In Cizre. Foto: Hülya Üçpinar

In Cizre. Foto: Hülya Üçpinar

Erneuter Krieg in den kurdischen Regionen der Türkei

Teil I des Beitrags

von Andreas Speck und Hülya Üçpınar

(19.03.2016) Den folgenden Beitrag stellten Andreas Speck und Hülya Üçpınar bereits Mitte März 2016 zusammen. Sie legen hiermit eine umfassende Analyse über die Hintergründe und Ursachen für den Krieg vor. (d. Red.)

Seit August 2015 eskaliert der Konflikt zwischen der türkischen Regierung und kurdischen Gruppen in Türkei-Kurdistan in einer neuen Spirale der Gewalt. Das hat zu Hunderten von Toten auf beiden Seiten geführt und eine zunehmende humanitäre Krise ausgelöst, die von schweren Menschenrechtsverletzungen begleitet wird. Diese reichen von willkürlicher Haft bis zu außergerichtlichen Ermordungen. Nur wenige Monate zuvor, am 28. Februar 2015, war von der Regierung und der pro-kurdischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) ein Zehn-Punkte-Friedensplan (Dolmabahçe-Abkommen) bekannt gegeben worden. Das Abkommen war, so die Berichte, von der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK - kurdische Guerilla) unterstützt worden, nachdem es seit 2013 einen brüchigen Waffenstillstand gab. Aber nach den Parlamentswahlen im Juni 2015, bei denen die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) die absolute Mehrheit verfehlte und die HDP in das Parlament einzog, begann der Friedensprozess zu zerfallen.

Zu den AutorInnen

Andreas Speck ist ein in Spanien lebender antimilitaristischer Aktivist.Von 2001 bis 2012 arbeitete er im internationalen Büro der War Resisters‘ International in London. Seit mehr als 20 Jahren unterstützt er gewaltfreie und antimilitaristische Aktivitäten in der Türkei. Derzeit ist er aktiv im Red Antimilitarista y Noviolenta de Andalucía (Andalusisches Netzwerk für Antimilitarismus und Gewaltfreiheit - RANA) und in La Transicionera, ein in Sevilla ansässiges Projekt, das darauf zielt, gewaltfreie Übergänge zu einer gerechten und nachhaltigen Gesellschaft zu unterstützen.

Hülya Üçpınar arbeitete viele Jahre als Menschenrechtsanwältin und ist seit Anfang an aktiv in der gewaltfreien Bewegung in der Türkei. Sie arbeitet derzeit als Trainerin für Gewaltfreiheit und Menschenrechtsaktivistin und lebt in Istanbul.

Am 17. Juli 2015 erklärte Präsident Erdoğan (AKP), dass er „unter keinen Umständen die Vereinbarungen des Dolmabahçe-Abkommens akzeptiere“ und dass „ein Abkommen nicht mit denen gemacht werde, die sich auf eine terroristische Organisation (PKK) stützen.2 Seitdem, wie es der führende Analyst für die Türkei der Internationalen Krisengruppe (ICG), Nigel Göksel, formuliert, „stellt Präsident Recep Tayyip Erdoğan eine Dekade der Öffnung auf den Kopf, greift auf Maßnahmen zurück, die Erinnerungen an die militärisch-dominierten 1990er Jahre wachrufen. Am 28. Juli forderte er die Aufhebung der Immunität der Abgeordneten, die die HDP anführen; zwei Tage später wurden Ermittlungen gegen sie aufgenommen wegen „Aufhetzung zur Gewalt und terroristischer Propaganda“.3

Seitdem herrscht nicht nur in den kurdischen Provinzen der Türkei Krieg und Unterdrückung.

Von Friedenshandlungen zu einem erneuten Krieg

Die erneute Eskalation des türkisch-kurdischen Konfliktes begann schon vor den allgemeinen Wahlen am 7. Juni 2015. Als erkennbar wurde, dass die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP) die 10- Prozent-Hürde für den Einzug ins Parlament übertreffen würde, nahmen die Angriffe auf Büros der Partei zu. Am 5. Juni, nur zwei Tage vor den Wahlen, explodierten zwei Bomben bei einer Demonstration der HDP in Diyarbakir, die vier Personen töteten und Hunderte verletzten. Bereits einen Monat zuvor hatten Bombenanschläge auf zwei Büros der HDP im südlich des Landes gelegenen Adana und der benachbarten Stadt Mersin sechs Personen verletzt.4 Das Wahlergebnis vom 7. Juni, durch das Erdoğans AKP die absolute Mehrheit verlor, muss als Meilenstein für die dann folgende Eskalation angesehen werden.

