Türkei: Menschenrechte und Militär
Bericht an die UN-Menschenrechtskommission, 104. Sitzung
Zusammenfassung
War Resisters‘ International (WRI) ist besorgt über die schweren Menschenrechtsverletzungen gegenüber Kriegsdienstverweigerern und AntimilitaristInnen in der Türkei. Die wesentlichsten Punkte sind:
- Die Türkei erkennt trotz Wehrpflicht das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht an.
- Kriegsdienstverweigerer werden wiederholt verurteilt, wegen ihrer Weigerung, Militärdienst abzuleisten. Sie werden wegen Desertion, Ungehorsam oder Gehorsamsverweigerung verurteilt. Dies stellt eine Verletzung der Artikel 18 und 14 des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte dar.
- Im Gefängnis sind Kriegsdienstverweigerer oft Misshandlungen und schlechter Behandlung sowohl von der Gefängnisverwaltung als auch von anderen Gefangenen ausgesetzt.
- Auch nach ihrer Freilassung aus dem Gefängnis leben Kriegsdienstverweigerer oft in einem rechtlichen Schwebezustand, eine Situation, die der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte als „zivilen Tod“ bezeichnet. Sie können nicht heiraten, ihre Kinder nicht registrieren lassen, nicht legal arbeiten, keinen Ausweis bekommen oder sich bezüglich irgend einer anderen Sache an die Behörden wenden. Das gleiche trifft auch auf diejenigen zu, die ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt haben, aber nicht verhaftet wurden.
- Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten sehen sich oft mit Anklagen wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“ (Artikel 318 des Türkischen Strafgesetzbuches) konfrontiert, weil sie das Militär kritisiert haben oder über die Kriegsdienstverweigerung sprachen. Das verletzt Artikel 19 des Internationalen Paktes.
1. Einführung
War Resisters‘ International arbeitet zur Kriegsdienstverweigerung in der Türkei, seitdem dort Anfang der 1990er Jahre eine politische Kriegsdienstverweigerungsbewegung entstand. Die enge Zusammenarbeit mit KriegsdienstverweigerInnen und UnterstützerInnen in der Türkei ermöglicht War Resisters‘ International eine einzigartige und über lange Zeit gehende Perspektive zur Situation der Kriegsdienstverweigerer im Land.
Aufgrund dieser Erfahrungen befasst sich dieser Bericht mit den zwei wichtigsten Menschenrechtsproblemen, denen sich Kriegsdienstverweigerer und AntimilitaristInnen in der Türkei gegenübersehen:
- die fehlende Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und die daraus resultierende Verfolgung der Kriegsdienstverweigerer.
- die Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern und AntimilitaristInnen nach Artikel 318 des Türkischen Strafgesetzbuches, weil sie an die Öffentlichkeit gehen und ihre Solidarität zur Kriegsdienstverweigerung erklären.
In beiden Fällen kam es zu Inhaftierungen, zumeist sogar zu mehrmaligen Inhaftierungen.
Obwohl der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Fall des Kriegsdienstverweigerers Osman Murat Ülke bereits im Januar 2006 geurteilt hatte, dass die wiederholte Bestrafung, der er ausgesetzt war, eine unmenschliche und entwürdigende Behandlung darstellt, hat sich seitdem nichts Substantielles geändert. Die Arbeitsgruppe zu Willkürlicher Haft befasste sich zwei Mal mit Fällen von Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei, 1999 und 2008. Am 22. September 2011 hat eine Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Urteil Erçep v. Türkei (Antrag Nr. 43965/04) das Recht auf Kriegsdienstverweigerung bestätigt.
2. Rekrutierung in der Türkei
2.1 Wehrpflicht
Nach Artikel 72 der Verfassung von 1982 – die nach dem Militärputsch 1980 verabschiedet wurde – müssen alle türkischen Staatsbürger einen sogenannten „Vaterlandsdienst“ ableisten: „Der Vaterlandsdienst ist jedes Türken Recht und Pflicht. In welcher Weise dieser Dienst in den Streitkräften oder im Öffentlichen Sektor erfüllt wird oder als erfüllt gilt, wird durch Gesetz geregelt.“
Das bedeutet: Die türkische Verfassung überlässt es dem Gesetzgeber, wie der „Vaterlandsdienst“ auszuführen ist. Theoretisch könnte es auch ein nicht-militärischer Dienst sein.
Im türkischen Gesetz wird der „Vaterlandsdienst“ durch das Militärdienstgesetz (Gesetz Nr. 1111) und das Gesetz für Reserveoffiziere und Reservisten (Gesetz Nr. 1076) geregelt. Artikel 1 des Militärdienstgesetzes besagt, dass jeder Mann, der Staatsbürger der türkischen Republik ist, verpflichtet ist, die bewaffnete Militärausbildung zu machen, unabhängig vom Alter. Das Gesetz Nr. 1111 wurde 1927 in Kraft gesetzt und legt fest, dass der „Vaterlandsdienst“ aus einer Militärdienstpflicht besteht, so dass die Verweigerung der Ableistung des „Vaterlandsdienstes“ eine Straftat nach dem Militärstrafgesetzbuch darstellt.
Das Gesetz 1111 wurde 1992 geändert, als das Gesetz 3802 am 1. Juni 1992 in Kraft trat. Weitere Änderungen des Gesetzes gab es am 19. Februar 1994.
Die Länge des Militärdienstes beträgt 15 Monate. Hochschulabgänger können einen sechsmonatigen Militärdienst oder bei einer Ausbildung zum Reserveoffizier einen zwölfmonatigen Militärdienst ableisten. Bestimmte Berufsgruppen (Ärzte, Lehrer, Beamte) können den Dienst in anderer Form ableisten. Aber auch dieser Dienst findet in den Streitkräften und mit Uniform statt. Üblicherweise werden diese Dienstleistenden nicht in Kampfhandlungen eingesetzt.
Alle Männer zwischen 19 und 40 Jahren sind zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet. Männer, die ihren Dienst mit 40 Jahren noch nicht erfüllt haben und die nicht gesetzlich von der Ableistung des Dienstes ausgenommen wurden, können auch nach dem Alter von 40 Jahren einberufen werden.
