Kriegsdienstverweigerung nach der Wehrpflicht
(25.09.2012) Mit Verweis auf einen Bericht des Europäischen Büros zur Kriegsdienstverweigerung (EBCO)1 legte Andreas Speck im September 2012 für die War Resisters‘ International weitere Fakten insbesondere zu den Militäreinsätzen der Europäischen Union, zur Kriegsdienstverweigerung von Soldaten und zur Militarisierung der Jugend dar. (d. Red.)
Einleitung
Meines Erachtens reicht es nicht aus, die Frage der Kriegsdienstverweigerung ausschließlich mit dem Blick auf das Menschenrecht zu beleuchten, wie dies im Bericht von EBCO geschieht, ohne zu sehen, mit welcher Motivation die Verweigerung erfolgt: als Weigerung Waffen zu tragen oder als Weigerung an einem Krieg oder der Vorbereitung zum Krieg teilzunehmen. Mit solchen Hintergründen ist die Kriegsdienstverweigerung eng verbunden mit einem Kampf gegen Krieg und Militarismus.
Ende der Wehrpflicht
EBCO legt in dem Bericht dar, dass die Wehrpflicht im Bereich der Europäischen Union zunehmend ausläuft. War Resisters‘ International begrüßt die Aussetzung oder Abschaffung der Wehrpflicht, da wir der Auffassung sind, dass die Wehrpflicht eine Verletzung grundlegender Menschenrechte darstellt: Deshalb wenden wir uns gegen das Recht eines Staates, Menschen zwangsweise zu rekrutieren. Wir sehen dabei allerdings einige Probleme.
In vielen EU-Ländern, in denen die Wehrpflicht ausgesetzt oder abgeschafft wurde, wurde zugleich das Recht auf Kriegsdienstverweigerung aufgehoben. Wie EBCO darstellt, gibt es gesetzliche Regelungen für die Kriegsdienstverweigerung von Berufssoldaten nur in den Niederlanden und Deutschland. In Großbritannien gibt es Regelungen im Militär, die eine Entlassung aufgrund einer Kriegsdienstverweigerung möglich machen. Der Fall von Michael Lyons2 zeigt jedoch, wie unzureichend diese sind.
In einigen Ländern der Europäischen Union, in denen die Wehrpflicht aufgehoben wurde, bestehen die Gesetze zur Kriegsdienstverweigerung fort, falls erneut eine Wehrpflicht eingeführt wird. Weder EBCO noch die WRI haben dazu wirklich eindeutige Informationen.
2011 haben allein in Deutschland 410 SoldatInnen – zumeist Soldaten auf Zeit – einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt.3 Es ist also notwendig, solch ein Recht zu haben, auch wenn die Rekrutierung auf freiwilliger Basis erfolgt. Wenn es nicht existierte, müssten einige der SoldatInnen andere Lösungen finden, um aus der Armee entlassen zu werden – oder sie müssen desertieren oder sich unterlaubt entfernen, womit sie Strafverfolgung und Inhaftierung zu befürchten haben.
Wir wissen nicht, wie viele SoldatInnen der Länder der Europäischen Union insgesamt die Armeen aus Gewissensgründen verlassen wollen und sich selbst in einem Dilemma wiederfinden, aber die Daten aus Deutschland legen nahe, dass die Zahl insgesamt leicht in die Tausende gehen könnte. Es ist ein nicht sichtbares Menschenrechtsproblem, und viele der Opfer sind sich vermutlich gar nicht bewusst, dass sie ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung haben sollten.
Militäreinsätze
Leider bedeutete das Ende der Wehrpflicht nicht, dass die Europäische Union bzw. ihre Mitgliedsstaaten nun weniger an Kriegen oder Militäreinsätzen beteiligt sind. Außer Zypern und Malta beteiligen sich alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union an der sogenannten Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe (ISAF) der NATO in Afghanistan. Es ist lächerlich, diesen Einsatz „friedenssichernd“ zu nennen: Es ist ein Krieg, mit einer enormen Zahl afghanischer Opfer und auch hohen Verlusten bei der ISAF-Truppe. Praktisch bedeutet das: 25 der 27 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind an einem Krieg beteiligt!
