Israelische Armee fängt DeserteurInnen und MilitärdienstentzieherInnen ein

von Sahar Vardi

Nach offiziellen Angaben des israelischen Militärs gibt es 2.700 DeserteurInnen und 1.780 MilitärdienstentzieherInnen in Israel. Allein in der letzten Woche hat die israelische Armee 474 von ihnen bei der bisher größten Maßnahme zur Festnahme von DeserteurInnen verhaftet. Wer sind sie und welches Interesse steht hinter dieser Maßnahme, die so viel Ressourcen des Militärs benutzt, um sie einzufangen?

Der Mai brachte Nachrichten über die „Jagdsaison“ der Militärpolizei. In den letzten Tagen hat die israelische Armee Hunderte der 4.500 DeserteurInnen und MilitärdienstentzieherInnen festgenommen. Haftzentren für eine zeitweilige Gewahrsamsnahme wurden dafür errichtet, andere Gefangene wurden freigelassen, um Raum zu schaffen. Die Medien haben damit gedroht, dass gegen Verhaftete für den Rest ihres Lebens Strafverfahren anhängig sein werden. Hunderte von Militärpolizisten werden im ganzen Land zivile Wohnungen durchsuchen, um Beute zu machen.

Die Frage, die unbeantwortet bleibt ist: Wer sind sie? Wer sind die DeserteurInnen und Drückeberger, die im ganzen Land gejagt werden? Und auch: Wer profitiert davon?

In meiner Jugend habe ich einige wenige DeserteurInnen der verschiedensten Art getroffen, einige von ihnen in meiner Zeit im Militärgefängnis, in dem ich wegen meiner Kriegsdienstverweigerung saß, andere bei meinen Aktivitäten für New Profile. Ich habe sehr tolle Menschen getroffen und schockierende Geschichten gehört, die mir mehr erzählt haben über unsere Gesellschaft, als jede Schule, Universität oder Erfahrung der freiwilligen Arbeit es je könnten.

Wer sind also diese Deserteure und Deserteurinnen? Hier ein paar Beispiele:

Die Deserteurin ist eine junge Frau, die zunächst einen Monat in der Kaserne war, dann einige Monate nach Hause ging, um ihrer Familie dabei zu helfen, über die Runden zu kommen, dann einige Monate im Militärgefängnis verbracht hat. Es gibt viele wie sie.

Der Deserteur ist ein Kamerad, der zwei Mal versucht hat, Selbstmord zu begehen und dessen Kommandeure sich immer noch weigerten, ihn Ernst zu nehmen. Da ging er nach Hause, statt noch einen Versuch zu unternehmen, sich umzubringen. Es gibt viele wie ihn.

Der Deserteur ist ein Kampfsoldat, stationiert in den Besetzten Palästinensischen Gebieten, dem die Kommandeure nicht gestatteten, zu einem Armeepsychologen zu gehen, um zu bewältigen, was er dort gesehen hat. Deswegen entfernte er sich unerlaubt von der Truppe, um ins Gefängnis zu gehen und dort einen Psychiater aufzusuchen und mit ihm zu sprechen. Es gibt viele wie ihn.

Die Deserteurin ist eine neue Einwandererin, die sich nicht wohl fühlt und das Land verlässt. Als sie zurück kommt, realisiert sie, dass sie eine Militärdienstentzieherin ist. Es gibt viele wie sie.

Der Deserteur ist ein Soldat, dem es im Militär gut ging, der aber keine Arbeitserlaubnis erhielt. Als ihn seine Mutter anruft und berichtet, dass die Gerichtsvollzieher vor der Tür stehen, rennt er nach Hause um zu arbeiten, wie er es getan hat, seitdem er 15 Jahre alt ist. Es gibt viele wie ihn.

Die Deserteurin ist eine junge Frau, die von ihrem Kommandeur sexuell misshandelt wird. Als sie eine Versetzung verweigert, entfernt sie sich unerlaubt, um aus der Einheit geworfen zu werden. Es gibt viele wie sie.