Polizeibeamte sind von der Ableistung des Militärdienstes ausgenommen. Unter bestimmten Bedingungen kann ein Mann, dessen Bruder während des Militärdienstes starb, von der Ableistung des Dienstes ausgenommen werden.
Studenten können sich bis zum Alter von 29 zurückstellen lassen, im Falle von weiterführenden Studiengängen bis zum Alter von 35.
Nach der Ableistung des Militärdienstes besteht eine Reservedienstpflicht bis zum Alter von 40 Jahren.
2.2 Berufssoldaten
Obwohl die türkische Botschaft im Dezember 2007 der WRI mitteilte, dass „es in der Türkei keine Berufssoldaten gibt“, schrieben zwei Autoren der türkischen Streitkräfte in einer Studie der NATO im Oktober 2007, dass der Dienst von Berufssoldaten in der Türkei durch das Soldatengesetz Nr. 926 geregelt sei.
Derzeit können Frauen als Beamte in den Streitkräften Dienst leisten, aber nicht als Soldaten oder Unteroffiziere. Nach dem Abschluss einer Militärschule oder dem Abschluss einer vierjährigen Ausbildung als Militärstudentin in einer zivilen Universität haben Offiziere einen 15-jährigen Dienst abzuleisten. In vergleichbarer Weise haben Unteroffiziere in der türkischen Armee einen Dienst von 15 Jahren abzuleisten.
Soldaten mit einer Fachausbildung (Spezialisten) sind ehemalige Wehrpflichtige, die als Berufssoldaten eingesetzt werden. Sie werden an Stellen eingesetzt, die eine kontinuierliche Tätigkeit erfordern, wie Gruppenleiter, Panzerfahrer, Panzerschütze, Mechaniker, Feldwebel der Artillerie usw. Diese Fachkräfte werden aus den qualifizierten Wehrpflichtigen heraus ausgewählt, die ihren Militärdienst abgeleistet haben. Ihr erster Vertrag hat eine Laufzeit von zwei Jahren der abhängig von der Qualifikation der Person, ihrer Bereitschaft und den Erfordernissen des Dienstes um jeweils ein bis fünf Jahre verlängert werden kann. Sie können bis zum Alter von 45 dienen, bis sie mit einer Rente und Vergünstigungen pensioniert werden.
DefenseNews berichtete im Mai 2008, dass die türkische Armee ihre Praxis gestoppt habe, ehemalige Wehrpflichtige als Reserveoffiziere für Sondereinheiten abzukommandieren und dass „Berufssoldaten, auch aus den Sondereinheiten, das Rückgrat für den Kampf des türkischen Militärs gegen die separatistischen Kurden bilden“. Nach diesem Bericht „wird Ende des nächsten Jahres [2009 – WRI] kein Wehrpflichtiger mehr in Antiterror-Operationen verwickelt sein, die von den Einheiten auf beiden Seiten der türkischen Grenze zum Irak durchgeführt werden, wo das Militär gegen die geächtete Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) kämpft.“ Gegenwärtig umfassen die Kommandoeinheiten etwa 30.000 Soldaten.
Nach Angaben von Eurasia Daily Monitor sind 100.000 der ingesamt 600.000 umfassenden türkischen Armee Berufssoldaten. Auch wenn die Streitkräfte überwiegend aus Wehrpflichtigen bestehen, hat das türkische Militär in den letzten Jahren die Zahl der Berufssoldaten und Unteroffiziere erhöht. Es gab wohl wenig Probleme dabei, den Dienst für Rekruten attraktiv zu machen. 2007 beantragten 25.084 die Aufnahme als Spezialisten in der Armee, von denen nur 1.540 tatsächlich aufgenommen wurden. Weitere 3.018 sollen 2008 übernommen werden. Der Lohn ist im Vergleich zum üblichen Standard in der Türkei mit umgerechnet 1.000 US-Dollar netto im Monat gut. Er entspricht dem Gehalt eines Beamten im mittleren Dienst. Mit Vergünstigungen kann das Gehalt auf über 1.500 US-Dollar steigen, was fast fünf Mal mehr ist als das gegenwärtige Mindestgehalt.
Die neuen Entwicklungen beruhen auf einem Beschluss vom Mai 2008. Unklar bleibt, wer für den Beschluss verantwortlich ist.
3. Kriegsdienstverweigerung
3.1 Kriegsdienstverweigerung von Wehrpflichtigen
Die Türkei erkennt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung von Wehrpflichtigen nicht an. Artikel 72 der türkischen Verfassung stellt dazu fest: „Der Vaterlandsdienst ist jedes Türken Recht und Pflicht. In welcher Weise dieser Dienst in den Streitkräften oder im Öffentlichen Dienst erfüllt wird oder als erfüllt gilt, wird durch Gesetz geregelt.“ Das würde im Grundsatz eine nicht-militärische Alternative ermöglichen. Das türkische Gesetz sieht dies jedoch nicht vor.
In der Vergangenheit hat die türkische Regierung niemals die Einführung eines Gesetzes zur Kriegsdienstverweigerung erwogen. Eine Broschüre, die von den Streitkräften 1999 veröffentlicht wurde, stellt fest: „In unseren Gesetzen gibt es keine Regelungen für die Ausnahme von der Ableistung des Militärdienstes aus Gewissensgründen. Grund dafür ist die bedrückende Notwendigkeit für Sicherheit zu sorgen aufgrund der strategisch-geografischen Position unseres Landes und den uns umgebenden Umständen. So lange sich diese Faktoren, die die innere und äußere Sicherheit der Türkei bedrohen, nicht ändern, wird es als unmöglich angesehen, in unserer Gesetzgebung das Konzept der ‚Kriegsdienstverweigerung‘ einzuführen.“
Tatsächlich sagt Artikel 45 des Türkischen Militärstrafgesetzbuches ausdrücklich: „Niemand darf aus Glaubens- oder Gewissensgründen vom Militärdienst freigestellt und eine Bestrafung nicht behindert werden.“
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte im Fall des türkischen Kriegsdienstverweigerers Osman Murat Ülke vom Januar 2006 erklärte die türkische Regierung gegenüber dem Europarat, dass sich ein Gesetz in Vorbereitung befinde, um das Problem zu lösen. Da die türkische Regierung aber bislang keinerlei Details dazu vorgelegt hat, muss angezweifelt werden, dass ein Gesetz zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung erlassen wird. Auch die rechtliche Situation von Osman Murat Ülke hat sich bislang nicht geändert. Er wird weiter als Deserteur angesehen und es liegt ein Haftbefehl gegen ihn vor. Aber die türkische Regierung legte keinen Widerspruch gegen die Entscheidung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein und zahlte an Osman Murat Ülke auch die Entschädigung von 11.000 €.
