Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Militärdienst in Syrien - Albtraum für jeden Syrer

von Carmen Karrem

Einige junge Männer in Syrien lehnen es ab zu kämpfen. Sie wollen ihr Leben nicht an der Front verschwenden oder als Märtyrer sterben. Viele andere wollen nicht akzeptieren, dass sie nur ein Bauernopfer für die syrische Regierung werden sollen.

Die syrische Jugend gerät jedes Jahr Ende Mai in Panik, wenn die Kampagnen beginnen, mit denen die Namen von Militärdienstentziehern an die zuständigen Behörden gegeben werden. Die Festgenommenen werden zu den dafür vorgesehenen Sammelstellen der Stadt gebracht, wo sie aussortiert und den Kontrollpunkten der Armee überstellt werden. Einige werden direkt an den Kontrollstellen nach Überprüfung ihrer Personalien festgenommen.

Die Flucht vor dem Militärdienst ist für viele Männer die erste Wahl. Einige junge Männer in Syrien lehnen es vollständig ab zu kämpfen. Sie wollen ihr Leben nicht an der Front verschwenden oder als Märtyrer sterben. Viele andere wollen nicht akzeptieren, dass sie nur ein Bauernopfer für die syrische Regierung werden sollen.

Bezüglich der Frage zur „Verteidigung des Heimatlandes“ gibt es für die Syrer eine schreckliche Realität. Einige glauben an die Verteidigung ihrer Heimat, auch wenn der Feind ein syrischer Bruder ist. Dank jahrzehntelanger ba‘athistischer und diktatorischer Ausbildung scheinen viele einer vollständigen Gehirnwäsche unterzogen worden zu sein. Darüber wird Angst vor den anderen erzeugt, als ob die Herrschaft eines anderen Präsidenten das Land zerstören würde! Viele Syrer glauben das tatsächlich, als ob das Land nicht schon längst zerstört wäre!

Das Regime war sehr daran interessiert, sektiererische Erziehungsmethoden zu fördern, was einige leugnen. Aber tatsächlich hat dies zu einer sich vertiefenden Angst gegenüber anderen beigetragen. Angetrieben von dieser Angst treten viele der syrischen Armee einvernehmlich bei, um gegen ihre Brüder zu kämpfen, entweder aus Angst um ihre Lieben oder weil es keine andere Möglichkeit gibt, als zur Armee zu gehen oder zu fliehen. Hier sind einige Geschichten syrischer junger Männer und ihrem Umgang mit der Wehrpflicht.

Dem Militärdienst entfliehen

Viele sind über den Libanon oder die Türkei auf einem langen Weg nach Europa geflohen. Oder sie haben sich entschieden stattdessen in einem der beiden Länder zu bleiben. „Ich möchte mein Leben nicht in einem sinnlosen Krieg verschwenden, der von einem brutalen Regime geführt wird. Ich verweigere mich den Kampf. Ich beabsichtige mein Leben anderswo zu führen. Heute bin ich in Deutschland, um ein sicheres Leben zu führen und Erfolg in meiner Karriere zu haben“, sagt Nawaras, ein junger Syrer gegenüber Daraj. Aber weit weg von zu Hause zu überleben ist nicht einfach. Wer aus dem Land geflohen ist, kann die freundlichen Gesichter der eigenen Familie nur auf dem Monitor sehen und sie werden ihre Mütter und Väter möglicherweise nie wieder treffen. Das ist der Grund, warum Issam (Aliasname) noch stärker seinen Hass gegenüber diesem Regime zum Ausdruck bringt. Es sorgte dafür, dass er in den letzten Tagen seines Vaters vor einem Jahr nicht bei ihm sein konnte. „Wir hassen das Regime nicht nur für seine Handlungen, obwohl wir das Recht dazu haben, wir hassen es auch, weil es unsere Erinnerungen und die kostbaren Momente mit unseren Familien zerstört.“

Der Offizier hinter Samer (Alias) und seinen Gefährten schrie die Soldaten an und forderte sie auf zu töten, aber Samer schoss an den Zivilisten vorbei, einmal hinter ihre Füße, ein anderes Mal über ihre Köpfe hinweg. Er hat in den letzten Jahren niemanden getötet, wurde aber zwei Mal verwundet. „Wissen Sie, dass es ein internationales Recht auf Kriegsdienstverweigerung gibt, nach dem man sich weigern kann, am Krieg teilzunehmen oder andere zu töten?“, fragt Samer. „Denkst Du, dass die Behörden hier so ein Recht anerkennen? Ich wollte nie jemanden töten, erst recht keine syrischen Zivilisten!“

