Israelische Soldaten an der libanesischen Grenze. Foto: Yotam Ronen

Israelische Soldaten an der libanesischen Grenze. Foto: Yotam Ronen

Sollte Israel sein Modell einer „Volksarmee“ aufgeben?

von Meirav Arlosoroff

(03.09.2019) ‚Die Hälfte der Personen im Wehrpflichtigenalter leistet keinen Dienst ab und Reiche und gut Vernetzte erhalten Elitepositionen‘ – das spricht für eine Berufsarmee.

Seine Jeans, sein langes Haar und sein T-Shirt erwecken den Eindruck, dass Dror Lavy ein typischer Partygänger in Tel Aviv ist. Und sogar sein Beruf als Filmemacher passt dazu. Nichts verrät seine extrem neoliberale Haltung. Er sieht sich selbst als „Aktivist der liberalen Szene, Aristotelianer, ein leidenschaftlicher Befürworter der Ansichten von Ayn Rand und Milton Friedman“.

Lavy gehört zu den wenigen, die es wagen, über den Elefanten im Raum zu sprechen – der Grund, warum wir Israelis diesen Monat zur zweiten Knesset-Wahl in sechs Monaten gehen. Es geht um „die Volksarmee“.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu konnte nach den Wahlen im April keine Regierung bilden, weil sein ehemaliger Koalitionspartner, Avigdor Lieberman von der Partei Jisra‘el Beitenu (Unser Zuhause Israel), auf einer Gesetzgebung bestand, die mehr ultraorthodoxe Jeschiwa-Studenten der Wehrpflicht unterwirft.

Lavy ist Gründer einer gemeinnützigen Organisation mit Namen Hazit, die sich für eine Berufsarmee und das Ende der Wehrpflicht einsetzt, um ein ähnliches Modell wie in den USA zu entwickeln.

Die Wahlen für die Knesset am 17. September wurde uns wegen der Frage der Wehrpflicht aufgezwungen – oder wegen der Unfähigkeit der Regierung, den Grundsatz der Gleichheit durch die Einberufung ultraorthodoxer Männer aufrechtzuerhalten (Was ist eigentlich mit den ultraorthodoxen Frauen?). Lavys scheinbar unbegründete Position sieht angesichts dessen nicht mehr so grundlos aus. Ist es möglicherweise an der Zeit, anzuerkennen, dass das Ideal der Volksarmee nicht mehr funktioniert?

Es hat etwas Symbolisches, die Frage der Volksarmee genau 80 Jahre nach dem Ausbruch des II. Weltkrieges aufzuwerfen – einem Konflikt, der den Höhepunkt der Wehrpflicht weltweit repräsentiert. Durch ihre Forschungen für das Israel Democracy Institute kamen Prof. Asher Tishler, ehemaliger Präsident des College of Management, und Brigadegeneral Sasson Hadad zu der Einschätzung, dass die allgemeine Wehrpflicht im Europa des 19. Jahrhunderts den Ausbruch von zwei Weltkriegen erst möglich machte. Die Bereitstellung der Soldaten machte es möglich, längere, teurere und selbstverständlich auch tödlichere Kriege zu führen.

Nur Israel und Nordkorea

Der hohe Preis der allgemeinen Wehrpflicht, der mit einer höheren Zahl von Kriegsopfern verbunden war, führte dazu, dass sie in der modernen Welt in Ungnade fiel. In den letzten 40 Jahren gab es eine stetige Verlagerung hin zu professionellen und viel kleineren Armeen. Die allgemeine Wehrpflicht existiert noch (in den meisten skandinavischen Ländern zum Beispiel), aber im Allgemeinen sind ihr nicht wirklich alle unterworfen. Sie gilt nur für Männer und nur eine Minderheit der Männer leistet Dienst ab, gewöhnlich nur für einen kurzen Zeitraum.

Eine Wehrpflicht, wie sie in Israel besteht – auch für Frauen, und von bis zu drei Jahren – existiert offensichtlich nur in Israel und Nordkorea. Lavy nutzt diese wenig schmeichelhafte Tatsache, die Nordkorea und Israel gemeinsam haben, um sich für das Ende der Wehrpflicht in Israel einzusetzen.

Seine Opposition gegen die Wehrpflicht ist ein Ergebnis seiner liberalen Positionen und seines Glaubens an die Freiheit des Individuums. Die Wehrpflicht ist in dieser Hinsicht zweifellos ein schwerer Verstoß. Man muss sich nur die Militärgefängnisse ansehen. Die Inhaftierungsrate in der israelischen Armee ist viel höher als im zivilen Sektor. Die meisten Militärgefangenen haben wirtschaftliche und disziplinarische Probleme. Nur 10% der Inhaftierten haben Straftaten begangen.