Etwa 60 weitere erklärte Kriegsdienstverweigerer befinden sich in einer ähnlichen Situation, entweder nach einer Haft oder aufgrund ihrer öffentlichen Erklärung zur Kriegsdienstverweigerung und der Nichtbefolgung der Einberufung.
Im Mai 2008 gab die UN-Arbeitsgruppe zu Willkürlicher Haft eine Stellungnahme zum Fall von Halil Savda ab, der wiederholt inhaftiert und verurteilt worden ist. Die Arbeitsgruppe kam zu folgender Schlussfolgerung: „Die Freiheitsentziehung von Herrn Halil Savda vom 16. bis 28. Dezember 2004, 7. Dezember 2006 bis 2. Februar 2007 und 5. Februar bis 28. Juli 2007 war willkürlich. Auch seine Freiheitsentziehung seit dem 27. März 2008 ist willkürlich und stellt eine Verletzung der Artikel 9 und 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte und der Artikel 9 und 18 des Internationalen Paktes für bürgerliche und politische Rechte dar, die die Türkei ratifiziert hat. Sie fallen unter Kategorie II der für einen Antrag an die Arbeitsgruppe möglichen Kategorien. Sie fallen zudem unter Kategorie III der für einen Antrag an die Arbeitsgruppe möglichen Kategorien soweit Herr Savda seine Haftstrafe aus dem Urteil Nr. 2007/742-396 verbüßt.“
Am 22. November 2011 bestätigte eine Kammer des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte in ihrem Urteil zum Fall Erçep gegen Türkei (Antrag Nr. 43965/04) das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Der Fall betraf einen Zeugen Jehova aus der Türkei, der wiederholt inhaftiert wurde, weil er sich weigerte, ungefähr 15 Einberufungen zur Ableistung des Militärdienstes Folge zu leisten.
Dies folgte einem Urteil der Großen Kammer des Gerichts im Fall Bayatyan gegen Armenien, in dem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte seine bisherige Rechtsprechung zur Kriegsdienstverweigerung revidierte und „feststellte, dass die Ablehnung des Militärdienstes – wenn sie motiviert ist durch einen ernsthaften und unüberwindlichen Konflikt zwischen der Pflicht, Dienst in der Armee abzuleisten, und dem Gewissen oder tiefen und aufrichtigen religiösen oder anderen Überzeugungen des Einzelnen – eine Überzeugung oder einen Glauben mit einer ausreichenden Schlüssigkeit, Ernsthaftigkeit, Bindekraft und Bedeutung bildet, um unter die Garantien des Artikels 9 zu fallen.“
Es überrascht daher nicht, dass die neue Entscheidung der Kammer bestätigte, dass die Kriegsdienstverweigerung tatsächlich nach Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention (Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit) geschützt ist. In der Pressemitteilung erläuterte das Gericht, dass „Herr Erçep Angehöriger der Zeugen Jehovas ist, einer Gruppe, die den Militärdienst konsequent ablehnt. Es gab daher keinen Grund für Zweifel, dass die Verweigerung von nichts anderem motiviert wird, als von ernsthaftem religiösen Glauben.“ Weiter führt das Gericht die immer noch bestehende Situation für das Jahr 2006 aus: „In der Türkei waren alle für tauglich erklärten Personen dazu verpflichtet, sich nach einer Einberufung zur Ableistung des Militärdienstes zu melden. Es gab keinen alternativen zivilen Dienst. Kriegsdienstverweigerer hatten keine Möglichkeit, sich der Einberufung in die Armee zu verweigern, wenn sie ihren Überzeugungen treu bleiben wollten. Wenn sie das taten, unterlagen sie einer Art von ‚zivilem Tod‘ wegen der zahlreichen Strafverfahren, die die Behörden stets gegen sie eröffneten. Sie konnten damit einer Strafverfolgung für den Rest ihres Lebens unterliegen. Das Gericht stellte fest, dass diese Situation nicht vereinbar war mit dem Rechtssystem einer demokratischen Gesellschaft. (...) Das Gericht vertrat die Auffassung, dass die zahlreichen Verurteilungen von Herrn Erçep, die aufgrund seines Glaubens ergingen, eine Verletzung des Artikels 9 darstellen, zu einem Zeitpunkt, an dem in der Türkei kein alternativer Dienst die Möglichkeit eröffnete, eine faire Alternative wahrzunehmen.“
Neben dem Urteil zur Verletzung des Artikel 9 stellte das Gericht auch eine Verletzung des Artikel 6 (Recht auf ein faires Verfahren) fest: „Herr Erçep bemängelte die Tatsache, dass er als Zivilist vor einem Gericht erscheinen musste, das ausschließlich aus Offizieren des Militärs bestand. Das Gericht nahm zur Kenntnis, dass der Antragsteller nach dem Strafrecht kein Mitglied der Streitkräfte war, sondern eine Zivilperson, auch wenn er wegen Vergehen nach dem Militärstrafgesetzbuch angeklagt wurde. Desweiteren war nach einem Urteil des Gerichts zu Streitfällen der Gerichtsbarkeit (Jurisdiction Disputes Court) vom 13. Oktober 2008 klar, dass eine Person nach dem türkischen Strafgesetzbuch nur von dem Zeitpunkt an als Angehörige der bewaffneten Streitkräfte angesehen wird, wenn er oder sie sich beim Regiment zur Ableistung des Dienstes meldet. (...) Das Gericht sieht es als nachvollziehbar an, dass der Antragsteller, ein Zivilist, der vor einem Gericht steht, das nur aus Militärs besteht, der wegen Vergehen bezüglich des Militärdienstes angeklagt ist, besorgt darüber sein muss, dass die Richter Angehörige der Armee sind, die als Teil einer Partei des Verfahrens angesehen werden können. Unter solchen Umständen kann ein Zivilist berechtigterweise fürchten, dass das Militärgericht durch parteiische Rücksichtnahme unzulässig beeinflusst wird. (...) Anerkennend, dass die Zweifel des Antragstellers zur Unabhängigkeit und Unparteilichkeit dieses Gerichtes als objektiv gerechtfertigt angesehen werden müssen, stellt das Gericht eine Verletzung des Artikels 6 Absatz 1 fest.“
Dennoch erklärte der türkische Premierminister Recep Tayyip Erdoğan am gleichen Tag auf einer Fraktionssitzung der AKP, als der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte diese Entscheidung bekanntgab, dass dies Thema nicht mehr auf der Tagesordnung der Regierung stände.