Der Deserteur ist ein Druse, der die vollen drei Jahre Dienst in der Armee geleistet hat, um festzustellen, dass ihn die israelische Gesellschaft auch weiter als Araber ansieht, ein Bürger zweiter Klasse, der noch nicht einmal eine Straße mit einer Anschrift hat, da wo er wohnt – und damit auch die Einberufung zum Reservedienst nicht erhält. Zwanzig Jahre später wird er von einem Polizisten verhaftet und darüber informiert, dass er seit zwanzig Jahren ein Militärdienstentzieher ist. Es gibt viele wie ihn.

Die Deserteurin ist eine der Freundinnen Deiner Tochter – oder eine entfernte Verwandte. Der Deserteur ist Dein kleiner Bruder oder der Sohn Deiner Freunde. Ein Deserteur kann jeder sein, der dem Militär nicht gewachsen ist und insbesondere Menschen, die nichts mit dem Militärsystem zu tun haben wollen.

Und nun frage ich: Wer profitiert von dieser Jagdsaison? In wessen Interesse wird sie durchgeführt? Ganz sicher werden nicht alle 4.500 DeserteurInnen, die Angst vor Verhaftung haben oder bereits verhaftet wurden, gejagt und eingesperrt werden. Es ist sicher nicht zum Nutzen ihrer Eltern, ihrer Familie und ihrer Freunde, wenn die Militärpolizei ihre Wohnungen durchsucht und Raum für Raum durchkämmt, um irgendjemanden einzufangen.

Ist es im Interesse der Armee, so viel Soldaten damit zu beschäftigen, gerade diese Menschen einzufangen? Nützt das einer Armee, die 56% der Bevölkerung vor der Einberufung oder während des Militärdienstes von der Wehrpflicht ausschließt? Ist es im Interesse der Armee angesichts der Tatsache, dass eine Untersuchungskommission des Militärs bezüglich der Wehrpflicht zu der Empfehlung kam, die Armee in eine Berufsarmee umzuwandeln, diese Empfehlung aber nie umgesetzt wurde?

Es gibt nur einen „sozialen“ Vorteil bei dieser Verschwendung von Ressourcen und Schikanierung der Youngsters. Es ist sehr offensichtlich Teil der Kampagne für eine allgemeine Wehrpflicht. Diejenigen, die Dienst geleistet haben, wollen nicht die Dummen sein. Was sie nicht verstehen können ist, dass sie es bereits sind. Das überflüssige Wehrpflichtgesetz ist es, was ihnen Unrecht zufügt, ihre Rechte und ihre Freiheit verletzt, nicht diejenigen, die es sich nicht leisten können, der Pflicht nachzukommen.

Hier eine Idee: Statt dass die israelische Armee den Mädchen auf Facebook hinterherspioniert, statt dass hunderte von JägerInnen ihr Netz über das Land werfen und neue Haftzentren aufbauen, statt dass Youngsters dazu gezwungen werden zwischen ihrem Leben und Familie und dem Militärdienst zu wählen, statt dass Regierungen kommen und gehen und wieder kommen, während die (bislang von der Wehrpflicht ausgenommenen) ultra-Orthodoxen mit der Wehrpflicht Geschäfte machen und statt dass sich diejenigen, die Dienst leisten, wie die Dummen vorkommen – ist es vielleicht Zeit zu dem Schluss zu kommen, dass die „Volksarmee“ gestorben ist und die Wehrpflicht abzuschaffen ist. Für alle.

Sahar Vardi: IDF on ‘hunt’ for draft dodgers, deserters. 22. Mai 2012. Sahar Vardi ist aktives Mitglied von New Profile – einer feministischen Organisation zur Demilitarisierung der israelischen Gesellschaft. Sahar Vardi verweigerte 2008 den Militärdienst. Dieser Artikel wurde ursprünglich in Hebräisch veröffentlicht und von Tal Haran ins Englische übersetzt. Übersetzung aus dem Englischen: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Juni 2012.

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