Wenn wir uns die Zahl der Gefallenen der Armeen der EU-Mitgliedsstaaten ansehen, so stammt die Mehrheit von ihnen mit 433 Toten aus Großbritannien. Die Gesamtzahl der Gefallenen aus der Europäischen Union beträgt 809, bei insgesamt 3.188 Toten der ISAF-Truppe. Die meisten Gefallenen haben die USA mit 2.123 Toten.4
Aber Afghanistan ist nicht der einzige Krieg, an dem Mitgliedsstaaten der Europäischen Union in den letzten Jahren beteiligt waren. An den NATO-Einsätzen zur Unterstützung der Opposition in Libyen – tatsächlich erneut eine Kriegsbeteiligung – waren z.B. Belgien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, die Niederlande, Rumänien, Spanien und Schweden beteiligt, also 11 der 27 Mitgliedsstaaten.
Der Vertrag von Lissabon vom 1. Dezember 2009 brachte auch eine weitere Militarisierung der Europäischen Union mit sich. Heute ist die Europäische Union an drei Militäreinsätzen beteiligt: In Bosnien, vor der Küste von Somalia und im Indischen Ozean sowie bei der Militärausbildung in Somalia, die in Uganda stattfindet.5 Es gibt keine Zweifel daran, dass die Europäische Union nun eine Militärmacht ist, die sich an Kriegen und sogenannter „robuster Friedenserhaltung“ beteiligt.
Die Zahl der Opfer in den eigenen Streitkräften ist nur ein Aspekt der Beteiligung an Krieg und Militäreinsätzen. Sie ist in der Tat nur die Spitze eines Eisbergs. Viel mehr SoldatInnen kehren aus dem Krieg in Afghanistan oder von Militäroperationen mit körperlichen Behinderungen zurück, und noch viel mehr mit post-traumatischen Stresssyndromen (PTSD). Beide Folgen des Krieges haben nicht nur enorme Auswirkungen für die SoldatInnen selbst, sondern auch für ihre Familien und Gemeinschaften.
In den USA hat die Organisation Iraq Veterans Against the War (Irakveteranen gegen den Krieg - IVAW) die Operation Recovery (Programm zur Regeneration) gestartet, um SoldatInnen zu unterstützen, die unter PTSD leiden. Das ist nicht nur ein Programm zur medizinischen Versorgung. Es basiert vielmehr auf dem Verständnis, dass Soldaten, die unter PTSD, einem Schädel-Hirn-Trauma oder Kriegsneurosen leiden, das Recht haben, diese traumatische Situation zu verlassen und unverzüglich Hilfe und Entschädigung zu erhalten, statt erneut in den Krieg oder zu Militäroperationen entsandt zu werden.6 Ich denke, dass ähnliche Forderungen auch bei Angehörigen der EU-Streitkräfte gestellt werden sollten.
Militarisierung der Jugend
Erste Ergebnisse einer von der WRI durchgeführten Umfrage zeigen, dass das Militär in den meisten Ländern der Europäischen Union in den Schulen anwesend ist. Daneben ist das Militär in den meisten Ländern an einer Reihe von kulturellen Aktivitäten beteiligt. Und es nutzt die sozialen Medien wie Facebook und Youtube, um junge Menschen zu erreichen.