  • Am 20. Juli 2015 beging ein Selbstmordattentäter in Suruç in der Nähe der syrischen Grenze ein Attentat gegen junge SozialistInnen, die zusammengekommen waren, um nach monatelangen Angriffen durch den Islamischen Staat (ISIS) den Wiederaufbau in Kobanî zu unterstützen. 33 Personen starben. Die türkische Regierung beschuldigte ISIS, das Attentat verübt zu haben.5 Zwei Tage später, am 22. Juli 2015, wurden zwei Polizisten in Ceylanpınar, Şanhurfar, getötet. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) erklärte zunächst, sie sei für diesen Angriff verantwortlich „als Vergeltung für die Selbstmordattentate in Suruç“.6 Später wurde diese Erklärung zurückgezogen. Der Anschlag sei von einer Gruppe namens Apocu Fedailer verübt worden, die nicht Teil der PKK ist.
  • Einen Tag später, am 23. Juli 2015, wurde von der anderen Seite der Grenze in Kilis das Feuer eröffnet und ein türkischer Soldat getötet. Die türkische Regierung hielt den ISIS für den Anschlag verantwortlich.
  • Verschiedene Agenturen meldeten, dass US-Präsident Obama und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan am 22. Juli 2015 eine Vereinbarung diskutiert hatten, mit der den USA Militäreinsätze von der Luftwaffenbasis İncirlik gestattet werden sollten.7 Die Vereinbarung schloss faktisch auch eine „Flugverbotszone“ für die syrische Luftwaffe im Norden Syriens ein. Es ist nicht klar, ob die Erschießung des türkischen Soldaten durch den ISIS am Tag danach eine Reaktion auf diese Vereinbarung war.
  • Am 24. Juli begann die türkische Luftwaffe Stellungen des ISIS in Syrien zu bombardieren8 und nutzte die Gelegenheit auch dazu, Stellungen der PKK in den Kandilbergen im Norden Iraks anzugreifen.9 Die Angriffe wurden in den folgenden Tagen verstärkt10 und der türkische Präsident Erdoğan erklärte: „Es ist für uns nicht möglich, die Friedensgespräche mit denjenigen fortzuführen, die unsere nationale Einheit und Brüderschaft gefährden“. Die PKK antwortete darauf mit der Erklärung, dass die Luftangriffe den Friedensprozess bedeutungslos gemacht hätten, kündigten ihn aber noch nicht formal auf.11 Dies markierte den Beginn einer weiteren Eskalation der Gewalt auf beiden Seiten, mit Ermordungen von Polizisten und Soldaten durch die PKK auf der einen und vielen durch die türkischen Sicherheitskräfte getöteten PKK-KämpferInnen auf der anderen Seite. Am 28. Juli begannen mit den Bombardements von PKK-Stellungen durch türkische Flugzeuge in der kurdischen Region Sirnak12 auch Luftwaffeneinsätze gegen kurdische Gruppen innerhalb der Türkei.
  • Als Antwort darauf erklärten verschiedene kurdische Städte und Stadtteile, dem Beispiel von Silopi folgend, am 10. August 2015 ihre Selbstverwaltung: Cizre, der Stadtteil Bağlar in Batman, der Stadtteil Sur in Diyarbakır, Lice, Silvan, Varto, Bulanık, Yüksekova, Şemdinli, Edremit, der Stadtteil Hacı Bekir in Van, der Stadtteil Gazi in Istanbul sowie Doğubeyazıt. Diese Erklärungen wurden oft von praktischen Maßnahmen, wie dem Ausheben von Gräben in den Straßen, begleitet.13 Genau diese Städte und Stadtteile traf in den folgenden Wochen und Monaten die volle Wucht der Repressionen. Cizre war die erste Stadt, über die vom 4.-12. September 2015 eine 9-tägige und Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre verhängt wurde.14

Es ist Krieg: Humanitäre Krise und staatliche Repression in den kurdischen Gebieten

Die aufgezeigten Entwicklungen waren nur der Beginn einer Spirale von Unterdrückung und schweren Menschenrechtsverletzungen. Davon waren nicht nur die kurdischen Regionen betroffen - in denen einige Städte und Stadtteile unter Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperren litten, die oft über mehrere Monate andauerten - sondern auch die gesamte Türkei.

Ausgangssperren und Krieg in den Städten

Die erste Ausgangssperre wurde am 16. August 2015 über Varto (Muş) verhängt, ursprünglich „bis auf weiteres, um die Sicherheit zu gewährleisten“.15 Diese Ausgangssperre dauerte nur 20 Stunden an16 und bot einen ersten Eindruck davon, was dann folgte. Seitdem „gab es 58 offiziell bestätigte, unbefristete und rund um die Uhr andauernde Ausgangssperren in zumindest 19 Stadtteilen von 7 Provinzen im Südosten der Türkei. Folgende Provinzen, so ein Bericht der Menschenrechtsstiftung der Türkei (TIHV) von Anfang Februar 201617, waren davon betroffen: Diyarbakır (32-mal), Şırnak (7-mal), Mardin (11-mal), Hakkâri (4-mal), Muş (1-mal), Elazığ (1-mal) und Batman (2-mal)“.

Seitdem wurden weitere Ausgangssperren verhängt. So sind zum Zeitpunkt der Erstellung dieses Artikels, Mitte März 2016, folgende Ausgangssperren in 3 Provinzen in Kraft:

  • Sur (Altstadt von Diyarbakır): Die erste Ausgangssperre war am 16. Oktober 2015 verhängt worden. Seitdem gab es sechs Ausgangssperren. Eine Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre ist bereits seit dem 11. Dezember 2015 in Kraft.
  • Cizre (Provinz Şırnak); Insgesamt sind seit dem 4. September fünf Mal Ausgangssperren verhängt worden. Die letzte, die am 14. September 2015 erklärt wurde, dauert seit dem 2. März 2016 als nächtliche Ausgangssperre an.
  • İdil (Provinz Şırnak); Die Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre, die am 16. Februar 2016 verhängt wurde, ist nach wie vor in Kraft.
  • Nusaybin (Provinz Mardin): Hier besteht seit dem 13. März 2016 eine Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre.
  • Yükşekova (Provinz Hakkâri): Hier besteht seit dem 13. März 2016 eine Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre.18

