traf.4

Er berichtete Al-Monitor: "Meine Familie lebt schon seit einigen Jahren in der Türkei. Als sie mich baten, zu ihnen zu kommen, kontaktierte ich einen Schmuggler, der zwischen Syrien und dem Libanon operiert, und ich einigte mich mit ihm auf einen Betrag von 1.500 Dollar, um in die Stadt Azaz im nördlichen Umland von Aleppo gebracht zu werden. Ich werde von den Streitkräften des Regimes gesucht, weil ich mich der Wehrpflicht entzogen habe. Deshalb musste ich auf geheimen Wegen nach Syrien einreisen, aus Angst, eingezogen zu werden."

Moussa ergänzte: "Die Schmuggler brachten mich in einem Bus voller Militärdienstentzieher über die sogenannte Militärstraße. Die Schmuggler machen Deals mit Mitgliedern an den Kontrollpunkten des Regimes, um sicher passieren zu können. Sie bestechen sie, damit sie schweigen und die Militärdienstentzieher passieren lassen, ohne sie zu verhaften. Zwischen 100 und 200 Dollar werden für jeden im Bus gezahlt. Das ist der Preis, den ich bezahlt habe, um die Stadt Azaz zu erreichen, ohne einem Risiko ausgesetzt zu sein. Dann musste ich 800 Dollar bezahlen, um illegal in die Türkei zu meiner Familie in der Stadt Konya zu gelangen."

Die Auswanderung syrischer Jugendlicher beschränkt sich nicht nur auf die Gebiete, die unter der Kontrolle der Regierung oder der SDF stehen. Trotz der harten Maßnahmen an den syrisch-türkischen Grenzen versuchen Dutzende junger Syrer aus den von der Türkei unterstützten Freien Syrischen Armee (FSA) oder Hayat Tahrir al-Sham (HTS) in Idlib gehaltenen Gebieten, in die Türkei zu gelangen. Einige lassen sich dort nieder, nachdem sie einen Job gefunden haben, während andere planen, für ein besseres Leben nach Europa zu gehen. Die von der Opposition kontrollierten Gebiete leiden unter hoher Arbeitslosigkeit und Armut, obwohl die Syrer in diesem Gebiet vor der Wehrpflicht sicher sind - die von der FSA oder HTS nicht auferlegt wird - im Gegensatz zu den Jugendlichen in den von der Regierung oder den SDF kontrollierten Gebieten.

Fußnoten

1 Die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) sind ein am 10. Oktober 2015 gebildetes Militärbündnis im Bürgerkrieg in Syrien. Sie werden geführt durch kurdische Kräfte innerhalb des Bündnisses. (d. Red.)

2 https://www.al-monitor.com/originals/2021/02/syria-training-centers-construction-salary-economic-crisis.html

3 https://www.al-monitor.com/originals/2021/04/syrian-organizations-work-remove-war-remnants-northwest-syria

4 https://www.al-monitor.com/originals/2020/12/lebanon-economic-crisis-subsidies-poverty-government-stalled.html

Sultan al-Kanj: Young Syrians flee regime areas for Turkey. 11. Mai 2021. Übersetzung: rf. https://www.al-monitor.com/originals/2021/05/young-syrians-flee-regime-areas-turkey. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2021

Stichworte:    ⇒ Flucht   ⇒ Militärdienstentziehung   ⇒ Strafverfolgung   ⇒ Syrien