3.2 Kriegsdienstverweigerung von Berufssoldaten
Da die Türkei nicht einmal Wehrpflichtigen die Möglichkeit der Kriegsdienstverweigerung eröffnet, gibt es entsprechend auch keine Möglichkeit für Berufssoldaten, die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung zu beantragen.
Das Gesetz 926 regelt den Dienst von Berufssoldaten und deren Möglichkeiten, den Dienst vorzeitig zu verlassen. Details dazu sind nicht bekannt.
4. Bestrafung der Kriegsdienstverweigerer
Kriegsdienstverweigerer werden üblicherweise angeklagt wegen Militärdienstentziehung, Befehlsverweigerung oder Desertion. Militärdienstentziehung und Desertion werden nach dem Militärdienstgesetz und dem Türkischen Militärstrafgesetzbuch verfolgt. Das türkische Gesetz kennt dabei einen Unterschied zwischen Erfassungsumgehung, Musterungsverweigerung, Verweigerung des Dienstantritts und Desertion.
Nach Artikel 63 des Strafgesetzbuches wird Militärdienstentziehung (in Friedenszeiten) bestraft mit:
- einem Monat Gefängnis für die, die sich entziehen und dann innerhalb von sieben Tagen von sich aus zum Dienst erscheinen;
- drei Monate Gefängnis für die, die sich bis zu sieben Tage entziehen und innerhalb dieser Frist verhaftet werden;
- zwischen drei Monaten und einem Jahr Gefängnis für die, die sich entziehen und dann innerhalb von drei Monaten von sich aus erscheinen;
- zwischen vier und 18 Monaten für die, die sich bis zu drei Monate entziehen und innerhalb dieser Frist verhaftet werden;
- zwischen vier Monaten und zwei Jahren für die, die sich entziehen und erst nach Ablauf von drei Monaten von sich aus erscheinen;
- zwischen sechs Monaten und drei Jahren für die, die sich entziehen und erst nach Ablauf von drei Monaten verhaftet werden;
- bis zu zehn Jahren Haft bei erschwerenden Umständen wie Selbstverstümmelung oder Verwendung gefälschter Dokumente nach den Artikeln 79-81 des Militärstrafgesetzbuches.
Desertion wird nach den Artikeln 66-68 des Türkischen Militärstrafgesetzbuches mit bis zu drei Jahren Haft bestraft. Deserteure, die ins Ausland geflohen sind, können mit bis zu fünf Jahren Haft bestraft werden, nach Artikel 67 im Fall von erschwerenden Umständen mit bis zu zehn Jahren Haft.
Es gibt eine strikte Überprüfung von Militärdienstentziehung und Desertion. Die Registrierung von Wehrpflichtigen ist in der Tat eine der effektivsten amtlichen Registrierungen in der Türkei. Militärdienstentzieher und Deserteure können bei Routineüberprüfungen wie Verkehrskontrollen verhaftet werden. Sie können die Türkei nicht verlassen, da ihre Militärdienstentziehung für alle Zöllner, für Einwanderungsbehörden oder Polizei sichtbar ist. Zudem sind Polizei und Gendarmerie verantwortlich dafür, Militärdienstentzieher und Deserteure aufzuspüren und können Hausdurchsuchungen und Verhaftungen durchführen.
Es gibt keine detaillierten Zahlen über das Ausmaß der strafrechtlichen Verfolgung von Militärdienstentziehern und Deserteuren. Es wird aber angenommen, dass sich Militärgerichte jedes Jahr mit schätzungsweise 60.000 Fällen von Militärdienstentziehung befassen. Ungefähr die Hälfte davon sind Fälle von Wehrpflichtigen, die sich für weniger als eine Woche entziehen. Das sind zumeist Wehrpflichtige, die nicht rechtzeitig in die Kaserne zurückkehren, z.B. nach einem Urlaub.
Haftstrafen von weniger als einem Jahr wegen Erfassungsvermeidung, Musterungsentziehung oder Desertion werden üblicherweise in Geldstrafen umgewandelt, die nach Ableistung des Militärdienstes gezahlt werden müssen. Haftstrafen wegen Militärdienstentziehung von mehr als drei Monaten, sofern sich der Wehrpflichtige nicht freiwillig gemeldet hat, werden nicht in eine Geldstrafe umgewandelt. Bei Erfassungsvermeidung, Musterungsentziehung oder Desertion werden die Strafen nicht zur Bewährung ausgesetzt.
Wer wegen Militärdienstentziehung verurteilt wurde, muss weiterhin die restliche Dauer des Militärdienstes ableisten. Wiederholte Anklagen können zu erneuten Verurteilungen führen. Haftstrafen bei erneuter Straffälligkeit werden nicht in Geldstrafen umgewandelt.
Wer zu einer Haftstrafe unter sechs Monate verurteilt wurde, verbüßt diese in der Regel in einem Militärgefängnis, bei Haftstrafen von über sechs Monaten ist die Haft in normalen Gefängnissen zu verbüßen. Nach der Haft müssen sie immer noch die restliche Zeit ihres Militärdienstes ableisten.
5. Fallbeispiele von Kriegsdienstverweigerern
Seit 1990 gibt es eine kleine Gruppe von Kriegsdienstverweigerern, die öffentlich erklären, dass sie den Militärdienst aus nicht-religiösen, pazifistischen Gründen verweigern. Die türkische Sprache unterscheidet zwischen Kriegsdienstverweigerern (vicdani retçi) und Militärdienstentziehern (asker kacağı).