Während der Ausgangssperren führen die Spezialeinheiten der Polizei und andere Sicherheitskräfte Antiterroraktionen gegen die bewaffnete kurdische Jugendbewegung durch. Sie benutzen dazu gepanzerte Fahrzeuge, manchmal Panzer, und setzen schwere Artillerie gegen Barrikaden ein. Die UnterstützerInnen der bewaffneten kurdischen Gruppen haben Gräben ausgehoben, die oft mit Bomben bestückt sind und errichten Barrikaden, um die Stadtteile abzuriegeln.19 Nach Angaben von ParlamentarierInnen der Republikanischen Volkspartei (CHP) wurde die Maßnahme einer Rund-um-die-Uhr-Ausgangssperre niemals zuvor in der Geschichte der Türkei eingesetzt. Sie betonen, dass dies sogar für die Zeiten der Militärputsche und der Ausnahmezustände zuträfe.20 Amnesty International klagt die Regierung an, dass die militärische Antwort mit „umfassenden Menschenrechtsverletzungen“ behaftet sei, und zu einer „kollektiven Bestrafung“ der kurdischen Bevölkerung führe.21 Die Menschenrechtsstiftung (TIHV) schätzt, dass „mindestens 1.377.000 BewohnerInnen durch die Ausgangssperren betroffen sind, die mit der Verletzung grundlegender Rechte, wie dem Recht auf Leben und dem Recht auf Gesundheit, einhergehen.“ Vom 16. August 2015 (Tag der ersten Ausgangssperre) bis zum 5. Februar 2016 verloren in der Region während offiziell erklärter Ausgangssperren mindestens 224 Zivilpersonen (42 Kinder, 31 Frauen, 30 Personen über 60 Jahre) ihr Leben.“22 Es erstaunt aber nicht, dass die türkische Regierung all diese Opfer als „Terroristen“ ansehe.

Die erneuten Kämpfe und Repressionen verursachen auch eine neue Welle der Binnenvertreibung. Nach einem Bericht der Geheim- und Antiterror-Polizei wurden in fünf Städten der Region mehr als 100.000 Menschen vertrieben, 1.3 Millionen waren danach von den wiederholten Ausgangssperren betroffen.23 Nichtregierungsorganisationen und Oppositionsparteien setzen die Zahl der Binnenvertriebenen mit 200.000 weit höher an.24

Es ist nicht einfach, Informationen darüber zu erhalten, was in den Gebieten passiert, die einer Ausgangssperre unterliegen. Die erste Information, die durchdrang, war der Ausfall der Grundversorgung: Essen, Elektrizität, Wasser und Gesundheitsdienste. Während der Ausgangssperren verloren viele Menschen - Babys, die gerade mal 35 Tage alt waren,25 bis hin zu 75-jährigen - ihr Leben. Es gibt sehr unterschiedliche Informationen dazu: über Personen, die durch Heckenschützen erschossen wurden, als sie auf die Straße hinaus gingen, um Brot zu kaufen26 oder um Angehörige zur Krankenstation zu bringen27, über die Tötung eines zehnjährigen Kindes28 sowie einer 53 Jahre alten Frau29, die tagelang in Tiefkühlschränken aufbewahrt wurden, weil eine Bestattung untersagt worden war.

Ein weiterer Fall ist der von drei Politikerinnen, die versuchten, über ihr Handy Hilfe zu holen, kurz bevor sie erschossen wurden.30 Und die Öffentlichkeit musste hoffnungslos zusehen, wie BewohnerInnen, unter ihnen Kinder und Verwundete, in Kellern festsaßen, da die Regierung den Zugang zu Hilfsdiensten verwehrte. Das Verfassungsgericht der Türkei lehnte sogar eine Petition ab, die es erlaubt hätte, ein Gebäude zu evakuieren. Als Konsequenz davon starben die Menschen in dem Keller wegen Blutverlust oder aufgrund der durch die Sicherheitskräfte durchgeführten Einsätze.31 Es gibt nach wie vor keine genaue Zahl, wie viele Zivilpersonen in den Kellern starben, die Angabe des lokalen Krisenstabes liegt bei 178 Personen.32

Unwiederbringliche Beschädigungen und Zerstörung der Gemeinden

Durch den Einsatz schwerer Waffen wurden viele Gebäude und Denkmäler des historischen und kulturellen Erbes zerstört oder beschädigt.33 Wohngebiete wurden niedergebrannt oder durch Beschuss, Artilleriefeuer oder Bomben zerstört.34 Während es möglich war einige Zivilpersonen aus den Konfliktgebieten zu evakuieren, waren sie auch dazu gezwungen, ihre Häuser und Gemeinden nach tagelanger Bombardierung zu verlassen. Die Bevölkerung des Stadtteils Sur in Diyarbakır ging von 25.000 auf 5-6.000 zurück. Einige Medien berichten, dass die Regierung ein „städtisches Sanierungsprojekt“ in Sur vorbereitet.35 Diese Projekte haben eine sozio-demografische Strukturänderung der Stadt, sowie die Zerstörung des historischen und kulturellen Netzes und des sozialen Gedächtnisses zum Ziel.

Nach der teilweisen Aufhebung der Ausgangssperren begannen die BewohnerInnen von Cizre zurückzukehren. Aber die erste Welle der RückkehrerInnen, die Cizre am 2. März mit Fahrzeugen, mit ihren Kindern und Hab und Gut vollgeladen, erreichte, musste eine Durchsuchung der Wagen und ihres Gepäcks durch die Polizei und eine Ausweiskontrolle über sich ergehen lassen. Als sie schließlich Cizre erreichten, waren sie schockiert: Völlig zerstörte Häuser, Tote in den Ruinen, Körperteile verstreut über verschiedene Orte und sogar zwischen den Trümmern, die im Fluss Tigris lagen. Die Menschen beschrieben Cizre als „ein Massengrab“.36 Bei der Rückkehr in ihre Häuser konnten sie nichts mehr von ihren persönlichen Gegenständen finden.37 Ein Bericht der Deutschen Welle beschreibt die Situation folgendermaßen: „Die Stadt unterlag einer Zerstörung, die in Westeuropa seit dem II. Weltkrieg nichts Vergleichbares kennt: Straße für Straße dem Erdboden gleichgemacht, Häuser mit Löchern in den Wänden so groß wie Lastwagen mit Anhängern, mehrstöckige, niedergebrannte Apartmenthäuser, von denen nur noch Gerippe standen, die Räume innen nur noch voll von schwarzer, grauer und weißer Asche.“38 Ein Untersuchungskomitee der Partei der Demokratischen Regionen (DBP) kommt nach der Aufhebung der Ausgangssperre in einem Bericht über Cizre zu dem Schluss: „80% des Bezirks sind durch ‚Panzerbeschuss‘ beschädigt. Insgesamt sind „fast 500 Gebäude vollständig zerstört, mehr als 2.000 Gebäude beschädigt“.39 Der Bericht der CHP über Sur besagt, dass dort 80% der Gebäude vollständig zerstört seien und die anderen 20% ernsthaft beschädigt oder nicht mehr zu Wohnzwecken geeignet seien.40 Mehmet Ceylan aus Sur sagt: „Es sind immer die einfachen Leute, die leiden. Ich lebe seit Jahren in Sur und so etwas habe ich noch nie gesehen.“41

