Für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei
(29.10.2013) Vor 20 Jahren erklärten die ersten Antimilitaristen in Istanbul öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung (KDV). Es folgten Jahre der gewaltfreien Aktionen, des zivilen Ungehorsams und der internationalen Solidaritätsarbeit. Noch immer fehlt in der Türkei der Durchbruch: die Anerkennung der KDV als Menschenrecht. Auch öffentliche Äußerungen werden weiter verfolgt. Aber es gelang, auf internationaler Ebene wegweisende Entscheidungen zu erreichen und darüber auch in der Türkei das Tabu zu brechen, überhaupt über die Kriegsdienstverweigerung zu reden.
Weitere Informationen und KontakteAktuelle Broschüre (November 2013) zum Thema mit Hintergrundinformationen und Interviews (...mehr) Verein für Kriegsdienstverweigerung (VR-DER): www.vicdaniret.org Plattform der Kriegsdienstverweigerer für den Frieden (BİVRP): www.barisicinvicdaniret.org Türkische Website zu Antimilitarismus und Kriegsdienstverweigerung: www.savaskarsitlari.org Informationen zur Freikaufsregelung, Ausbürgerung, Ausmusterung und Asyl in deutsch (...mehr) und türkisch (...mehr) Antimilitaristische Initiative Hamburg (auch für Fragen zur Freikaufsregelung): gegen_kopfgelderpressung(at)gmx.de |
Seit Anfang 2012 machen nun Kriegsdienstverweigerer und -verweigerinnen in der Türkei mobil. Ein Gesetzentwurf wurde eingebracht wie auch ein Vorschlag zur Aufnahme des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in einer neuen Verfassung. Es fanden Aktionen und Veranstaltungen an verschiedensten Orten in der Türkei statt. Im Mai 2013 gründete sich in Istanbul der Verein für Kriegsdienstverweigerung (Vicdani Ret Derneği - VR-DER). Im November 2013 tourte Coşkun Üsterci durch Deutschland, um auch im Ausland und unter der dort lebenden türkischsprachigen Community für die Kriegsdienstverweigerung zu werben. Einzelne Berichte dazu finden sich unter den rechts stehenden Links.
Ausgangslage
Die Türkei erkennt das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht an. Jeder türkische Mann ist mit 20 Jahren zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet. Kriegsdienstverweigerer, die die Ableistung des Militärdienstes verweigern, werden wegen Befehlsverweigerung angeklagt und nach Verbüßung der Haftstrafe erneut einberufen. Dieser Teufelskreis kann ein Leben lang fortbestehen, da die Wehrpflicht in der Türkei erst nach Ableistung des Militärdienstes als erfüllt gilt.
Nach Angaben der Website www.savaskarsitlari.org haben 550 Personen in den letzten 20 Jahren in der Türkei ihre Kriegsdienstverweigerung öffentlich erklärt, dazu kommen noch über 200 türkische Wehrpflichtige, die ihre Erklärung im Ausland öffentlich gemacht haben. Nach Angaben der Zeitung Sabah sind 750.000 wehrflüchtig (...mehr), haben sich also nicht zur Ableistung des Militärdienstes gemeldet.
Kriegsdienstverweigerer oder Wehrflüchtige, die in der Türkei leben, haben dafür einen hohen Preis zu zahlen: Sie alle sind praktisch illegalisiert, ohne bürgerliche Rechte. Es ist ein Leben im Geheimen, das der EGMR als „zivilen Tod“ bezeichnete. Praktisch bedeutet das, dass sie in der Türkei keinen Pass erhalten können. Sie können kein Konto anmelden, nicht heiraten, ihre Kinder nicht anerkennen und keiner legalen Arbeit nachgehen. Sie sind nicht sozialversichert und können überhaupt nicht daran denken, jemals eine Rente zu erhalten. Sie sind praktisch rechtlos.
Hinzu kommt, dass die öffentlichen Erklärungen von Kriegsdienstverweigerern und –verweigerinnen auch immer wieder nach Artikel 318 des türkischen Strafgesetzbuches strafrechtlich verfolgt werden, wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“.
In der Türkei hat das Militär nach wie vor eine große Bedeutung. Es ist in zwei Kriege bzw. Konflikte involviert. Die Wehrpflichtarmee der Türkei ist mit 610.000 Soldaten eine mächtige Institution im Land. Die Stärke des Militärs gründet sich auch auf der Überzeugung, dass sie als Garant einer unparteiischen laizistischen Führung angesehen wird, die das Land in eine unabhängige, westlich orientierte, moderne Nation verwandelt.