Die ersten bekannten türkischen Kriegsdienstverweigerer waren Tayfun Gönül und Vedat Zencir, die ihre Verweigerung 1990 erklärten. Osman Murat Ülke, ein türkischer Staatsbürger, der in Deutschland aufwuchs und in die Türkei zurückkehrte, war der erste prominente Verweigerer und der erste, der wegen seiner Kriegsdienstverweigerung ins Gefängnis ging. 1995 hatte er öffentlich erklärt, dass er Kriegsdienstverweigerer ist und die Ableistung des Militärdienstes verweigern werde. Seitdem sind ihm Dutzende gefolgt. Zwischen 1995 und 2004 erklärten etwa 40 Männer ihre Verweigerung, zumeist über eine öffentliche Erklärung oder in Interviews gegenüber Medien, in denen sie ihre Motive darlegten.
Osman Murat Ülke
Der bekannteste Fall ist der von Osman Murat Ülke, der im Oktober 1996 verhaftet wurde und in den folgenden Jahren wegen verschiedener Anklagen wegen Befehlsverweigerung insgesamt 30 Monate in Haft war.
Obwohl er am 29. August 1995 von der Anklage nach Artikel 155 (Distanzierung des Volkes vom Militär) freigesprochen worden war, ordnete das Gericht seine Überstellung zum Rekrutierungsbüro an. Dort wurde ihm ein Marschbefehl ausgehändigt, nach dem er sich innerhalb von drei Tagen bei seiner Militäreinheit melden sollte. Stattdessen verbrannte er am 1. September 1995 die Einberufungspapiere während einer Pressekonferenz in İzmir und erklärte öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung.
Er wurde ein Jahr später, am 7. Oktober 1996 verhaftet. Wegen Befehlsverweigerung, die aus seiner Kriegsdienstverweigerung herrührt, folgten mehrere Verfahren. Er wurde wiederholt zu Gefängnisstrafen verurteilt, freigelassen, zurück zu seiner Einheit geschickt, verhaftet, verurteilt usw. Am 9. März 1999 wurde er schließlich freigelassen unter der Auflage, sich bei seiner Einheit zu melden. Seitdem lebt er ein halb-legales Leben. In der Stellungnahme (Opinion) 36/1999 erklärte die UN-Arbeitsgruppe zu Willkürlicher Haft, dass die Verhaftungen nach der ersten Verhaftung als Willkür anzusehen sind.
Am 24. Januar 2006 fällte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte ein rechtskräftiges Urteil zugunsten von Osman Murat Ülke und führte darin aus: „Das Gericht stellt fest, dass der Antragsteller trotz der häufigen Strafverfolgungen und Verurteilungen nicht von der Verpflichtung entbunden worden ist, seinen Militärdienst abzuleisten. Er ist bereits acht Mal zu Haftstrafen verurteilt worden, weil er sich weigerte, eine Uniform zu tragen. Jedes Mal, wenn er nach Verbüßung seiner Strafe aus dem Gefängnis entlassen wurde, wurde er zu seinem Regiment eskortiert, wo er nach seiner Weigerung, den Militärdienst abzuleisten oder eine Uniform anzuziehen, erneut angeklagt und ins Gefängnis überstellt wurde. Mehr noch, er muss den Rest seines Lebens mit dem Risiko leben, ins Gefängnis gebracht zu werden, wenn er darauf besteht, die Ableistung der Wehrpflicht zu verweigern. Das Gericht stellte in diesem Zusammenhang fest, dass es im türkischen Gesetz keine spezifischen Bestimmungen zur Bestrafung derjenigen gibt, die das Tragen einer Uniform aus Gewissens- oder religiösen Gründen verweigern. Es scheint, dass die dazu relevanten Regelungen sich aus den Regelungen des Militärstrafgesetzbuches ergeben, wonach jede Befehlsverweigerung eine Straftat darstellt. Dieser gesetzliche Rahmen war zweifellos nicht tauglich, um angemessene Mittel zur Verfügung zu stellen, mit denen auf Situationen eingegangen werden kann, wie der Verweigerung der Ableistung des Militärdienstes aus Gewissensgründen. Wegen der unangemessenen Natur der allgemeinen Gesetzgebung, die auf diese Situation angewandt wurde, unterliegt der Antragsteller dem Risiko einer endlosen Serie von Anklagen und Verurteilungen. Die zahlreichen Anklagen gegen den Antragsteller, die sich daraus ergebenden summierenden Effekte der Verurteilungen und der ständige Wechsel von Anklagen und Zeiten der Inhaftierung in Verbindung mit der Möglichkeit, dass er einer lebenslangen Strafverfolgung unterliegen könnte, stehen im Missverhältnis zu dem Ziel, die Ableistung seines Militärdienstes sicherzustellen. Sie sind eher einem Vorgehen zuzurechnen, dass die intellektuelle Persönlichkeit des Antragstellers unterdrücken soll, um Gefühle von Angst, Schmerzen und Verwundbarkeit in ihm auszulösen, um ihn so zu demütigen und zu entwürdigen und um seinen Widerstand und Willen zu brechen. Das Leben im Verborgenen, das mit einem „zivilen Tod“ zu vergleichen ist, das der Antragsteller gezwungenermaßen aufnehmen musste, stand nicht in Übereinstimmung mit den Strafregelungen einer demokratischen Gesellschaft. Deshalb sieht das Gericht in Anbetracht aller Umstände und bezüglich der Schwere und Wiederholung der Behandlung des Antragstellers, dass ihm damit schwere Schmerzen und Leid zugefügt wurden, die über das normale Maß einer Demütigung hinausgeht, die einer Verurteilung oder Haft innewohnen. In der Summe stellen die betreffenden Handlungen eine Erniedrigung im Sinne des Artikels 3 dar.“
Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte wurde Osman Murat Ülke die vom Gericht bestimmte Entschädigung ausgezahlt, seine Situation änderte sich aber nicht. Im Juli 2007 erfuhr er, dass es immer noch einen Haftbefehl gegen ihn gibt.
