Ukraine: „Wir rufen dazu auf, gegen den Krieg gewaltfrei Widerstand zu leisten“
Erklärung der War Resisters‘ International (WRI)
(11.07.2014) Der Krieg kehrte zurück auf europäischen Boden und es sieht so aus, dass die Europäer nicht fähig oder willens sind, selbst die Lektionen anzuwenden, die sie in anderen Teilen der Welt lehren. Die Europäische Union, Träger des Friedensnobelpreises, brachte die Ukraine in eine unmögliche Position, als sie das Land aufforderte sich zwischen einem politischen Pakt mit der Europäischen Union oder einer engeren wirtschaftlichen Beziehung zu Russland zu entscheiden. Die allgemeine Bevölkerung in der Ukraine hat mit das niedrigste Einkommen auf dem Kontinent und sieht sich mit einem der höchsten Niveaus bei der politischen und ökonomischen Korruption konfrontiert, die Hoffnungslosigkeit unter ihnen verbreitet – folglich sah das Angebot der Europäischen Union für viele wie eine goldene Möglichkeit für einen ersten Schritt aus, um sich aus dem Sumpf zu ziehen.
Die Gewalt auf beiden Seiten in einer späteren Phase des Maidan-Protestes schuf einen Präzedenzfall und diente als Rechtfertigung dafür, in anderen Teilen der Ukraine, in denen viele Menschen mit dem neuen politischen Kurs des Landes nicht einverstanden sind, Gewalt anzuwenden. Auch die Präsenz von Neo-Nazis in der neuen offiziellen Politik der Ukraine und die Bildung von mit diesen verbundenen paramilitärischen Einheiten, ermutigte andere UkrainerInnen – in Gebieten, in denen sich viele von ihnen mehr zu Russland hingezogen und sich mit dem Land verbunden fühlen, als mit der EU – über einen bewaffneten Kampf nachzudenken, als eine gerechtfertigte Möglichkeit, mit dem Konflikt umzugehen.
Russland wartete nicht lange, um die Krim zu übernehmen und rechtfertigte dies mit dem Willen der Bevölkerung – ungeachtet dessen, dass es vor etwas mehr als einem Jahrzehnt ähnliche Überlegungen im eigenen Territorium geflissentlich übersehen hat und mit brutaler Repression gegen Sezessionisten vorgegangen ist. In ähnlicher Weise hat die ukrainische Regierung Gewalt gegen Anhänger einer Sezession angewandt. Dies zeigt wieder einmal, dass es für die daran beteiligten Staaten viel mehr um das Territorium geht, als um das Leben der BewohnerInnen.
In diesem Konflikt erleben wir, dass es kaum möglich ist, zwischen den Akteuren des zivilen Protests, aus welcher politischen Perspektive heraus er auch immer erfolgt, und den Angehörigen von paramilitärischen Einheiten zu unterscheiden, die sich oft unter unbewaffnete friedliche Proteste mischen. Das fördert die Tendenz, dass Zivilpersonen zu militärischen Zielen werden, wie das in Odessa und an anderen Orten geschehen ist.
Die NATO tat das, was sie als einziges kann: Sie startete Manöver, die wie eine Kriegsdrohung aussahen und Russland antwortete auf die gleiche Art und Weise durch die Zusammenziehung von Truppen an der Grenze zur Ukraine. Das letzte von der NATO geplante Manöver sollte in der Ukraine stattfinden. Der einzige Gewinner der ständigen Waffeneinsätze in umstrittenen Gebieten wird die Waffenindustrie sein, die sich nun für höhere Militärausgaben in den europäischen Ländern einsetzt, weil es die „Bedrohung“ eines größeren Konflikt gäbe. Und der neue ukrainische Präsident, der international breit anerkannt wurde, hat nur eine Antwort auf die Situation: mehr Gewalt.
Deshalb:
- Rufen wir alle am Konflikt beteiligten Parteien zum sofortigen Waffenstillstand auf.
- Rufen wir NATO und Russland dazu auf, die gegenseitigen Bedrohungen einzustellen, Truppenbewegungen in der Region zu stoppen, die Reden über die Wiederaufnahme des Rüstungswettlaufs zur Erneuerung der Atomwaffen und des in Osteuropa geplanten Raketenschutzschilds „Star Wars“ einzustellen. Und wir verurteilen die Erweiterung der NATO auf neue Gebiete.
- Wir rufen zur Beendigung der weiteren Militarisierung in der Region auf, die zur Verstärkung der Wehrpflicht und zur Schaffung von neuen Militäreinheiten (offiziell und inoffiziell) führt.
- Wir rufen die Ukrainer dazu auf, gegen den Krieg gewaltfrei Widerstand zu leisten, ihre Teilnahme zu verweigern und – insbesondere, wenn sie gewaltsam von regulären oder irregulären Truppen mobilisiert wurden – ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären.
- Wir verurteilen den einseitigen Wechsel der Zugehörigkeit der Krim und rufen bei solchen Fragen dazu auf, sie in aller Ruhe zu lösen unter Einbeziehung anerkannter internationaler Rechtsverfahren, um die Entstehung neuer „kalter“ Konflikte zu vermeiden.
- Wir rufen zu sofortigen Verhandlungen unter internationaler Mediation und unter Einbeziehung aller Seiten auf, so dass eine Lösung gefunden werden kann, die einen dauerhaften Frieden in der Region garantiert.
- Wir verurteilen die Einbeziehung von faschistischen Gruppen durch die ukrainische Regierung, womit das Tabu der Europäischen Union bezüglich der Anwesenheit solcher Gruppen in mit der EU verbundenen Regierungen gebrochen wurde.
- Wir rufen die Medien in Ost und West dazu auf, die Verbreitung von Militärpropaganda und Gerüchten zu vermeiden und den Schwerpunkt auf eine sorgfältige und professionelle Berichterstattung über die Ereignisse zu legen. Insbesondere sollte die Stärkung von Polarisierungen vermieden werden. So sollten auf der einen Seite die ukrainische Regierung nicht als Gesamtes als faschistisch bezeichnet werden, auf der anderen Seite die Protestierenden im Süden und Osten der Ukraine nicht als Stalinisten.
- War Resisters‘ International steht bereit, um all denjenigen, die der Kriegführung durch gewaltfreie Mittel widerstehen, jede mögliche Unterstützung zu geben, insbesondere für Kriegsdienstverweigerer und Deserteure. Wir erinnern alle am Konflikt beteiligten Parteien daran, dass das Recht auf Kriegsdienstverweigerung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte anerkannt wurde und dass sowohl die Ukraine, als auch Russland, an diese Rechtslage gebunden sind.
War Resisters’ International (WRI) statement on Ukraine. Adopted by the WRI Assembly, 11. Juli 2014. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2014
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