Kolumbien: Die Straftat, sich nicht einreihen zu wollen
(16.04.2010) Der 19-jährige Carlos lebt im Viertel „El Tigre“ der Gemeinde Amalfi. Seit einem Jahr hat er das Grundstück seines Vaters nicht mehr verlassen – hier arbeitet er, isst, schläft und verbringt seinen gesamten Alltag, denn wenn er das Gelände verlassen würde, könnte ihn das Militär sehen und mitnehmen, damit er seinen Wehrdienst ableistet... María betet jedes Mal für ihren Sohn, wenn er zur Universität geht, denn sie weiß, dass Militärs in Lastwagen durch die Straßen ihres Ortes fahren und alle jungen Männer mitnehmen, die sie sehen... Natalié ist ein Jahr alt und jeden Sonntag muss sie ihren Vater im Bataillon von Apartadó besuchen, der dort seinen Wehrdienst leistet, weil der Kommandant ihm die gesetzlich garantierte Freistellung nicht zugestanden hat. Der 19-jährige Roberto, der bis vergangene Woche in der Nähe des Parque Bérrio mitten im Stadtzentrum Medellíns gearbeitet hat, ist nicht mehr zur Arbeit gekommen, weil im Park jeden Tag ein Lastwagen der Armee steht, und alle jungen Männer rekrutiert werden, die dort vorbeikommen...
Das ist nicht nur im Parque de Bérrio so; letzte Woche wurde an der Stierkampfarena La Macarena ein Kontingent von 2.477 jungen Männern von der „Cuarta Zona de Reclutamiento“ rekrutiert, die auf 16 verschiedene Bataillone in drei Divisionen des Heeres verteilt werden sollen. Zusätzlich fahren die Lastwagen nachmittags und abends ständig durch die Straßen Caicedo, La Sierra, La Toma, El Raizal, Santa Rita, Bello Oriente, Manrique, La Milagrosa, Villahermosa, La Candelaria, Castilla, Roblede... und die hunderte weiteren Viertel Medellíns: die Ausgangssperre in den Vierteln besteht in der Form, dass ein junger Mann, der von Militärs auf der Straße aufgegriffen wird und nicht verhaftet werden kann, von ihnen mitgenommen wird, um gegen seinen Willen den Wehrdienst zu leisten; genauso geschieht dies in den umliegenden Gemeinden wie Bello, Girardota, Copacabana, Itagui und Caldas, wo die Lastwagen die Parks und Sportanlagen umkreisen.
In der Gemeinde Yolombó gehen junge Männer sonntags nicht auf die Straße, weil sie sonst eingezogen werden, ebenso im Osten des Departamento Antioquia. Man könnte meinen, Kriegsdienstverweigerung sei eher eine Straftat als ein Rechtsanspruch.
Das Schlimmste ist, dass die meisten Menschen nichts gegen diese Praktiken unternehmen; die Jugendlichen in ihrer Angst vor den Militärs kämpfen nicht für ihr Recht. Ihre Mütter sind eingeschüchtert von der Autorität im Tarnanzug. Menschenrechtsorganisationen wie die Personería de Medellín, die Defensoría del Pueblo (Verteidiger des Volkes) und die Procuradoría leiten keine Disziplinarverfahren gegen die Militärs ein, die wilde Rekrutierungen durchführen; die Gemeindeverwaltungen meinen, die Armee sei im Recht. Was kann man auch sonst von einem Staat erwarten, der aus der Illegitimität entstanden ist? Es scheint, als sei heute die Albernheit, einen Krieg zu führen, mit dem die Jugend nichts zu tun hat, mehr wert als unser Grundrecht.
Die wilde Rekrutierung ist illegal, das Militär ist nicht dazu befugt, sie ist in keinem Gesetz festgeschrieben, sie darf nicht stattfinden, die militärischen Befehlshaber leugnen ihre Existenz, führen sie aber ständig durch.
Jugendlicher, ein junger Mann, zu sein, ist kein Verbrechen, und es ist auch kein Verbrechen den Kriegsdienst verweigern zu wollen. Verweigere dem Militär deinen Gehorsam, lass dich nicht einreihen, steig nicht auf den Lastwagen, lass dich nicht auf die Liste setzen, prangere an! Deine Stimme zählt.
Mutter, lass nicht zu, dass dein Sohn gegen seinen Willen geht, lass nicht zu, dass der kolumbianische Staat weiterhin Jugendliche für den Krieg ausbildet, den Gehorsam, die Disziplin, die Kontrolle, die Unterwerfung. Du hast das Recht NEIN zu sagen.
Und als ob das nicht genug wäre, muss man außer vorm Militär auch noch Angst vor kriminellen Banden haben. Sie sind nicht neu und haben die gleichen paramilitärischen Strukturen wie seit Jahren in den Stadtteilen. Viele von ihnen konnten sich durch einen zum Scheitern verurteilten Prozess wieder etablieren, sie setzen sich zusammen aus Personen, die jeder kennt, die aber niemand anzeigen würde. Die gleichen Leute haben sehr wahrscheinlich die Corporación Democracia gebildet und ihre Gruppen haben heute vielleicht Strukturen wie das kriminelle Netzwerk Oficina de envigado. Diese Gruppen also, bestehend aus Jugendlichen mit denen wir aufgewachsen sind, Freunden, Geschwistern, Cousins, Kumpels, die sich gegenseitig umbringen und deren Anführer wir vermutlich regelmäßig im Fernsehen sehen, rekrutieren uns auch - einfach weil wir eben Jugendliche sind.
Zwingen, verführen, locken, bedrohen, kaufen, verleiten - wie auch immer man es nennen mag - diese Banden sind das andere Gesicht der Rekrutierung. Jungen werden ausgegrenzt und umgebracht, weil sie nicht Teil der Gruppe sein wollen, Mädchen bedroht, weil sie sich den Anführern nicht fügen wollen, nicht käuflich sind. Das Schlimmste: Banden, die sich in der Stadt behaupten, in vielen Fällen wegen Versäumnissen oder gar Anstiftung des legalen Militärs.
Jung zu sein scheint sich in eine Qual verwandelt zu haben, eine ständige Beklommenheit. Um die Freiheit wiederzuerlangen, die der Staat selbst uns täglich verweigert, braucht es genau die Stärke der Jugend, eine klare Einstellung, die Einforderung unserer Rechte und den permanenten und täglichen Kampf gegen den Militarismus in dieser Stadt.
Darum die Botschaft, die wir heute vermitteln: die Armee ist nicht so, wie sie dargestellt wird, und deshalb: tanz aus der Reihe! Leiste Widerstand!
Red Juvenil Medellín: Medellín: El Delito de no Querer Enfilarse. 16. April 2010. Übersetzung Hannah Germer. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Februar 2011
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