„Wirtschaftlich schwache Menschen, die desertieren, weil sie ihre Familien unterstützen müssen, werden ins Gefängnis gesteckt“, behauptet Lavy. „Statt eine freie, demokratische Gesellschaft zu haben, in der das Individuum sich selbst verwirklicht, unterliegt es einer Wehrpflicht, die vor allem den Schwachen schadet.“

Die Argumente gegen die Wehrpflicht beziehen sich nicht allein auf die persönlichen Werte. Sie hat auch soziale und wirtschaftliche Folgen. Das Budget der israelischen Armee ist riesig und es ist unbestritten, dass die Wehrpflicht von bis zu drei Jahren einen hohen Preis für die Wirtschaft zur Folge hat, der der Produktivität anhaltend schadet wie auch dem Bruttoinlandsprodukt. Es ist das Ergebnis des späteren Eintritts der jungen Israelis in den Arbeitsmarkt. Das Finanzministerium schätzte den Schaden auf etwa 5% des Bruttoinlandsproduktes jährlich, was mehr als 50 Milliarden Schekel (12,7 Mrd. €) entspricht.

Friedmans Philosophie

Lavy verweist auf Studien, die in den späten 60er Jahren in den USA durchgeführt wurden und nach dem Ende des Vietnamkrieges zur Beendigung der Wehrpflicht geführt haben. Zu den wichtigsten dieser Studien gehört die des Ökonomen Milton Friedman, einem Befürworter der Macht der freien Entscheidung, der erklärte, dass eine Berufsarmee effizienter sei als eine Armee von Wehrpflichtigen und dass eine Berufsarmee mit 30% weniger Personen die gleichen Ergebnisse erzielen könne.

Friedman führte dies auf die Freiheit der individuellen Entscheidung zurück. Eine Berufsarmee bestehe aus Menschen, die Soldaten sein wollen. Der Militärdienst könne daher ihre Fähigkeiten und Potentiale nutzen. Das stehe im Kontrast zu der Forderung, dass die gesamte Bevölkerung Dienst leistet, unter ihnen auch diejenigen, die nicht Soldat sein wollen und keinen vergleichbaren Nutzen bringen.

Ergänzend dazu seien Berufsarmeen erfahrener und besser ausgebildet. Das sei besonders wichtig, wenn es um den Einsatz von fortschrittlicher Technologie geht. Die Soldaten hingegen, die ihre Wehrpflicht ableisten, haben sich solche Fähigkeiten erst angeeignet, wenn sie wieder entlassen werden. Das ist selbstverständlich auch einer der Gründe, warum die technologischen Eliteeinheiten der israelischen Armee von ihren Soldaten verlangen, dass sie sich für einen längeren Zeitraum verpflichten.

All das bringt uns zu dem Elefanten im Wohnzimmer: Die Auflösung des Ethos einer Volksarmee. „Alle reden von einem Schmelztiegel, aber schon seit langer Zeit existiert er nicht mehr“, merkt Lavy an. Die Hälfte aller Personen, die das Wehrpflichtigenalter erreichen, würden nicht einberufen. Unter denen, die ihren Dienst ableisten, gebe es eine Unterscheidung zwischen Reichen sowie gut vernetzten Personen, die in die Eliteeinheiten gehen wie der Einheit 8200 des Geheimdienstes und allen anderen.

Lavy denkt daher, dass es an der Zeit sei, das Tabu rund um die Volksarmee anzusprechen. In einer Zeit, in der die meisten Länder die Wehrpflicht abschaffen und sich für eine Berufsarmee entscheiden, könnte Israel das Thema doch zumindest diskutieren. Als Beispiel nennt er Änderungen beim Reservedienst. Seit die Armee verpflichtet ist, den Reservisten das volle Gehalt auszuzahlen, beruft sie weit weniger Reservisten ein. Das Vertrauen der Armee auf die Reserve hat so stark nachgelassen, dass die Eignung der Reservisten für den Dienst in Frage steht.

„Die Wehrpflicht ist der Grund, dass wir erneut wählen, ein Ergebnis der Krise der Wehrpflichtgesetze“, stellt Lavy fest. „Die Wehrpflicht verbindet nicht die verschiedenen Sektoren der Gesellschaft. Ganz im Gegenteil, sie schafft Zwietracht und wiegelt auf. Sie bietet den Politikern auch die Möglichkeit, zu zündeln. Der Grundsatz der gleichen Lastenverteilung wird nur für die Wahlpropaganda benutzt. Ist es nicht Zeit, dies zu diskutieren?“

Ja, die Zeit ist gekommen. In der Praxis wird das Thema seit 2005 diskutiert, als ein offizielles Gremium, das Ben-Bassat-Komitee, seine Empfehlungen zur Verkürzung des Militärdienstes vorlegte. Die in sehr bescheidener Form geführte Diskussion über die Verkürzung der Dienstzeit und die Bezahlung der Dienstleistenden wird voraussichtlich gleich nach den Wahlen als Teil der Debatte zwischen der Armee und dem Finanzministerium über den mehrjährigen Finanzplan wieder auftauchen. Sie verspricht, eine der erbittertsten Schlachten zwischen den beiden Institutionen zu werden.

Meirav Arlosoroff: Should Israel Scrap Its ‚People‘s Army‘ Model? 3. September 2019 in Ha‘aretz. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2019.

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