Türkei: Presseerklärung zum sogenannten Demokratiepaket
„Die Erwartungen wurden tief enttäuscht“
(09.10.2013) Jeden zweiten Tag wird in der Türkei ein neues Thema zur heiß diskutierten Schlagzeile, während ebenfalls umstrittene Entwicklungen zu den Kriegen im Mittleren Osten, dem hiesigen Friedensprozess und des damit verbundenen „Demokratiepakets“ schnell von der Öffentlichkeit aus den Augen verloren wird. Weder der „Friedens“prozess, noch der Putsch in Ägypten, der Bürgerkrieg in Syrien oder das aktuell vorgestellte Demokratisierungspaket sind einfach zu konsumierende Themen.
Wir, Kriegsdienstverweigerer, Kriegsgegner und Antimilitaristen, die für die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht, ein Ende der verdächtigen Todesfälle in den Militäreinheiten und für ein neues Lebensverständnis gegen den in alle Poren der Gesellschaft eingedrungenen Militarismus kämpfen, sehen es als unsere Verantwortung an, unsere Beobachtungen der Öffentlichkeit mitzuteilen. Dies sind unsere Gedanken zur eigentlichen Tagesordnung.
Dank der von der Regierung seit langem verfolgten (Un)versöhnungspolitik zieht sich der Friedensprozess in die Länge und ist für die friedenshungrigen Völker der Region nunmehr zu einer Hinhaltetaktik verkommen. Nach Jahren des Blutvergießens, zahllosen Opfern durch Auseinandersetzungen und Übergriffe ist das Bedürfnis nach Frieden unaufschiebbar geworden. Aber leider wird dieses Bedürfnis manipuliert und vertröstet, ohne dass die notwendigen Schritte eingeleitet werden. Das ist einfach nur traurig und zermürbt den Optimismus, mit dem sich die Hoffnung auf Frieden nähren muss.
Es ist beunruhigend, dass die syrisch-türkische Grenze aufgrund des Krieges de facto nicht mehr besteht und die Türkei ihre Parteilichkeit in diesem Krieg nun auch offiziell bestätigt. Vor allem in den Grenzregionen, aber auch in Istanbul, besteht ein ernsthaftes Flüchtlingsproblem. Die Verwaltung muss über die Camps hinaus Lösungen entwickeln. Außerdem werden laut Berichten kurdischen und alewitischen Flüchtlingen staatliche Mittel vorenthalten; ein weiteres Anzeichen, dass das Gewissen der Politik geopfert wird.
Das vor ein paar Tagen verkündete „Demokratisierungspaket“, die davor heftig gerührte Werbetrommel und der festgefahrene Friedensprozess haben zu erhöhten Erwartungen geführt. Diese wurden ein weiteres Mal mit einer von oben festgelegten, herrischen Art tief enttäuscht. Wir durften wie immer Zeugen des hierarchischen Reformverständnisses werden, das seit den Osmanen (Tanzimat, 1839) zur Staatstradition wurde. Die Kriegsdienstverweigerung war wieder nicht Bestandteil des Pakets. Es werden auch keine Schritte eingeleitet, um militaristische Strukturen aufzuheben, wie den Nationalen Sicherheitsrat, die Militärjustiz oder den Militärkonzern OYAK. Die Aufhebung des in Schulen jeden Morgen rezitierten Gelübdes, einem Relikt des totalitaristischen Staates der 1930er, der Schüler in Soldaten verwandelte, kann als ein Versuch angesehen werden, die Schulen wenigstens im Ansatz zu demilitarisieren. Solange jedoch Praktiken wie Märsche, Uniformen, Aufstellungen in Reih und Glied und Doktrinen wie „Nationale Geographie“, „Nationale Geschichte“ und „Nationale Erziehung“ nicht gänzlich beendigt werden, kann von einer wirklichen Demilitarisierung keine Rede sein. Als Verein für Kriegsdienstverweigerung sehen wir die Absenkung der Wehrpflichtdauer auf 12 Monate als einen Beweis dafür an, dass die Militärräson weiterhin ungeschwächt den Ton angibt.
Verein für Kriegsdienstverweigerung. Presseerklärung vom 9. Oktober 2013. Übersetzung: omü. Quelle: www.savaskarsitlari.org/arsiv.asp?ArsivTipID=8&ArsivAnaID=73426.
Der Beitrag wurde veröffentlicht in der Broschüre "Türkei: Es gibt viele Gründe Nein zu sagen - Männer und Frauen verweigern den Kriegsdienst (Hrsg. Connection e.V.), November 2013. Wir danken für die Förderung durch die Bewegungsstiftung im Rahmen des Projekts "Für das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung in der Türkei".
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