Obwohl der Ministerausschuss des Europarates wiederholt die Türkei aufgerufen hat, die Verfolgung von Osman Murat Ülke zu beenden, hat sich seine Situation bislang nicht geändert.
Halil Savda
Halil Savda wurde 1974 in Sirnak/Cizre geboren und schloss die Grundschule ab. 1993 wurde er verhaftet und einen Monat in Sirnak/Cizre festgehalten, wo er wiederholt gefoltert wurde. Das Staatssicherheitsgericht klagte ihn schließlich wegen „Unterstützung einer illegalen Organisation (Kurdische Arbeiterpartei PKK) an. Er kam dann ins Gefängnis, aus dem er 1996 entlassen wurde.
Der Hintergrund des Falles von Halil Savda ist erschreckend:
1. Halil Savda wurde 1996 zum Militärdienst einberufen. Zunächst folgte er der Einberufung und schloss die Grundausbildung ab. Dann aber verweigerte er den Befehl, sich bei einer anderen Einheit zu melden. Er wurde 1997 verhaftet. Das Staatssicherheitsgericht Adana verurteilte Halil Savda zu 15 Jahren Gefängnis wegen „Mitgliedschaft in einer illegalen Organisation“. Das Gericht befand ihn für schuldig, Mitglied der PKK zu sein, was Halil Savda abgestritten hatte. Halil Savda ist aus dem gleichen Grund 1993 festgenommen worden. Er kam dann aber nach einem Monat frei. Während seiner Inhaftierung wurde er wiederholt gefoltert.
2. Am 18. November 2004 wurde Halil Savda aus der Haft entlassen und der Gendarmerie in Antep überstellt, weil er 1996 vom Militärdienst desertiert sei. Er wurde sechs Tage lang in Isolationshaft gehalten. Am 25. November wurde er der Militäreinheit in Corlu-Tekirdağ überstellt, wo er seine Kriegsdienstverweigerung erklärte.
3. Am 16. Dezember 2004 ordnete das Militärgericht Corlu seine Verhaftung wegen „wiederholter Befehlsverweigerung“ an.
4. Am 28. Dezember 2004 wurde Halil Savda nach einer Gerichtsanhörung aus der Haft entlassen, unter der Anordnung, dass er sich bei der Militäreinheit in Corlu-Tekirdağ zu melden habe. Halil Savda folgte dieser Aufforderung nicht und ging stattdessen nach Hause.
5. Am 4. Januar 2005 verurteilte das Militärgericht Corlu Halil Savda in Abwesenheit zu drei Monaten und 15 Tagen Haft. Halil Savda legte Berufung gegen das Urteil ein.
6. Am 13. August 2006 hob das Berufungsgericht des Militärs aufgrund von Verfahrensfehlern die Entscheidung des Militärgerichtes vom 4. Januar 2005 auf.
7. Am 7. Dezember 2006 erschien Halil Savda zum Wiederholungsverfahren zur Kriegsdienstverweigerung. Das Gericht ordnete während des Prozesses seine Festnahme an. Halil Savda wurde im Gerichtssaal verhaftet.
8. Am 25. Januar 2007 ordnete das Militärgericht Corlu die Freilassung von Halil Savda an, überwies in aber zugleich an die 8. Panzerbrigade in Tekirdağ. Dort wurde ihm befohlen, eine Uniform anzuziehen, was er verweigerte. Er wurde erneut verhaftet und wegen „wiederholter Befehlsverweigerung“ angeklagt. Während seiner Haft litt er unter heftigen Misshandlungen von vier Wachhabenden. Er musste drei Tage in Isolationshaft verbringen, nur bekleidet mit seiner Unterwäsche und ohne Möglichkeit zu schlafen oder zu sitzen.
9. Am 15. März 2007 verurteilte das Militärgericht Corlu Halil Savda zu 15½ Monate Haft wegen Desertion und Befehlsverweigerung aufgrund seiner Desertion 1996 und seinen Weigerungen, Befehlen Folge zu leisten, im Jahr 2004.
10. Am 12. April 2007 verurteilte ihn das Militärgericht Corlu zu weiteren sechs Monaten Haft, womit die gesamte Haftstrafe auf 21 ½ Monate anstieg.
In der Stellungnahme (Opinion) 16/2008 erklärte die Arbeitsgruppe zu Willkürlicher Haft der Vereinten Nationen die wiederholten Verhaftungen von Halil Savda als willkürlich.
Seit seiner Entlassung aus der Haft wurde Halil Savda zusätzlich nach Artikel 318 des Türkischen Strafgesetzbuches verfolgt.
Mehmet Tarhan
Mehmet Tarhan erklärte am 27. Oktober 2001 in den Räumen des Menschenrechtsvereins (İHD) in Ankara seine Kriegsdienstverweigerung. Er wurde am 8. April 2005 verhaftet. Er wurde ins Gefängnis geschickt, wo er wiederholt misshandelt und missbraucht wurde, was er wiederholt mit einem Hungerstreik beantwortete. Am 9. März 2006 wurde Mehmet Tarhan aus der Haft entlassen, da das Gericht davon ausging, dass er bei einer Verurteilung keine höhere Haftstrafe zu erwarten habe, als er bereits im Gefängnis war. Am 10. Oktober 2006 verurteilte ihn das Militärgericht in Sivas schließlich zu 10 Monaten Haft wegen „wiederholter Befehlsverweigerung vor versammelter Mannschaft“ am 10. April 2005 und zu einem Jahr und sechs Monaten Haft wegen einer weiteren Befehlsverweigerung am 10. Juni 2005. Aufgrund der Regelung zur Zusammenfassung von Haftstrafen in der Türkei wurde eine Gesamthaftstrafe von 25 Monaten festgelegt. Seit seiner Freilassung im März 2007 befindet sich Mehmet Tarhan in einer ähnlichen Situation wie Osman Murat Ülke. Er hat einen Marschbefehl, um sich bei seiner Einheit zu melden und lebt deshalb ein halb-legales Leben des „zivilen Todes“.