Immer wieder führen diese Aktivitäten des Militärs zu Diskussionen in den Medien, wie kürzlich in Deutschland über die Kooperation der deutschen Bundeswehr mit dem Teenie-Magazin Bravo, das Abenteuercamps für Teenies anbot, organisiert und durchgeführt vom Militär.7
Wir wissen aus Großbritannien und Deutschland, dass die Armee systematisch auf junge Menschen und Schulen zugeht. Das dürfte in anderen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union ganz ähnlich sein. Zahlen aus Deutschland zeigen, dass die sogenannten Jugendoffiziere der Bundeswehr 2009 mindestens 160.000 SchülerInnen erreicht hatten. „Militärberater“ – richtiger Rekrutierer – der Bundeswehr waren auf 12.600 Veranstaltungen präsent, wo sie mehr als 280.000 SchülerInnen erreichten.8
In Großbritannien erklärte der Verteidigungsminister zur Jugendpolitik: „Das Verteidigungsministerium ist in unterschiedlicher Art und Weise aktiv, um die Jugend zu erreichen. Insbesondere werden mit der Jugendpolitik einzigartige und raffinierte Wege beschritten, um das Verständnis der bewaffneten Streitkräfte innerhalb der breiten Gesellschaft zu verbessern, vor allem die Werte, Kultur, Traditionen und der Ethos, all das, was unabdingbar ist für militärische Effektivität. Wir nutzen zudem Möglichkeiten, um öffentliche Aufmerksamkeit und Empathie für die bewaffneten Streitkräfte zu erreichen. Und schließlich ist die Jugendpolitik ein machtvolles Instrument zur Rekrutierung, ganz besonders, wenn die bei den verschiedenen Aktivitäten entwickelte Geschicklichkeit und das Können direkten Bezug zu militärischen Erfordernissen haben.“9
Im Februar 2007 erklärte der Kommandeur der Rekrutierungsabteilung, Oberst David Allfrey, gegenüber The New Statesman: „Unser neues Modell soll Aufmerksamkeit erreichen und das über zehn Lebensjahre hinweg. Es beginnt bei einem sieben Jahre alten Jungen, der bei einer Luftfahrtshow einen Fallschirmspringer sieht und denkt: „Das sieht ja toll aus“. Von da bis zur Armee versuchen wir Schritt für Schritt Interesse zu wecken.“ Rekrutierung ist nur das Ende eines langes Prozesses, wie Oberst Allfrey aufzeigt.
Neben den Aktivitäten zur Rekrutierung, gibt es in verschiedenen Mitgliedsstaaten der Europäischen Union Kadetten oder Ähnliches in Schulen. In Bezug auf eine Einrichtung in den USA stellte das Committee on the Rights of the Child (Komitee für Kinderrechte) „eine weite Verbreitung des Junior Reserve Officer Training Corps (JROTC)“ fest, eines militärischen Ausbildungskurses an Gymnasien für Jugendliche. „Wir sind beunruhigt darüber, dass bereits 11-jährige der Mittelstufe an Kadettentrainings teilnehmen können.“10
Alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben das Zusatzprotokoll über die Beteiligung von Kindern an bewaffneten Konflikten11 zur Kinderrechtskonvention unterzeichnet. Lothar Krappmann, Mitglied des Komitees für Kinderrechte, die die Konvention und die Zusatzprotokolle überwacht, erklärte, dass „der Ausschuss mit Kritik auf Informationen reagiert hat, dass Schulen und Schüler unter Druck gesetzt wurden, an Werbekampagnen teilzunehmen. Auch in dieser Hinsicht muss die Entscheidung von Schülern, Eltern und Schulen voll respektiert werden.“12
Die Militarisierung der Jugend hat auch Klassenaspekte. Wir wissen aus Untersuchungen in Deutschland und Großbritannien – und das gilt sehr wahrscheinlich auch für andere Länder – dass insbesondere Jugendliche aus armen und benachteiligten Familien Ziel des Militärs sind. So zeigte z.B. eine Untersuchung von David Gee in Großbritannien, dass Schulen mit einer benachteiligten Nachbarschaft mit größerer Wahrscheinlichkeit von der Armee aufgesucht werden.13 In Jobcentern gibt es eine spezielle Abteilung für Jobs in der Armee, die Arbeitssuchenden empfohlen wird.
In Deutschland ist die Bundeswehr oft in Arbeitsämtern, um Arbeitssuchende zu erreichen, mit dem Ergebnis, dass unter den niederen Rängen der Bundeswehr drei Viertel aus dem östlichen Teil Deutschlands kommen, wo die Arbeitslosigkeit höher ist. Und in einigen Regionen kooperieren Bundeswehr und Arbeitsämter bei der Rekrutierung von Soldaten oder das Arbeitsamt fordert zur Beteiligung an Werbemaßnahmen der Bundeswehr auf.14
Wir befinden uns erst am Anfang, was dieses Thema betrifft, aber schon jetzt wirft es eine Reihe von Fragen zu den Menschen- und Kinderrechten auf.