Folgen für die lokale Ökonomie

Werk- und Arbeitsstätten konnten nicht öffnen, Geschäfte gingen Bankrott und das soziale Leben brach zusammen. Nach Angaben der Republikanischen Volkspartei (CHP) waren 11.000 Handwerker und Händler von den Ausgangssperren betroffen und mehr als 100.000 verloren im Bezirk Sur ihre Arbeit.42 Örtliche Geschäftsleute und Händler sind zunehmend verzweifelt. Die meisten Geschäfte in Sur sind geschlossen und nur eine Handvoll von Restaurants sind geöffnet. Die Hotels des historischen Bezirks sind leer oder geschlossen. Der Bezirk, aus dem letztes Jahr einige Gebäude zum UNESCO-Weltkulturerbe ernannt worden waren, ist nun eine halbzerstörte Geisterstadt.43 Während fast 90% der Geschäfte in und um Sur herum schließen mussten, gingen laut Deutsche Welle die Umsatzzahlen in der restlichen Stadt Diyarbakır um geschätzte 25% zurück.44

Zusammenbruch der Schulwesens

Die Ausgangssperren und „Antiterror“-Operationen in den kurdischen Regionen führten zum Zusammenbruch des Schulwesens, was faktisch einem großen Teil der Bevölkerung das Recht auf Ausbildung entzog. LehrerInnen wurden aus den Regionen abgezogen und die Lehrtätigkeit auf unbestimmte Zeit ausgesetzt. Die LehrerInnen in den im Südosten der Türkei gelegenen Cizre und dem Bezirk Silopi in der Provinz Şırnak erhielten Nachrichten des Nationalen Schulamts per SMS, welche sie darüber informierte, dass sie an einem Weiterbildungsseminar teilnehmen sollten, das am 14. Dezember beginne. Nach dieser Nachricht verließen an einem Tag etwa 3.000 LehrerInnen Cizre und Silopi. Die LehrerInnen von Cizre wurden, wieder durch eine SMS, am 2. März zum Dienst zurückberufen. Viele Schulgebäude sind jedoch entweder zu Militär- oder Polizeistationen umfunktioniert worden oder stark beschädigt, wie Kamuran Karaca, Vorsitzender der Lehrergewerkschaft, berichtet.45 In der südöstlich gelegenen Provinz Mardin konnten 33.000 SchülerInnen aus Sicherheitsgründen nicht an einem landesweiten Examen, welches am 25. und 26. November stattfand, teilnehmen. Im Bezirk Derik in Mardin konnten 1.291 SchülerInnen das Examen wegen der zu jener Zeit erlassenen Ausgangssperren nicht ablegen.46

Zusammenbruch der Gesundheitsdienste

Arztpraxen, Krankenhäuser und andere Gesundheitseinrichtungen wurden zu Militär- und Polizeistationen umfunktioniert. Während auf dem Dach des staatlichen Krankenhauses in Cizre Scharfschützen postiert wurden, wurden im Eingangsbereich des Krankenhauses bewaffnete Fahrzeuge positioniert. Die Mund- und Zahnklinik wie auch die Gebäude des Gesundheitsamtes in Şırnak wurden zu Feldlagern umfunktioniert. Osman Baydemir, Abgeordneter der Demokratischen Partei der Völker (HDP), stellte am 30. Dezember diesbezüglich eine Anfrage, die aber vom Gesundheitsministerium nicht beantwortet wurde.47

Gesundheitsdienste wurden eingestellt, was eine ernsthafte Verletzung des Rechts auf Zugang zur Gesundheitsfürsorge, einschließlich der Fürsorge für Kranke, Kinder, Frauen und ältere Menschen darstellt. Die Zahl der Anfragen an Notfalldienste und Krankenhäuser ging um 90% zurück.

Krankenwagen und Notfallärzten war/ist es nicht möglich, verwundete Zivilpersonen zu erreichen. Am 6. Februar 2016 hatte die 22-jährige Zerrin Uca, die im 7. Monat schwanger war, einen Herzanfall. Sie starb, weil der Krankenwagen die Straße nicht erreichen konnte, auf der sie für eineinhalb Stunden lag.48 Der Fall von Zerrin Uca ist nur ein Beispiel dafür, dass medizinische Dienste zu den Gebieten der Ausgangssperren keinen Zugang erhalten.

