Türkei: »Internationale Unterstützung ist lebenswichtig«
Nach seiner Freilassung aus der Haft führten wir mit dem Kriegsdienstverweigerer Mehmet Bal und seiner Partnerin Balam Kenter ein Interview. Während er in der Haft schwer misshandelt wurde, organisierte Balam Kenter einen großen Teil der Solidaritätsarbeit. Beide berichten über die Erfahrungen.
Mehmet, was hast Du nach der Verhaftung erwartet?
Ich konnte mehr oder weniger vorhersehen, wie es ausgehen wird: Entweder hätte ich mit einer sehr langen Haftstrafe zu rechnen gehabt, wegen all der Anklagen wegen "Ungehorsam" und "Desertion" - oder ich würde wie zuvor Halil Savda ausgemustert werden.
Mehmet, Du wurdest im Gefängnis schwer misshandelt - und Du bist nicht der erste Verweigerer, der dies erleben musste. Denkst Du, dass dies eine Entscheidung der Gefängnisleitung war, oder ist es grundsätzlich eine neue Art, Kriegsdienstverweigerer zu behandeln?
Ich denke nicht, dass das, was mir geschah, etwas besonderes in diesem Gefängnis war. Nur wenn die Situation eines Kriegsdienstverweigerer Schlagzeilen macht, ändert sich der Umgang mit ihm im Gefängnis. Wenn der Fall nicht öffentlich wird und keine Anwälte und AktivistInnen an seiner Seite stehen, können die Bedingungen im Militärgefängnis noch viel schlimmer sein, als sie ohnehin sind. Weil Mehmet und ich so plötzlich und unerwartet verhaftet wurden, hat es ein oder zwei Tage gedauert, um darauf zu reagieren, die Presse zu informieren und AnwältInnen mit der Vertretung zu beauftragen. Bei uns beiden geschah das Schlimmste genau in den ersten beiden Tagen.
Mehmet, konntest Du verfolgen, was für eine Unterstützung Du im Land und auf internationaler Ebene bekamst?
Meine AnwältInnen und BesucherInnen erzählten mir so viel, wie es in der begrenzten Zeit und angesichts anderer lebenswichtiger Themen möglich war.
Balam, was geschah in der Türkei, um Mehmet zu unterstützen?
Die antimilitaristische Solidaritätsgruppe zog drei Anwälte des Menschenrechtsvereins und einen von der Anwaltskammer zu Rate, die ihre Dienste freiwillig angeboten hatten. Alle besuchten Mehmet in den folgenden Tagen, erstellten täglich detaillierte Berichte und schickten Faxe an die Menschenrechtskommission des Parlamentes sowie an den Vizepräsidenten und an amnesty international. Noch in der selben Nacht verschickte die antimilitaristische Solidaritätsgruppe massenhaft eMails an Medien in der Türkei und im Ausland, an andere Gruppen von AktivistInnen und Organisationen, kurz, an alle, von denen wir dachten, dass sie daran Interesse haben könnten.
Wir starteten auch eine Faxkampagne an das Militärgefängnis Hasdal, das Büro des Generalstabes, den Verteidigungsminister und so weiter. Mit dem Fax bekundete der jeweilige Absender, dass er über die Haftbedingungen von Mehmet informiert war, persönlich seinem Fall folge und die sofortige Beendigung der Misshandlungen einfordere. Das gleiche Fax wurde dann ins Englische übersetzt und an unsere internationalen Kontakte geschickt, so dass sie ebenfalls damit arbeiten konnten. Wir eröffneten auch eine Internetseite für Mehmet, wo sich Leute eintragen konnten, die selbst kein Fax verschicken konnten, aber trotzdem ein von ihnen gezeichnetes Fax versenden wollten. Die Faxkampagne war sehr effektiv. Wo auch immer Mehmet hingebracht wurde, das erste was wir taten, war die Faxnummer herauszufinden und Faxe zu senden. Im Gefängnis in Ankara kamen diese an, bevor Mehmet überhaupt da war und es kamen welche, bis er freigelassen wurde.
Einen Tag nachdem Mehmet gefoltert worden war, führten die AntimilitaristInnen auch eine Kundgebung in Istanbul durch, wobei vier AktivistInnen verhaftet wurden. Sie wurden noch am selben Tag wieder freigelassen, aber angeklagt wegen "Distanzierung des Volkes vom Militär".
Als Mehmets Anwältin Suna Coskun nach seinen Misshandlungen für einige Tage aus Ankara kam, konnte sie erreichen, dass sich der Militärstaatsanwalt Mehmets Körper ansah und der Weitertransport nach Adana verschoben wurde. Mehmet wurde vom gerichtsmedizinischen Institut begutachtet und es wurden danach Ermittlungen eingeleitet: Gegen die Gefängnisleitung, gegen die Personen, die Mehmet in Hasdal gefoltert hatten sowie gegen die Soldaten, die ihn in der Gendarmeriestation Besiktas erniedrigt und geschlagen hatten. Nach der Freilassung von Mehmet gab es auch eine Untersuchung durch die Menschenrechtsstiftung, um die Folter zu dokumentieren. Nachdem Suna Mehmets gesamte Geschichte erfahren hatte, machte sie diese öffentlich.
Die JournalistInnen Perihan Magden und Yildirim Türker schrieben in ihren täglichen Artikeln über Mehmet. Viele Zeitungen und Medien, wie Bianet, Birgun, Taraf und Radikal schrieben mehrmals über seine Haftbedingungen. Kai Strittmatter, der schon ausführlich über Mehmet geschrieben hatte, schrieb über ihn in der Süddeutschen Zeitung.