Flucht im Land

„Ich habe mich zehn Jahre lang wie eine Maus in meiner Stadt versteckt, bin nie in eine andere Stadt gereist. Diese Flucht vor der Einberufung hat mein ganzes Leben durcheinander gebracht.“ Mazen (Alias) lebt ein Leben als Flüchtling und nimmt lange Wege in Kauf um den Kontrollpunkten auszuweichen. Er war nicht in der Lage, Behördengänge durchzuführen oder zu heiraten. Für alles braucht er ein Papier des Rekrutierungsbüros. Er konnte nicht auswandern und blieb in Syrien hängen, weil er sich weigerte, zum Militär zu gehen. Aber er hatte nicht erwartet, dass die Konsequenzen dieser Entscheidung so schlimm sein würden. Heute blickt er auf die zehn Jahre seines Lebens zurück, die vergangen sind, ohne dass er auch nur etwas eigentlich Einfaches machen konnte. Und das alles ist noch nicht beendet. Er lebt die ganze Zeit mit dem Gefühl, eine falsche Entscheidung getroffen zu haben. Wenn er zum Militär gegangen wäre, hätte er den Dienst inzwischen beendet, natürlich nur dann, wenn er den Krieg überstanden hätte, ohne bei einem Zusammenstoß getötet zu werden. „Diese zehn Jahre wären sowieso vergangen, in der Armee oder außerhalb von ihr, was soll ich jetzt tun?“, fragt er scherzhaft.

Aber die Dinge sind nicht so einfach. Diese Militärdienstentzieher leben in ständiger Angst auf einer endlosen Flucht, weil sie befürchten, jeden Moment erwischt zu werden.

In seinem Dorf im Süden Syriens hatte Alaa (Alias) einen Freund im Rekrutierungsbüro, der ihn warnte, wenn eine Patrouille rausging, um junge Männer zu verhaften. Dann versteckte er sich zwei oder drei Tage lang im Haus eines Freundes. Alaa entschied sich für dieses Leben, wie schwierig es auch werden sollte: Er bestellte das Land seines Vaters und verkaufte die eigenen Produkte an die Dorfbewohner. Er goss seine Tomaten und Auberginen und sagte: „Wenn ich meine Ernte wachsen sehe, weiß ich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe.“

Auf der anderen Seite versuchen einige ihren Schmerz durch Kunst zu lindern, inmitten der Entfremdung der syrischen Jugend. Als mein Freund seiner Leidenschaft für Kunst und Theater nachging, gründete er eine kleine Theatergruppe, die fast täglich probte, Musik hörte, über das Schreiben sprach, trotz seiner schwierigen Situation. Er konnte seine Karriere als Lehrer nicht fortsetzen, weil er sich der Einberufung entzog. Er konnte keinen guten Job bekommen. Das reduzierte sein Leben auf die Last der Instabilität. Immer wieder erklärte er uns Details seiner Erschöpfung indem er Karten mit Wegen erstellte, die sicher um die Kontrollpunkte herumführten. Er lachte über die Entfernungen, die er zu einem Ort zurücklegen musste, an dem wir gespielt, getanzt und Theaterstücke gelesen hatten.

Es gibt andere Möglichkeiten die Einberufung zu umgehen, indem Syrer ihr Universitätsstudium so lange wie möglich verlängern und absichtlich im Abschlussjahr versagen, um durch eine Zurückstellung ihren Militärdienst um ein weiteres Jahr zu verschieben. Aber seit dieser Trick bekannt wurde, sind sie nicht mehr berechtigt, länger als drei Jahre zu scheitern. „Es ist absurd“, sagte Ali, „die Antwort auf alle Fragen zu kennen und sie falsch zu beantworten, nur um nicht zum Militärdienst zu müssen.“

Weil junge Männer diesen Ansatz nicht über längere Zeit verfolgen können, sind sie dazu gezwungen, ein Aufbaustudium zu absolvieren, soweit ihre Noten genug sind. Nur einige greifen möglicherweise darauf zurück, sich an virtuellen Universitäten einzuschreiben, da dort die Studiengebühren sehr hoch sein können.