Der 16-jährige Hüseyin Paksoy, auf den am 15. Januar 2016 geschossen worden war und der auf eine Behandlung wartete, starb wegen Blutverlusts am 18. Januar 2016.49 So erging es auch dem Verletzten Serhat Altun. Er starb nach zwei Tagen aufgrund fehlender medizinischer Behandlung. Als bekannt wurde, dass Herr Altun am 20. Januar 2016 gestorben war, wollte eine Gruppe von Zivilpersonen, darunter der HDP-Abgeordnete Fay­sal Sarıyıldız und die zwei BürgermeisterInnen von Cizre, zum Todesort gehen, um den Leichnam zu bergen. Die Polizei eröffnete das Feuer und verwundete zehn von ihnen. Zwei der Verwundeten, Abdülhamit Poçal und Selman Erdoğan, starben im Anschluss.50 Auch Orhan Tunç wurde am 19. Januar durch Sicherheitskräfte verwundet und starb aufgrund hohen Blutverlustes.51 Als Cihan Karaman durch eine Kartätsche schwer verwundet wurde, wurde es dem Krankenwagen nicht gestattet, ihn zu bergen. Nach Berichten schleppte er sich zwei Kilometer weiter, um einen Krankenwagen zu erreichen. Er starb schließlich, weil er aufgrund heftigen Panzerbeschusses umkehren musste.52 Neben dem fehlenden Zugang zu Notfallstationen, gerieten die ArbeiterInnen des Gesundheitswesens, die trotzdem zu helfen versuchten, unter Beschuss.53 Der Krankenpfleger Adülaziz Yural, Mitglied der Gewerkschaft der Gesundheits- und SozialarbeiterInnen (SES) und Freiwilliger im Referenzzentrum in Cizre, wurde am 30. Dezember 2015 durch einen Schuss in die Stirn getötet, als er auf der Straße einer verletzten Frau medizinische Hilfe geben wollte. Eine Untersuchung nach seinem Tod zeigte, dass die Kugel von oben nach unten eindrang. Am folgenden Tag berichteten regierungsnahe Zeitungen davon und sagten, dass „ein Angehöriger der PKK während eines Konflikts getötet worden ist“. Yurals Körper blieb tagelang im Leichenschauhaus, bis er im Garten der nahegelegenen Moschee verbrannt wurde.

In den Krankenhäusern von Cizre arbeitete das Personal während der Ausgangssperren ohne Unterlass. Während der 79-tägigen Ausgangssperre war es oft dazu gezwungen, innerhalb des Krankenhauses zu schlafen, da es ihre Wohnungen nicht erreichen konnte.

„Die Sicherheitskräfte waren überall im Krankenhaus“, berichtete eine Krankenschwester, die zu ihrer Sicherheit anonym bleiben wollte, der Deutschen Welle: „Sie überwachten alle Räume, auch die Operationssäle“. Nach ihren Angaben wurde den Beschäftigten auch untersagt, Personen zu behandeln, von denen die Sicherheitskräfte annahmen, sie seien Militante.54 Die Gewerkschaft der Gesundheits- und SozialarbeiterInnen berichtet auch, dass immer wieder GesundheitsarbeiterInnen inhaftiert wurden.55

Willkürliche Verhaftungen und außergerichtliche Hinrichtungen

Der neuerliche Krieg und die Repressionen in der kurdischen Region führen auch zu einer hohen Zahl von willkürlichen Festnahmen. Viele Zivilpersonen wurden von Sicherheitskräften festgenommen und gefoltert, oft an Orten außerhalb der offiziellen Haftzentren oder Polizeistationen.

Im Zuge von Felduntersuchungen, die einer früheren Ausgangssperre in Cizre vom 4.-12. September 2015 folgten, konnte Amnesty International nachweisen, dass verschiedene Todesfälle durch Scharfschützen verursacht worden waren, die aber weit entfernt von bewaffneten Zusammenstößen geschahen. Unter den Getöteten waren Kinder, Frauen und ältere Personen, bei denen es höchst unwahrscheinlich ist, dass sie an bewaffneten Zusammenstößen beteiligt gewesen waren. Todesfälle, von denen erst kürzlich berichtet wurde, schildern ähnlich verstörende Muster. Es gibt keinerlei Fortschritte bei den Ermittlungen der Todesfälle.56 Darüberhinaus wurde bei diesen Verletzungen des Rechts auf Leben nicht unverzüglich und offen ermittelt. Verfahren und Bestrafungen der Sicherheitskräfte, die sich an solchen Verstößen beteiligt hatten, wurden unmöglich gemacht. Die Politik der Immunität wird weiter ausgeweitet und intensiviert.57 Human Rights Watch schreibt, dass es in den 15 von Human Rights Watch dokumentierten Fällen die Behörden versäumt hätten, die Ermittlungen vollständig durchzuführen, obwohl dazu eine klare Verpflichtung nach dem nationalen türkischen Gesetz und den internationalen Menschenrechts- und Bürgerrechtskonventionen, denen die Türkei beigetreten ist, besteht..58

Menschenrechte: Faktisch in der gesamten Türkei aufgehoben

Im gegenwärtigen Klima des Krieges sind Unterdrückung und Zensur sehr häufig. Der Zugang zu korrekten und verifizierbaren Informationen ist schwierig. Das Recht auf freie Rede und Meinungsäußerung wird in der Türkei zunehmend eingeschränkt, wobei JournalistInnen und ganze Zeitungen oder andere Medien vorrangiges Ziel sind.