Akin Birdal, Mitglied der Partei der demokratischen Gesellschaft (früher Direktor des Menschenrechtsvereins) sprach im Parlament über Kriegsdienstverweigerung und die Misshandlungen von Mehmet. Er übergab die Berichte von Mehmets RechtsanwältInnen, den Artikel von Perihan Magden und seine Rede an den Innenminister, der versprach, sich um den Fall zu kümmern.
Amnesty international startete eine Urgent Action für Mehmet. Auch die UN-Kommission zu willkürlichen Verhaftungen wollte den Fall aufgreifen, aber wir wissen nicht, wie der Stand der Dinge nach der Freilassung von Mehmet ist.
Ein spanischer Freund startete eine internationale online Petition und sammelte über 750 Unterschriften. Als Mehmet in Adana war, wurde er von einem örtlichen Anwalt betreut, der ihn schon bei seiner ersten Verhaftung im Jahre 2002 besucht hatte.
Das ist in aller Kürze das, was getan wurde, aber es ist natürlich nicht alles. Viele taten kleine, aber wundervolle Dinge, die ich hier nicht alle auflisten kann. Aber all dies hielt uns am Leben und machte Hoffnung.
In den letzten zwei oder drei Jahren gab es spontane Solidaritätsgruppen für konkrete Verweigerer. Denkt ihr, dass es nun eine beständigere und stärker strukturierte Arbeit dazu geben könnte?
In Bezug auf die Forderung für ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist es natürlich notwendig, eine beständigere und stärker strukturierte Arbeit zu haben. Aber die meisten Kriegsdienstverweigerer in der Türkei verstehen sich als Totalverweigerer. Sie sind nicht an einer gesetzlichen Regelung interessiert. Deshalb kommen die Verweigerer nur bei bestimmten Ereignissen wie bei der Verhaftung von Verweigerern zusammen. Es ist auch so, dass sich nur wenige Leute an der Bewegung beteiligen. Wir haben sehr eingeschränkte Ressourcen und Energie, die wir völlig damit verbrauchen, dass wir uns in konkreten Fällen für inhaftierte Verweigerer einsetzen.
Die Solidaritätsgruppen für Kriegsdienstverweigerer sind immer mit einem konkreten Fall beschäftigt. Seht Ihr das als Chance oder als ein Problem an?
Das ist schwer zu sagen. In einigen Aspekten eröffnet das Möglichkeiten, in anderen stellt sich das als Problem dar. Aber wie wir schon sagten, es ist alles, was wir derzeit mit einer so kleinen Gruppe und den eingeschränkten Möglichkeiten tun können.
Half Euch die internationale Unterstützung? Wie wichtig war sie für Mehmet und für das Ergebnis?
In vieler Hinsicht ist internationale Unterstützung lebenswichtig. Dadurch entwickelt sich ein ganz anderer politischer und öffentlicher Druck, als wenn es Unterstützung nur aus dem Land gäbe. Die Medien in der Türkei schenken einem Thema mehr Aufmerksamkeit, wenn es internationale Unterstützung gibt, was die Chancen für Artikel und Beiträge erhöht. Und Veröffentlichungen hier in der Türkei mit dem Blick auf die Sicherheit von inhaftierten Verweigerern rettet ihnen buchstäblich das Leben.
Auch auf einer anderen Ebene hat es große Bedeutung, wenn Postkarten oder Faxe im Militärgefängnis ankommen, im Büro des Generalstabes oder im Büro des Präsidenten - in englisch, deutsch, französisch oder anderen Sprachen, die zeigen, dass es eine große internationale Unterstützung gibt. Das macht einen großen Unterschied. Es zeigt, dass "die ganze Welt zusieht", dass sie nicht nur der nationalen, sondern auch der internationalen Öffentlichkeit gegenüber verantwortlich dafür sind, wie sie Menschen im Gefängnis behandeln.
Welche Art von internationaler Unterstützung wünscht Ihr Euch?
Sie ist bereits sehr effektiv, könnte aber noch verbessert werden durch ein enger geknüpftes Netzwerk. Das ist nichts, was wir von den internationalen Kontakte einfordern können, es beruht auf Gegenseitigkeit. Wir sollten z.B. regelmäßiger unsere internationalen Kontakte informieren, wichtige Dokumente schneller übersetzen usw.
Mehmet, Du bist der zweite Verweigerer, der für untauglich erklärt wurde. Stellt diese Entscheidung des Militärs eine neue Strategie dar?
Ja, sie sind auf diese Weise zwei von vier Kriegsdienstverweigerern losgeworden, die laufende Verfahren haben. Wir müssen aber warten und sehen, was sie mit den anderen beiden machen.
Wird die Türkei in naher Zukunft die Kriegsdienstverweigerung respektieren?
Die Türkei könnte irgendwann in der nahegelegenen Zukunft das Recht auf Kriegsdienstverweigerung akzeptieren. Dafür muss der internationale Druck erhöht werden. Aber noch wichtiger ist: Bislang hat keine politische Partei oder nichtstaatliche Organisation in der Türkei die Kriegsdienstverweigerung in ihr Programm mit aufgenommen. Gesellschaftliche Kräfte, zusammen mit den politischen Parteien, müssen dafür eine Kampagne starten. Bislang ist da aber nichts passiert.
Was sollte das wichtigste Thema für eine antimilitaristische Strategie in der Türkei sein?
Die Militarisierung des zivilen Lebens sichtbar zu machen.
Interview mit Mehmet Bal und Balam Kenter. 13. August 2008. Übersetzung aus dem Englischen: Rudi Friedrich und Thomas Stiefel. Der Beitrag erschien im Rundbrief »KDV im Krieg«, September 2008.
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