Ein Buch inmitten des Ruins lesen

Emad (Alias) ist einer der jungen Männer, die zum Militär gegangen sind, weil sie keine andere Wahl hatten, insbesondere aufgrund ihrer schlechten finanziellen Lage. Dank der Vermittlung einer anderen Person gelang es ihm, seinen Dienst außerhalb der Schlachtfelder an einem Kontrollpunkt in Daraa City abzuleisten. An der Wand seiner kleinen Wohnung stellte er zwei Holzregale auf, auf denen er seine Bücher arrangierte und seine Waffe darunter hängte. Nach Beendigung des Dienstes ging er in seine Wohnung, um ein Buch zu lesen und Gedichte zu schreiben. Die Aktivitäten des neuen Rekruten hatten den Aufsicht führenden Offizier zunächst provoziert. Aber als Emad zusicherte, dass die Bücher unpolitisch waren und es sich um Romane und Gedichte über Liebe und Menschlichkeit handele, vergaß der Offizier die Angelegenheit. Einige Rekruten scherzten über seine Bücher und seine friedliche und in sich ruhende Haltung, aber er kümmerte sich nicht darum und erklärt: „Das Lesen hat mich geschützt, der Ort hätte mich definitiv verändert, aber die Bücher haben einen Schutz gegen die Verschmutzung durch das da draußen gebildet.“ Während seine Kameraden vorbeifahrende Fahrzeuge ausplünderten, Lebensmittel, Gemüse oder sogar elektrische Heizungen und Geld von den Fahrern verlangen, die nicht durchsucht wurden, lebte Emad in einer anderen Welt und las ein Gedicht in seiner Wohnung über die Freiheit.

Die Behandlung der einzelnen Kinder

„Junge Männer zwischen 18 und 42 Jahren müssen theoretisch für einen Zeitraum von eineinhalb bis zwei Jahren den Militärdienst ableisten. Das bedeutet, dass alle syrischen Männer, die nicht an einer unheilbaren Krankheit leiden oder erhebliche körperliche Behinderungen aufweisen, nach ihrer Einberufung sowohl den regulären wie auch den Reservedienst ableisten müssen. Ausgenommen sind nur einzelne Kinder, die keine Brüder haben.“ Dieses von der syrischen Verfassung gefasste Gesetz gibt den jungen Männern Hoffnung, deren Eltern vergeblich versuchten, ihnen einen Bruder zu geben und ihr Glück verfluchten, als sie ein Mädchen bekamen. Auf diese Weise wurden die jungen Männer zu einzigen Söhnen, während die Eltern nie daran dachten, dass dieses Merkmal sie davor bewahren würde, in den härtesten Krieg der Region verwickelt zu werden.

Die Mutter meines Freundes sagt ihm immer wieder: „Ich wünschte, ich hätte Dir einen Bruder gebracht, der Dir in diesem Leben hilft.“ Er aber antwortet sarkastisch: „Warum sagst Du das? Wenn Du mir einen Bruder gebracht hättest, wäre einer von uns als Märtyrer gestorben und der zweite wäre zum Militär gegangen.“ Dann fügt er hinzu: „Ich danke Gott wirklich. Ich kann mir nicht vorstellen, in diesem Wirbel gefangen zu sein, über den meine Freunde die ganze Zeit sprechen.“

Fact Finding Mission Syrien

Jeder Mann im Alter zwischen 17 und 42 Jahren ist verpflichtet, einen zweijährigen Militärdienst abzuleisten.  Diese  gesetzliche  Altersgrenze  ist  jedoch  reine  Theorie.  Die Altersgrenze ist nur theoretisch und jeder Mann in einem im weitesten Sinne wehrfähigen Alter, kann rekrutiert werden.  (...) Die bekannten Ausnahmen [wie die Befreiung als einziger Sohn, als Student, aus medizinischen Gründen etc., Anm.] sind theoretisch immer noch als solche definiert, die Situation in der Praxis ist jedoch anders. Präsident Al-Assad versucht den Druck in Bezug auf den Wehrdienst zu erhöhen9, und es gibt nun weniger Befreiungen und Aufschübe beim Wehrdienst. Generell werden die Regelungen nun strenger durchgesetzt, außerdem gibt es Gerüchte, dass Personen trotz einer Befreiung oder eines Aufschubs rekrutiert werden.

Auszug aus: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreich, Fact Finding Mission Report Syrien, August 2017. https://kurzelinks.de/451v

Der einzige Sohn gilt nun als bevorzugt, Freunde beneiden ihn heimlich und er hat bessere Chancen in Bezug auf die Ehe. Es ist kein Geheimnis, dass die Chancen junger Männer, von einem Mädchen für die Ehe akzeptiert zu werden, steigen, wenn sie einzige Söhne sind oder den Militärdienst bereits abgeleistet haben. Junge syrische Frauen können sich nicht vorstellen, dass Jahre der Ehe vorbeiziehen, in denen ihre Ehemänner weg sind, an der Front kämpfen oder vielleicht jeden Moment den Märtyrertod erleiden. Aber das Verfahren, mit dem dem einzigen Sohn die Freiheit gegeben wird, ist nicht einfach zu durchlaufen. Es erfordert Zeit, Mühe und eine medizinische Gesundheitsprüfung um sicherzustellen, dass die Mutter keine weiteren Kinder bekommen kann. Selbst wenn es nur die Möglichkeit gibt, dass die Mutter einen weiteren Jungen bekommt, gefährdet das die Chancen des jungen Mannes, vom Militärdienst befreit zu werden.