Zwei Journalisten, Can Dümdar, Herausgeber der Tageszeitung Cumhuriyet, und Erdem Gül, Vertreter des Büros der Zeitung in Ankara, die über die Beteiligung des türkischen nationalen Geheimdienstes bei Waffenlieferungen an die syrische Opposition berichteten, wurden am 27. November 2015 verhaftet, wegen „Verbreitung Geheimer Staatsdokumente, die die Sicherheit des Staates betreffen, mit dem Zweck der politischen und militärischen Spionage und der Propaganda für eine terroristische Organisation, auch wenn sie kein Mitglied der genannten Organisation sind.“ Beide wurden nach einem Beschluss des Verfassungsgerichtes vom 25. Februar 2016 nach 92 Tagen Haft freigelassen.59 Erdoğan reagierte auf die Entscheidung des Obersten Gerichts mit einer Stellungnahme, dass er keinen Respekt vor einem Gerichtsurteil habe, das die Inhaftnahme von zwei prominenten Journalisten als ungerechtfertigt ansieht und er sich nicht daran gebunden fühle.60 Obwohl sie freigelassen wurden, droht ihnen weiter eine mehrmalige lebenslange Freiheitstrafe, wenn sie wegen Veröffentlichung von Staatsgeheimnissen, Spionage und Unterstützung einer terroristischen Gruppe verurteilt werden.61 Ihr Fall ist nur die Spitze des Eisbergs und vielleicht der bekannteste Fall der Repression gegenüber JournalistInnen. Die Türkei steht in dem letzten World Press Freedom Index der Reporter ohne Grenzen auf dem 149. von 180 Plätzen.62 Nach Angaben der BBC wurden im Januar 2016 mehr als 30 JournalistInnen im Land inhaftiert. Die meisten von ihnen sind kurdischer Herkunft.63 Die Repressionen enden nicht bei den türkischen JournalistInnen. Im März 2016 musste der Korrespondent des Spiegel, Hasnain Kazim, die Türkei verlassen, nachdem er drei Monate vergeblich auf die Verlängerung seines Presseausweises gewartet hatte.64 Und im Sommer 2015 verurteilte ein türkisches Gericht zwei britische Journalisten der Vice News und ihren Übersetzer wegen „Terrorvergehen“, nachdem sie in Diyarbakır gefilmt hatten.65 Neben der Bedrohung und Inhaftierung von JournalistInnen wird wiederholt der Zugang zu verschiedenen Webseiten blockiert. Beispiele dafür sind die Webseite der Dicle News Agency, die am 19. Februar zum 29. Mal aufgrund einer Entscheidung des Fernsehrates geschlossen wurde.66 Der Satelliten- und Kabelnetzbetreiber Türksat stoppte am 26. Februar 2016 auch die Ausstrahlung des unabhängigen Fernsehsenders IMC aufgrund einer Aufforderung durch die Staatsanwaltschaft Ankara.67

Eine der berühmtesten Fernsehshows stand auch unter Diskussion und wurde beschuldigt, den Terrorismus zu unterstützen, weil ein Lehrer, der dort angerufen hatte, über den Krieg und das Leiden in den Zonen der Ausgangssperren sprach und Frieden forderte. Kanal D musste danach in Form einer Selbstzensur eine Pressemitteilung herausgeben und erklären, dass er nicht beabsichtige, irgendeine Art von Terrorismus zu unterstützen.68 Die Beschlagnahmung der konservativen oppositionellen Tageszeitungsgruppe Zaman am 4. März 2016 stellt einen neuen qualitativen Schritt bei der Einschränkung der Pressefreiheit in der Türkei dar. Zaman ist mit der Hizmet Bewegung des islamistischen Predigers Fethullah Gülen, einem ehemaligen Verbündeten und nun Feind von Präsident Erdoğan, verbunden. Die Beschlagnahmung erfolgte aufgrund eines Gerichtsbeschlusses.69 Obwohl bereits während 2015 zwei Zeitungen und zwei Fernsehkanäle der Hizmet Bewegung unter staatliche Aufsicht gestellt worden waren, war Zaman die größte oppositionelle Tageszeitung in der Türkei und die englischsprachige Schwesterzeitung Today‘s Zaman eine wichtige englischsprachige Quelle für die Ereignisse im Land. Die Zeitung änderte sofort nach der Beschlagnahmung den redaktionellen Tenor und gab eine regierungsfreundliche Ausgabe heraus.70

Repressionen gegen die Zivilgesellschaft und das Recht auf Versammlungsfreiheit

Die Zivilgesellschaft, insbesondere der Teil, der gegen den erneuten Krieg in den kurdischen Regionen ist und Frieden und eine Wiederaufnahme der Verhandlungen fordert, ist zum Ziel zunehmender willkürlicher Repression durch staatliche Organe und Einschüchterung durch Erdoğan und VertreterInnen der Regierung geworden. Ein sehr bekannter Fall dafür: Am 11. Januar 2016 unterzeichneten 1.400 AkademikerInnen, darunter 1.128, die an türkischen Universitäten arbeiten, eine Erklärung, in der sie zur Aufhebung der Ausgangssperren aufrufen und die Regierung auffordern, Bedingungen für eine friedliche Beilegung des Konflikts zu schaffen. Unter den UnterzeichnerInnen sind AkademikerInnen und VordenkerInnen wie Noam Chomsky, David Harvey, Immanuel Wallerstein, Judith Butler und Etienne Balibar. Präsident Erdoğan gab daraufhin sofort eine Stellungnahme heraus, in der er die UnterzeichnerInnen zu Zielen erklärte, woraufhin die meisten Medien eine landesweite Verleumdungskampagne und Hexenjagd gegen die AkademikerInnen begannen. Einige rassistische und ultranationalistische Führer von kriminellen Organisationen wurden durch das Verhalten der Behörden und der Medien gestärkt und bedrohten die AkademikerInnen sogar mit dem Tod. Zudem wurden administrative und strafrechtliche Ermittlungen gegen die AkademikerInnen aufgenommen, einige von ihnen wurden verhaftet.71 Gegen 505 AkademikerInnen wurden Verfahren eingeleitet, 37 verloren wegen ihrer Unterschrift ihre Arbeit.72 Nach den täglichen Nachrichtenrezensionen der Menschenrechtsstiftung gibt es zahllose Fälle, bei denen gegen Organisationen und Personen ermittelt wird oder gegen sie Verfahren eröffnet werden, weil ihnen wegen einer Demonstration oder öffentlicher Äußerungen in den sozialen Medien oder Artikeln vorgeworfen wird, Mitglieder einer terroristischen Organisation zu sein.73 Ende November 2015 wurde Tahir Elçi, ein namhafter Menschenrechts- und Friedensaktivist und Vorsitzender der Rechtsanwaltskammer Diyarbakır, von der Polizei während einer Pressekonferenz ermordet. Er hatte in seiner Erklärung gegen die Zerstörung eines historischen Denkmals im Bezirk Sur in Diyarbakır protestiert und auch zu einem Ende der Gewalt zwischen dem türkischen Staat und der kurdischen Rebellengruppe PKK aufgerufen.74 Kurz vor seinem Tod erklärte Tahir Elçi, die „PKK ist keine terroristische Organisation“. Er war daraufhin einer Verleumdungskampagne der Regierung und der Medien ausgesetzt.75 Der Zugang zu den Ermittlungsakten über seinen Tod wurde eingeschränkt, Beweise wurden unterdrückt oder zerstört, um die zu schützen, die an seiner Ermordung beteiligt waren.