Schlussfolgerungen
Paradoxerweise führt das Ende der zwangsweisen Rekrutierung mittels Wehrpflicht in einigen Bereichen zu einer verstärkten Militarisierung, da das Militär Personal rekrutieren und gegenwärtige und zukünftige Kriege rechtfertigen muss. Die Militarisierung der Gesellschaft – und insbesondere der Jugend – ist eine Voraussetzung für Rekrutierung und Krieg. Damit ergibt sich ein völlig neues Thema bezüglich der Menschen- und Kinderrechte, dem wir in Zukunft viel mehr Beachtung schenken müssen.
Während wir das Ende der Wehrpflicht in den meisten Ländern der Europäischen Union begrüßen, müssen wir uns bewusst sein, dass dies nicht das Ende von Militarismus, Militarisierung und Krieg bedeutet. Der Kampf für Frieden und Menschenrechte muss fortgeführt werden und muss die neuen Entwicklungen aufnehmen.
Fußnoten
1 European Bureau for Conscientious Objection: Report to the Committee on Civil Liberties, Justice and Home Affairs of the European Parliament – Conscientious Objection to Military Service in Europe 2011/12, Brüssel, September 2012. Der vollständige Bericht von EBCO ist zu finden unter http://ebco-beoc.org/sites/ebco-beoc.org/files/2012-EBCO-REPORT-EU.pdf
2 Der Kriegsdienstverweigerer Michael Lyons wurde am 5. Juli 2011 wegen Befehlsverweigerung zu sieben Monaten Haft verurteilt. Sein Antrag auf Kriegsdienstverweigerung war abgelehnt worden. Während des Berufungsverfahrens hatte Michael Lyon das Tragen einer Waffe verweigert (www.Connection-eV.org/article-1405).
3 Deutscher Bundestag: Antworten der Parlamentarischen Staatssekretäre Thomas Kossendey und Hermann Kues vom 07.02.2012 auf Schriftliche Fragen des Bundestagsabgeordneten Paul Schäfer, Drucksache 17/8637. 2010 hatten 370 SoldatInnen einen Antrag auf Kriegsdienstverweigerung gestellt.
4 Siehe: http://icasualties.org/oef/. Eingesehen: 25.9.2012
5 European Union: EU operations, https://www.consilium.europa.eu/eeas/security-defence/eu-operations?lang=en, eingesehen am 25. September 2012
6 Iraq Veterans Against War: Service members have the right to heal, 1. Juli 2010, http://www.ivaw.org/blog/service-members-have-right-heal, eingesehen am 25. September 2012
7 Siehe z.B. Spiegel Online: Critics Slam German Military Ad Aimed at Teens, 19. September 2012, http://www.spiegel.de/international/germany/critics-slam-german-military-ad-for-adventure-camps-aimed-at-teens-a-856712.html, eingesehen am 25. September 2012
8 Uwe Henning: Jugendpressekongress 2010 – Journalismus zum Anfassen, in: www.sanitaetsdienst-bundeswehr.de, 12. Dezember 2010, eingesehen am 13. Januar 2011
9 Ministry of Defence: Strategy for Delivery of MOD Youth Initiatives, A paper by Directorate of Reserve Forces and Cadets, April 2005, http://www.mod.uk/NR/rdonlyres/DCA0B266-5CA4-47AA-8172-85DA92892C52/0/drfc_modyouthstrat.pdf, eingesehen am 25. September 2012
10 siehe http://wri-irg.org/node/15347
11 siehe http://wri-irg.org/node/15347
12 siehe http://wri-irg.org/node/15193
13 David Gee: ArmeerekrutiererInnen besuchen Londons ärmste Schulen am häufigsten, 18. Januar 2010, http://wri-irg.org/node/15326
14 Zusammen e.V.: Bundeswehr im Arbeitsamt, www.zusammen-ev.de/index.php/bundeswehr-im-arbeitsamt
Andreas Speck: Comments on the presentation of the EBCO Annual Report to the Committee on Civil Liberties of the European Parliament. 25. September 2012. Auszüge. Original siehe http://wri-irg.org/node/20446. Übersetzung: rf.
Andreas Speck war bis Ende 2012 Mitarbeiter der War Resisters‘ International.
Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2013.
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