Nur eine Woche Reservedienst

Auf der anderen Seite gibt es diese fast scheinbar fiktiven Geschichten, deren Charaktere am Ende extrem viel Glück hatten. Als George (Alias) zum Reservedienst einberufen wurde, hatte die Trauerzeit in seinem Haus bereits begonnen. Er ist der einzige Ernährer seiner Eltern, seiner Frau und seiner beiden Kinder. Trotz all des Weinens, Flehens und Gebets ging George zum Militär. Als er in dem Flugzeug saß, das ihn von Damaskus nach Qamischli bracht, erließ das Generalkommando von Armee und Streitkräfte einen Befehl, mit der die Einberufung einer Reihe von Offizieren, zurückgestellten Personen und vor 1981 geborene Personen der zivilen Reserve zurückgenommen wurde. Als das Flugzeug landete erhielt George Nachrichten und Anrufe, die das Ende seines Dienstes feierten, der ja noch gar nicht begonnen hatte. Sein Glück ließ ihn buchstäblich seine Reservedienstzeit am Himmel verbringen. Also blieb er eine Woche in Qamischli, bis seine Entlassungspapiere vorlagen. Dann kehrte er triumphierend zu seiner Frau und Familie zurück.

Aber Geschichten haben nicht immer ein Happy End. Salim (Alias) zum Beispiel kam nach 20 Tagen Flucht zum Militär zurück. Bei der letzten Demobilisierung wurde er nicht berücksichtigt, da er sich 20 Tage unerlaubt dem Dienst entzogen hatte. Heute, nach Jahren im Militärdienst, wartet er immer noch auf eine neue Entscheidung, die definitiv viel zu lange dauert.

Soldatinnen sind besser als ihre Kameraden

Die erste Ankündigung, eine weibliche Kampfeinheit zu gründen, kam aus der Stadt Homs, wo sich etwa 500 Frauen den „Löwinnen der Nationalen Verteidigung“ anschlossen und nach einer kurzen Ausbildungszeit von maximal einem Monat auf das Schlachtfeld geschickt wurden.

Mädchen und Frauen haben ihre eigenen Gründe, freiwillig zum Militär zu gehen. Den Frauen wird offiziell die Möglichkeit angeboten, sich freiwillig zu melden. Einige Frauen taten dies, weil sie einen ihrer Brüder im Krieg verloren hatten und sie sich rächen wollten. Andere schlossen sich, wie erwähnt, der Überzeugung an, dass sie wirklich ihr Heimatland vor der Zerstörung bewahren könnten, eine sehr utopische Idee angesichts des syrischen Albtraums.

Der Ruf der Soldatinnen schien besser zu sein als der ihrer Kameraden. Die Bewohner der Gebiete, in denen Soldatinnen für die Kontrollpunkte verantwortlich waren, beobachteten eine freundlichere Behandlung durch die Frauen. Auf der anderen Seite sind die Soldatinnen auch direkt an den Kämpfen beteiligt, wie z.B. am Rande der Hauptstadt in den Schlachten in der Stadt Jobar, wo sie leichte und schwere Waffen benutzten, Panzer fuhren und im Rahmen der Republikanischen Garde sogar als Scharfschützinnen eingesetzt wurden.

Die Idee, das Heimatland zu verteidigen, spricht sie an, aber in der Wirklichkeit ist es grausamer als es scheint. Trotz dieser Geschichten gibt es Soldaten, die nicht aus eigenem Willen zur syrischen Armee kamen und dann andere Syrer töteten und triumphierten, obwohl ihnen dies zwangsweise auferlegt worden war. Ihre Geschichten werden stolz präsentiert, als ob sie tapfere Helden wären. Es gibt Soldaten und Offiziere, die ganze Dörfer und Städte ausgeraubt und die Waren für einen kleinen Preis verkauft haben. Viele Syrer kämpfen aufgrund der Idee des Patriotismus, ein Patriotismus, der sie dazu drängt, zu töten, zu stehlen und zu plündern. Was zurück bleibt, sind nur noch Ruinen und geplünderte Städte.

Carmen Karrem: Military Service - Every Young Syrian‘s Nightmare, 24. Juni 2020. Quelle: https://daraj.com/en/49384. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Februar 2021

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