Präsident Erdoğan oder die Regierung zu kritisieren führt oft zu Ermittlungen, die potenziell zu Strafverfahren führen, an deren Ende eine Geld- oder Haftstrafe steht.76 Nach der Explosion einer Autobombe in Ankara am 13. März 2016 plädierte Präsident Erdoğan für eine Ausweitung der Definition von Terrorismus. Er sagte, dass es keinen Unterschied gebe zwischen einer Person, „die eine Waffe oder eine Bombe hat und derjenigen, die ihre Position und Stift dazu benutzt, terroristischen Zielen zu dienen“. Er ergänzte, dass dies für JournalistInnen, GesetzgeberInnen oder AktivistInnen gelte.77 Angesichts der weitverbreiteten Repression der Zivilgesellschaft schon vor dieser Erklärung kann dies nur als eine kaum verhüllte Drohung gegenüber jedweder Kritik am Vorgehen des türkischen Staates in der kurdischen Region angesehen werden.

Druck auf die HDP

Die Demokratische Partei der Völker (HDP) ist besonders staatlicher Repression ausgesetzt und häufig angeklagt, nur ein verlängerter Arm der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu sein. Bereits im Juli 2015 drängte Präsident Erdoğan das Parlament dazu, Abgeordneten der HDP für eine Strafverfolgung die Immunität zu entziehen, damit sie den „Preis zahlen“ für ihre Verbindungen zur geächteten PKK.78 (Nachtrag der Redaktion: Am 20. Mai 2016 hob das türkische Parlament die Immunität auf.) Die HDP hat mehrfach erklärt, dass sie gegen Gewalt ist und eine friedliche Lösung für die in der Türkei lebenden KurdInnen wünscht. Im August 2015 rief der Ko-Vorsitzende der Partei, Selahattin Demirtaş, die kurdischen KämpferInnen auf, „ohne Wenn und Aber“ einen Monat lang die Kämpfe gegen die Sicherheitskräfte einzustellen.79 Dennoch wird die HDP angeklagt, die PKK zu unterstützen, z.B. mit der Behauptung, dass „von der HDP verwaltete städtische Behörden die PKK dabei unterstützen, Gräben auszuheben und Straßensperren zu errichten, um die Kontrolle über die Städte zu erhalten“.80

Viele AktivistInnen und sogar gewählte VertreterInnen der HDP, wie StadträtInnen oder BürgermeisterInnen, wurden verhaftet und/oder es wurden Ermittlungen gegen sie eingeleitet. Derzeit sind im türkischen Parlament mehrere Anträge zur Aufhebung der Immunität von Abgeordneten der HDP anhängig.81 Nach Angaben des Berichtes Freedom in the World (Freiheit in der Welt) des Freedom House (Haus der Freiheit) aus dem Jahr 2016 wurden „mehr als 40 BürgermeisterInnen der HDP verhaftet oder aus ihrem Amt entfernt“ und zwischen Juli und November 2015 allein „etwa 500 Mitglieder und VertreterInnen der HDP, unter ihnen 20 gewählte BürgermeisterInnen, unter der Anklage des Terrorismus in Haft genommen“.82

Die Situation hat sich seitdem verschlechtert. Im Januar durchsuchte die Aufstandpolizei das Büro der HDP in Istanbul und verhaftete lokale VertreterInnen und AktivistInnen der Partei.83 Am 26. Februar wurden bei einem Einsatz im Büro der HDP in der westlich gelegenen Provinz Kocaeli 22 Personen festgenommen und vor Gericht gestellt.84 Am 9. März waren unter 22 wegen „terroristischer Propaganda“ verhafteten Personen auch der Vorsitzende der HDP der Provinz und weitere VertreterInnen der Partei aus Stadt und Provinz.85 Auch die Verhaftungen von der HDP angehörenden BürgermeisterInnen werden fortgesetzt, wie im März 2016 der Fall von Esmine Esmer zeigt, der Ko-Bürgermeisterin von Silopi (Şırnak).86 Neben den Aktionen gegen einzelne Parteimitglieder oder VertreterInnen der Partei steht auch die Drohung des Verbots der HDP ständig im Raum. Mehmet Ali Şahin, stellvertretender Vorsitzender der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP), warnte die HDP im Dezember 2015 vor einem Verbot.87

Warum jetzt? Versuche, die Rückkehr zum Krieg zu begreifen

Es erscheint schwierig zu begreifen, warum all dies jetzt geschieht, nachdem es doch so aussah, als ob die regierende Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und Erdoğan versuchten, zumindest einige der Sorgen der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, die etwa 20% der Gesamtbevölkerung ausmacht, aufzugreifen. Zudem gab es seit 2013 einen Waffenstillstand und eine Art von Friedensprozess. Dennoch glauben wir, dass eine Reihe von Gründen genannt werden können, warum Krieg und Repressionen in die kurdischen Regionen zurückkehrten. Wie relevant die einzelnen Gründe jeweils sind, ist schwer zu sagen. Jeder Grund alleine scheint gewichtig zu sein, und wenn wir eine Kombination derselben betrachten, bekommt man eine Idee, warum es jetzt geschieht.

