Türkei: Comeback der Straftat “Distanzierung des Volkes vom Militär”
(12.04.2015) Gegen den Kriegsdienstverweigerer İnan Mayıs Aru wurde wegen “Distanzierung des Volkes vom Militär” eine staatsanwaltliche Ermittlung eingeleitet. Damit ist das bereits die zweite Ermittlung wegen „Distanzierung des Volkes vom Militär“ innerhalb einer Woche. Seit wenigen Tagen wird auch wegen der Veröffentlichung des Buches “Geht nicht zum Militär” und der gleichnamigen Webseite (www.askeregitmeyin.com) von der Staatsanwaltschaft ermittelt.
Scherze auf dem Gendarmerierevier
Aru, wohnhaft in Ula bei Muğla berichtete in den Sozialen Medien, wie es zur Ermittlung kam, nachdem er das Protokoll zu seiner „Wehrflucht“ mit einem schriftlichen Widerspruch unterzeichnet hatte: „Ich befand mich aus einem anderen Grund im Gendarmerierevier von Ula, wo mir mitgeteilt wurde, ich sei wehrflüchtig. Der Kommandant sagte, sie würden mich die Nacht dabehalten und am nächsten Tag in Begleitung überstellen. Ich erwiderte, er habe kein Recht mich zu inhaftieren und forderte ihn auf mit meinem Anwalt zu sprechen, worauf er meinte: ‚Du scherzt ja nur. Du bist gut informiert. Wenn alle so gut informiert wären wie Du, gäbe es hier gar keine Soldaten mehr. Selbst die, die hochmotiviert kommen, wollen nach 10 Tagen alle zurück nach Hause‘." Dann reichten sie mir ein Protokoll und ich unterschrieb es mit der Anmerkung, ich sei Kriegsdienstverweigerer und würde mich daher keinem Rekrutierungsbüro stellen und entsprechend internationaler Abkommen keine Geldstrafe zahlen.“
Aru veröffentlichte das Protokoll am 6. April in den Sozialen Medien und wurde am 8. April von der Gendarmerie angerufen. Er wurde informiert, dass gegen ihn aufgrund seines Kommentars in den Sozialen Medien eine Ermittlung wegen „Distanzierung des Volkes vom Militärs“ eingeleitet worden sei. Er wurde für eine Aussage vorgeladen.
Spezielles Interesse
Nach Merve Arkun, der stellvertretenden Vorsitzenden des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung (EBCO) war es kein Zufall, dass die Ermittlungen kurz nacheinander eingeleitet wurden: „Viele Kriegsdienstverweigerer, wie İnan Mayıs Aru, haben auch in der Vergangenheit diese Berichte in den Sozialen Medien veröffentlicht, doch diesmal kam es innerhalb von zwei Tagen zu einer Ermittlung. Juristische Abläufe gehen in der Türkei nie so rasch vonstatten, was davon zeugt, dass die Staatsanwälte nun ein besonderes Interesse an dieser Sache entwickelt haben.“ Arkun ist weiter der Meinung, diese Repressionen würden die Kriegsdienstverweigerer nicht einschüchtern, sondern ihnen neue Aktionsräume verschaffen.
Die Staatsanwälte wurden angewiesen
Anwalt Davut Erkan, Mitglied des Vereins für Kriegsdienstverweigerung, ist der Ansicht, die Ermittlungen seien ein weiterer Auswuchs der Bemühungen auf Regierungsseite die gesellschaftliche Opposition einzuschüchtern und stumm zu schalten: „Während der EU-Beitrittsverhandlungen wurde die Anwendung des Art. 318 eingestellt, doch das Gesetz bestand weiterhin. Heute wird dieser Artikel wieder angewandt um die Widersprüche gegen den Militarismus im Rahmen der Eindämmung gesellschaftlicher Opposition zu beseitigen. Offensichtlich wurden die Staatsanwälte angewiesen, gesellschaftliche Opposition zu unterdrücken.“
Erkan berichtete, der Staat nehme die Sache ernst genug, um die Staatsanwaltschaft für Informatik einzuschalten und die Benutzerdaten der Webseite askeregitmeyin.com und zugehöriger eMail-Adressen einzusehen. Erkan: „Art. 318 des Strafgesetzbuches enthält keine Straftat. Laut internationalen Rechtsnormen kann es so eine Straftat nicht geben. Jeder kann freien Herzens das Volk vom Militär distanzieren. Sollte das Lokalgericht eine Strafe verhängen, wird das Verfassungsgericht, oder im schlimmsten Fall, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, dieses Urteil aufheben.“
Onur Erem, Birgün: Askerlikten soğutma 'suçu' geri döndü. 12.4.2015. Übersetzung: omü. Quelle: www.birgun.net/news/view/askerlikten-sogutma-sucu-geri-dondu/16438. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. und AG »KDV im Krieg« (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2015.
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