„…und wenn sie mich an die Wand stellen“
Rezension
(02.02.2012)
Ralf Buchterkirchen schlägt einen weiten Bogen. Ausgehend von Schicksalen einiger Deserteure in Hannover geht er in seinem 2011 erschienenen Buch „…und wenn sie mich an die Wand stellen“ ausführlich auf die Hintergründe der Desertion und Wehrkraftzersetzung wie der Verfolgung durch die Wehrmacht ein.
Ausgangsmaterial dieses Buches sind die über Jahre hinweg zusammengetragenen Daten von 51 Soldaten, die den Gehorsam verweigerten. Sie kamen aus Hannover oder wurden dort hingerichtet. Die Dunkelziffer, so Ralf Buchterkirchen in seiner Übersicht, dürfte weitaus höher liegen.
Deren Erlebnisse, Motive und Beweggründe lassen sich allzu oft nur aus den Akten herauslesen, die Akten einer Militärjustiz, die erbarmungslos Wehrkraftzersetzung, Ungehorsam und Desertion verfolgt hat. Es ist daher besonders schwierig, auch nur ein annähernd objektives Bild zu erhalten. In immerhin 13 Fällen gelingt es dem Autor jedoch, ausführlich die Lebenslinien nachzuzeichnen und so ganz individuelle persönliche Schicksale aufleben zu lassen.
Diese persönlichen Schicksale bettet der Autor in einen weit größeren Rahmen ein. Über die Auseinandersetzung mit dem vorherrschenden gesellschaftlichen Bild des Soldaten, den Männlichkeitsbildern und der Heroisierung des Frontkämpfers durch den Nationalsozialismus kann er deutlich machen, welch großer Schritt es für die Soldaten gewesen sein muss, sich dem entgegenzustellen. Die Stigmatisierung und Ausgrenzung als „Vaterlandsverräter“ war umfassend und hat viele der Deserteure nach dem II. Weltkrieg über Jahrzehnte dazu gebracht, zu schweigen.
Interessant zu sehen sind ebenso die Verbindungen der Militärjustiz bis weit hinein in die Gesellschaft der Bundesrepublik. Beispielhaft wäre hier Erich Schwinge zu nennen, der mit dem von ihm herausgegebenen Gesetzeskommentar zum NS-Militärrecht maßgeblich dazu beigetragen hatte, dass etwa 30.000 Todesurteile gegen Soldaten ausgesprochen wurden, die den Gehorsam verweigerten. Mindestens 21.000 davon wurden vollstreckt. Später war Erich Schwinge Rechtsprofessor und gab 1977 ein Buch zur Wehrmachtsjustiz im NS-Staat heraus. Es wurde lange als Standardwerk über die NS-Wehrmachtsjustiz gehandelt und rechtfertigte die deutlich heruntergerechnete Zahl von Todesurteilen gegenüber Deserteuren.
Die Forschung durch Manfred Messerschmidt, Fritz Wüllner, Wolfram Wette und viele andere hat seit dem Ende der 1980er Jahre entscheidend dazu beigetragen, die bis dahin vorherrschende Stigmatisierung der Deserteure aufzuheben und vor allem deutlich zu machen, welch ungeheures Verbrechen die Wehrmacht hier im Dienst des Nationalsozialismus und Militarismus begangen hat. Es war das Material, das den Initiativen, die sich in den verschiedensten Städten für Denkmäler für Deserteure einsetzten, oder auch den Deserteuren selbst, die sich in der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz zusammenschlossen, entscheidende Grundlagen geliefert hat. Nur in der Verbindung konnte es gelingen, dass 2009 endlich eine umfassende Rehabilitierung durch den Bundestag erfolgte.
Ralf Buchterkirchen weist zudem auf aktuelle Fälle hin. Ihm gelingt es so in seinem Buch, all diese Themen zusammenzutragen und damit deutlich zu machen, welche Bedeutung die Desertion im II. Weltkrieg und aktuell hat als „Tat gegen die militärische Logik“. Kurz gesagt: Ein lesenswertes Buch.
Rudi Friedrich: Rezension. 2.2.2012. zum Buchtitel Ralf Buchterkirchen: „...und wenn sie mich an die Wand stellen“, Verlag Arbeitskreis Regionalgeschichte e.V., Neustadt 2011. ISBN: 978-3-930726-16-5, 13,90 €
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