Auf der anderen Seite wird von 750.000 Wehrflüchtigen ganz praktisch mit den Füßen abgestimmt: die Armee hat offensichtlich ein Legitimitätsproblem. Die türkische Regierung reagierte im Oktober 2013 auf diese Situation mit Zuckerbrot und Peitsche: Die Dienstzeit wurde per Kabinettsbeschluss von 15 auf 12 Monate verkürzt. Zugleich wurde angekündigt, dass die Daten der Wehrflüchtigen nun in das zentrale Fahndungssystem eingespeist werden sollen. Damit wird es sehr viel wahrscheinlicher, dass Militärdienstentzieher bei einer zufälligen Kontrolle aufgegriffen und den Rekrutierungsbüros ausgeliefert werden (...mehr). Die Umsetzung eines Rechts auf Kriegsdienstverweigerung ist nach wie vor nicht in Sicht.
Für die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung
Über die letzten 20 Jahre gelang es der kleinen, international gut vernetzten antimilitaristischen Bewegung, das Thema Kriegsdienstverweigerung in die Gesellschaft zu tragen. Die meisten linken Organisationen und Menschenrechtsgruppen fordern es inzwischen selbst, Medien weisen immer wieder darauf hin. Selbst die dem Laizismus nahestehende Republikanische Volkspartei (CHP) diskutiert darüber. Es gibt inzwischen Kriegsdienstverweigerer mit unterschiedlichsten persönlichen Hintergründen und Motiven: antimilitaristisch, pazifistisch, islamisch, kurdisch usw.
Den Aktiven in der Türkei ist sehr wohl bewusst, dass die Umsetzung der Anerkennung nicht den Gesetzgebern überlassen werden darf, zu deutlich sind die abschreckenden Beispiele aus Nachbarländern wie Griechenland oder Armenien, in denen restriktivste Regelungen vorherrschen.
Auf die angekündigte Verkürzung des Militärdienstes machte der Verein in einer Presseerklärung am 30.10.2013 deutlich, was den Menschen wirklich unter den Nägeln brennt: „Das System der Wehrpflicht hat besonders infolge des Kriegs in Kurdistan ausgedient. Die Nachrichten von jungen Menschen, die in einem Krieg geopfert wurden, den sie nicht verstehen, hat besonders bei Familien von Soldaten zu heftigen Reaktionen geführt. Alle jungen Männer, die hierbei umgekommen sind, kommen ausgerechnet aus armen Familien. Das bestätigt: Es handelt sich um eine ‚soziale Wunde‘. Als Verein für Kriegsdienstverweigerung fordern wir eine sofortige Abschaffung der Wehrpflicht und die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Wir erklären unsere Solidarität mit den ‚Wehrflüchtigen‘ und rufen sie auf, als Protest auf die Menschenjagd ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären."
Unterstützen Sie die Aktivitäten der KriegsdienstverweigerInnen in der Türkei
Mit dem Projekt "Für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei" unterstützen wir deren Aktivitäten. Auf unserer Website berichten wir regelmäßig über die Entwicklungen in der Türkei und die Arbeit des Vereins für Kriegsdienstverweigerung. Das Projekt wird seit Mai 2012 finanziell gefördert von der Bewegungsstiftung.
Bewegung braucht Aktive. Ganz in diesem Sinne bitten wir auch Sie um Unterstützung dieses Projektes:
- Informieren Sie andere über die prekäre Situation in der Türkei, aber auch über die Möglichkeiten, sich bereits jetzt der Wehrpflicht zu entziehen und somit den Kriegsdienst zu verweigern. Informationen dazu finden sich in unserer Broschüre „Kriegsdienstverweigerung in der Türkei“, die im Mai 2012 erschienen ist.
- Übersetzen Sie für uns Texte aus dem Türkischen ins Deutsche oder Englische – oder ins Türkische.
- Spenden Sie für die Arbeit der türkischen Kriegsdienstverweigerer über unsere Website (Stichwort: Türkei).
Connection e.V.: Für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei – Kurzbeschreibung des Projekts. Aktualisiert am 29.10.2013. Das Projekt wird gefördert durch die Bewegungsstiftung.
Stichworte: ⇒ Arbeit von Connection e.V. ⇒ Kriegsdienstverweigerung ⇒ Menschenrechte ⇒ Projekte ⇒ Türkei