Enver Aydemir
Der türkische Kriegsdienstverweigerer Enver Aydemir wurde am 24. Dezember 2009 auf seinem Weg zu einer Konferenz zur Kriegsdienstverweigerung bei einer zufälligen Polizeikontrolle im Fährhafen von Kabataş in İstanbul festgenommen. Es stellte sich heraus, dass ein Haftbefehl aufgrund einer Verhaftung 2007 wegen Ungehorsam und möglicher Desertion gegen ihn vorlag. Er wurde in die Polizeistation Doğancılar überstellt und schließlich der Militärpolizei. Von dort kam er ins Militärgefängnis Maltepe, in dem 2008 schon der Kriegsdienstverweigerer İsmail Saygı schwer geschlagen worden war.
Enver Aydemir hatte am 24. Juli 2007 seine Kriegsdienstverweigerung erklärt, nachdem er zwangsweise zur 2. Gendarmerieeinheit Bilecik zur Ableistung des Militärdienstes einberufen worden war. Weil er sich aus religiöser Überzeugung weigerte, in einer säkularen Armee Dienst zu leisten, wurde er verhaftet und am 31. Juli 2007 in das Militärgefängnis Erzurum der 1. Taktischen Luftwaffeneinheit gebracht, wo er körperlich angegriffen wurde und ihn 10 Soldaten dazu zwangen, die Militäruniform anzuziehen.
Enver Aydemir war mehr als zwei Monate lang in Erzurum inhaftiert und wartete auf ein Verfahren wegen Befehlsverweigerung. In dieser Zeit wurde er mehrmals misshandelt. Er wurde am 24. Oktober 2007 während des Gerichtsverfahrens aus der Haft entlassen. Ihm wurde zugleich ein Marschbefehl ausgehändigt, sich bei der Militäreinheit in Bilecik zu melden. Da er ohne Begleitung von Soldaten freigelassen worden war, meldete sich Enver Aydemir nicht bei der Militäreinheit und ging stattdessen nach Hause. Seine Verhaftung im Dezember 2009 beruhte auf den gleichen Anklagen.
Am 1. April 2010 wurde Enver Aydemir vom Gericht in Eskişehir zu zehn Monaten Haft wegen Desertion verurteilt. Im Juni 2010 wurde er aus dem Gefängnis entlassen.
Inan Süver
İnan Süver wurde 2001 zum Militärdienst einberufen. Nach den vorliegenden Informationen desertierte er nach etwa 13 Monaten, wurde aber verhaftet. Er war daraufhin sieben Monate im Gefängnis. Es ist nicht klar, unter welchen Bedingungen er dann freigelassen wurde, da er weiter als Deserteur galt. Wahrscheinlich war ihm ein Marschbefehl ausgehändigt worden, mit der Aufforderung, zu seiner Einheit zurückzukehren.
Nach Informationen von Amnesty International wurde İnan Süver zumindest drei Mal wegen Desertion zu insgesamt 35 Monaten Haft verurteilt und war deswegen im Militärgefängnis. Er selbst berichtete, dass er im Militärgefängnis Şirinyer in İzmir wiederholt von Wachhabenden geschlagen worden sei.
İnan Süver erklärte in einem Brief an die Militärbehörden 2009 seine Kriegsdienstverweigerung.
Als İnan Süver desertierte, hatte er noch nie etwas von dem Konzept der Kriegsdienstverweigerung gehört. Als er davon erfuhr und der dahinter stehende Politik, erklärte er seine Verweigerung. In einem Interview mit der Nachrichtenagentur Dicle sagte er: „Wenn die Kriegsdienstverweigerung weithin bekannt wäre, wäre es das Ende des Krieges.“
Am 26. November 2010 wurde İnan Süver von den Militärbehörden ausgemustert. Am 9. Dezember 2011 wurde er vorzeitig entlassen. Seine Anwältin hatte einen Antrag auf Haftentlassung mit dem Argument gestellt, dass die Regierung erklärt habe, ein Gesetz zur Legalisierung der Kriegsdienstverweigerung zu verabschieden. Zudem gab sie gesundheitliche Gründe an. Das Militärgericht folgte dem ersten Teil der Argumentation.
Muhammed Serdar Delice
Muhammed Serdar Delice wurde am 27. November 2011 verhaftet. Er hatte seine Kriegsdienstverweigerung am 2. März 2010 erklärt, nach fünf Monaten Dienst in der türkischen Armee. Er kehrte vom Urlaub nicht zurück und erklärte stattdessen seine Verweigerung, da er keinen Dienst in einer nicht-muslimischen Armee leisten wolle. Nach den vorliegenden Informationen begann Serdar Delice am 18. Dezember 2011 einen Hungerstreik aus Protest gegen Misshandlungen in der Haft.
6. Verfolgung von Kriegsdienstverweigerern und AntimilitaristInnen wegen öffentlicher Äußerungen
Kriegsdienstverweigerer, die über ihre Kriegsdienstverweigerung in den Medien berichten oder Artikel veröffentlichen sowie Unterstützer von Kriegsdienstverweigerern, die öffentlich dazu Stellung beziehen, können nach Artikel 318 des Türkischen Strafgesetzbuches wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“ mit sechs Monaten bis zu zwei Jahren Haft bestraft werden. 2004 wurde ein neues Strafgesetzbuch eingeführt (Gesetz Nr. 5237). Nach dem zuvor gültigen Strafgesetzbuch wurde die „Distanzierung des Volkes vom Militär“ mit ähnlich hohen Strafandrohungen nach Artikel 155 verfolgt.
Von Beginn an hatte die antimilitaristische Bewegung in der Türkei nicht nur die Strafverfolgung wegen der Kriegsdienstverweigerung zu befürchten, sondern auch wegen kritischer Äußerungen über das Militär. Tatsächlich wurden die meisten türkischen Antimilitaristen zunächst nach Artikel 155 des Türkischen Strafgesetzbuches wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“ verurteilt. Nach Forderung der Europäischen Union wurde das Türkische Strafgesetzbuch überarbeitet. Nun erhielt der Artikel die Nummer 318, der Inhalt änderte sich aber im Wesentlichen nicht.
Als Tayfun Gönül und Vedat Zencir als erste 1989 ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt hatten, wurden sie nicht wegen Kriegsdienstverweigerung verurteilt, sondern nach Artikel 155. In ähnlicher Weise erging es anderen Verweigerern der ersten Generation sowie Journalisten, die sie interviewten. Auch sie wurden strafrechtlich verfolgt und oft nach Artikel 155 verurteilt. Einer der wichtigen ersten Fälle war 1993 das Verfahren gegen Erhan Akyıldız und Ali Tefvik. Beide wurden wegen ihres Interviews mit Aytek Özel, Kriegsdienstverweigerer und Vorsitzender des Vereins der KriegsgegnerInnen (SKD) am 8. Dezember 1993 im Fernsehkanal HBB angeklagt.
Der Produktionsleiter Erhan Akyıldız und der Reporter Ali Tevfik Berber wurden auf Anordnung des Generalstabs verhaftet und von einem Militärgericht angeklagt – das erste Mal, dass Zivilisten vor einem Militärgericht standen. Es wurden Haftbefehle gegen Aytek Özel und die Kriegsdienstverweigerer erlassen. Erhan Akyıldız und Ali Tevfik Berber erhielten die Mindeststrafe von zwei Monaten Haft. Aytek Özel, der sich am 8. Februar 2004 dem Militärgericht in Ankara stellte, wurde zu einem Jahr und 15 Tagen Haft verurteilt. Besonders bemerkenswert ist in diesem Fall die Tatsache, dass sich das Staatssicherheitsgericht zunächst für nicht zuständig erklärt hatte und so den Weg frei machte für das Verfahren von Zivilisten vor einem Militärgericht.
Auch im Fall von Osman Murat Ülke, dem ersten türkischen Kriegsdienstverweigerer, der wegen seiner Kriegsdienstverweigerung inhaftiert wurde, wurde das erste Verfahren wegen Artikel 155 aufgenommen. Er sah sich dem Vorwurf der „Distanzierung des Volkes vom Militär“ nach seiner Festnahme am 7. Oktober 2006 ausgesetzt. Das Verfahren endete mit einer Verurteilung, weil er öffentlich seine Einberufung verbrannt und seine Kriegsdienstverweigerung erklärt hatte.
In der letzten Zeit, nach der sogenannten „Strafrechtsreform“, gab es mehrere Fälle der Strafverfolgung nach Artikel 318:
- Am 12. Dezember 2004 gab Doğan Özkan, Aktivist der Kriegsdienstverweigerungsplattform des İstanbuler Zweigs des Menschenrechtsverein (İHD), eine Stellungnahme an die Presse ab. Er wurde am 20. September 2006 zu fünf Monaten Haft verurteilt. Das Urteil wurde in eine Geldstrafe von 3.000 Türkische Lira umgewandelt. Die Berufung ist noch anhängig.
- Perihan Mağden wurde mit Artikel 318 angeklagt, weil sie am 27. Dezember 2005 einen Artikel „Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht“ in Yeni Aktuel veröffentlicht hatte. Sie wurde am 27. Juli 2006 freigesprochen, weil das Gericht das Recht auf freie Meinungsäußerung als höherrangig wertete.
- Birgül Özbarış, Journalistin der Tageszeitung Özgür Gündem wurde sieben Mal angeklagt, den Artikel 318 verletzt zu haben, womit ihr eine Haftstrafe von bis zu 21 Jahren droht.
- Gökhan Gencay, Journalist der Zeitung Birgün wurden wegen Verletzung des Artikels 318 angeklagt, weil er am 10. Oktober 2005 ein Interview mit dem Kriegsdienstverweigerer Erkan Bolat veröffentlicht hatte. Sein Fall wurde vom Obersten Strafgericht zurückgewiesen.
- Halil Savda wurde nicht nur wiederholt wegen seiner Kriegsdienstverweigerung inhaftiert, sondern auch mehrere Male mit Artikel 318 angeklagt und verurteilt. Er wurde am 3. März 2011 rechtskräftig zu einer Haftstrafe von fünf Monaten verurteilt, weil er sich am 1. August 2006 öffentlich mit den israelischen Kriegsdienstverweigerern Itzik Shabbat und Amir Pasteur solidarisiert hatte. Die Anklage war vom 1. Sultanahmet Gericht İstanbul eröffnet worden. Am 2. Juni 2008 erging das Urteil von fünf Monaten, gegen das Halil Savda in Berufung ging. Das Urteil wurde vom Berufungsgericht bestätigt. Im Juni 2010 wurde Halil Savda in einem ähnlichen Fall verurteilt. Er hatte eine Erklärung zur Unterstützung des sich damals in Haft befindlichen Enver Aydemir abgegeben. Halil Savda wurde mit sechs Monaten Haft bestraft, wie auch drei weitere Unterstützer von Kriegsdienstverweigerern.
- Süleyman Tatar stand am 19. November 2011 wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“ nach Artikel 318 vor Gericht. Süleyman Tatar ist Mitglied der Plattform Kriegsdienstverweigerung für Frieden. Er wurde wegen seiner Stellungnahme während einer Protestaktion an der Universität Boğaziçi, die sich gegen den Militärdienst und gegen den Krieg richtete, angeklagt.
Es ist offensichtlich, dass Artikel 318 (wie auch der vorhergehende Artikel 155) dazu benutzt wird, um unerwünschte Meinungen zu unterdrücken. Jede Kritik des türkischen Militärs kann zu einer Verurteilung und Haftstrafe nach Artikel 318 führen. Deshalb ist eine offene Debatte über die Rolle des Militärs in der türkischen Gesellschaft nahezu unmöglich. Artikel 318 beinhaltet eine Höchststrafe von zwei Jahren, von drei Jahren, wenn der „Straftatbestand“ über die Medien begangen wurde. Im Juni 2011 wurde Artikel 318 in den Zusammenhang mit dem türkischen Anti-Terror-Recht gestellt und die Kriegsdienstverweigerung als „organisiertes Verbrechen“ und „Gefahr“ gebrandmarkt, womit die mögliche Haftstrafe auf bis zu 4,5 Jahre steigt.
War Resisters‘ International: Turkey – Human Rights and the Armed Forces. Report to the Human Rights Committee 104th Session. London, 21.12.2011. Übersetzung: rf
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