1. Es gab niemals einen echten Friedensprozess noch eine „Kurdische Öffnung“

Es ist zweifelhaft, ob es jemals einen echten Friedensprozess gab, wie Simon E. Waldman und Emre Çalışkan ausführen: „Die Verschlechterung der türkisch-kurdischen Beziehungen stellt kein Scheitern des Friedensprozesses dar, weil ein echter Friedensprozess ganz einfach niemals stattgefunden hat. Es fehlten alle wesentlichen Bestandteile eines wirklichen Prozesses der Versöhnung zwischen KurdInnen und TürkInnen.“88 Auf den ersten Blick mag diese Sicht angesichts der „Kurdischen Öffnung“, die von Premierminister Erdoğan 2009 verkündet worden war, befremden. Aber, wie Marlies Casier, Joost Jongerden und Nic Walker schreiben: „Konfrontiert mit dem sich abzeichnenden ‚kurdischen Frühling‘ und ihrer abnehmenden Anerkennung im Südosten, erklärte (die AKP) selbst eine ‚Kurdische Öffnung‘. Das war offensichtlich ein entscheidender Versuch, die ‚kurdische Frage‘ aufzulösen, weil im Rahmen einer türkisch-nationalen Perspektive die Öffnung eigentlich darauf zielte, die kurdische Bewegung zurückzudrängen und die politische Kontrolle über die Region wiederzugewinnen. Es war ein Kampf um die Vorherrschaft bei der Vertretung der mehr als 15 Millionen in der Türkei lebenden KurdInnen und der politischen Kontrolle über den Südosten (etwa ein Sechstel des türkischen Territoriums).“89 Die sogenannte Kurdische Öffnung war begleitet von einem Anstieg juristischer Ermittlungen und von Verhaftungen von AktivistInnen, die als Mitglieder der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) angesehen wurden. Am 11. Dezember 2009 wurde zudem die pro-kurdische Partei der Demokratischen Gesellschaft (DTP) verboten,90 gefolgt von einer neuen Welle der Repression.

Vier Jahre später war die Lage sehr ähnlich: Wieder gab es eine pro-kurdische Partei - die Demokratische Partei der Völker (HDP) - die in den kurdischen Provinzen Stimmen von ehemaligen AKP-Wählern erhielt. Dieses Mal übersprang die Partei auf der nationalen Ebene sogar die 10%-Hürde und zog damit ins Parlament ein. Wenig später brach die AKP-Regierung den Friedensprozess offiziell ab und steigerte die Repression gegen die kurdische Zivilgesellschaft. Die darauf folgende vorgezogene Neuwahl im November 2015 fand in einem Klima der Repression und Gewalt statt. Die AKP konnte einige der in den kurdischen Provinzen verlorenen Stimmen zurückgewinnen, aber nicht genug, um die HDP unter die 10%-Hürde zu drücken und sie damit aus dem Parlament draußen zu halten.

Es stellt sich die Frage, ob der Friedensprozess und das Dolmabahce Abkommen vom 28. Februar 2015 eigentlich nur mit der Absicht erfolgten, die Vorherrschaft der AKP in den kurdischen Provinzen und in der Türkei abzusichern, anstatt Frieden zu erreichen. Als diese Strategie - zum Teil wegen der Entwicklungen südlich der Grenzen in Syrien - nicht fruchtete, hatte sie ausgedient und wurde abgebrochen.

2. Der Krieg in Syrien änderte das Kalkül von AKP und Erdoğan

Es ist unmöglich den erneuten Krieg in den kurdischen Regionen unabhängig vom Krieg in Syrien zu betrachten. Was in Syrien geschieht - was insbesondere in Rojava (den kurdischen Provinzen Syriens) geschieht - hatte und hat einen Einfluss auf die Fähigkeit der AKP, die Unterstützung für die eigene Politik in den kurdischen Regionen des Landes aufrechtzuerhalten. Tatsächlich zeigten die Wahlen am 7. Juni 2015 klar und deutlich, dass die Unterstützung der AKP in den kurdischen Provinzen sehr stark rückgängig war.

Die Türkei spielt im Bürgerkrieg in Syrien eine aktive Rolle, mit dem klaren Ziel, das syrische Regime zu stürzen. Die Türkei unterstützt eine Reihe von oppositionellen Gruppen in Syrien, insbesondere Gruppen mit islamistischen Tendenzen, wie Ahrar Ash-Sham91 und Jaysh al-Islam92. Das Land wurde wiederholt beschuldigt, auch die mit Al-Qaeda verbündete Nusra-Front93 und den Islamischen Staat (ISIS)94 zu unterstützen, die letzten beiden insbesondere, um den syrischen KurdInnen entgegenzutreten. Der damalige türkische Premierminister Ahmet Davutoğlu erklärte am 23. Februar 2016 in einem englischsprachigen Interview mit Al-Jazeera: „Wenn das syrische Volk noch dort ist und sein Land verteidigt, dann wegen unserer Unterstützung.“95

Als Konsequenz des Bürgerkrieges in Syrien übernahm die Partei der Demokratischen Union (PYD), die Verbindungen mit der PKK hat, die Kontrolle über einen bedeutsamen Teil der Region an der Grenze zur Türkei. Die türkische Regierung sah das als mögliche Bedrohung an, nicht nur, weil diese Gebiete der PKK infrastrukturell dienen könnten, sondern eher noch, weil sich daraus faktisch unabhängige Staaten ergeben könnten. „Als Antwort fing die Türkei Lieferungen in die von den KurdInnen verwalteten Gebiete ab, auch wenn diese durch den ISIS angegriffen wurden. Die Weigerung, den syrischen KurdInnen gegen den ISIS zu helfen (...) erzürnte die kurdische Bevölkerung in der Türkei, die in großem Maße die Bemühungen unterstützte, die syrischen KurdInnen zu verteidigen“96, schreibt Chris Miller, stellvertretender Direktor des Grand Strategy Program an der Yale Universität (USA). Tatsächlich hatte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan während der Kobanî-Krise die PYD als terroristische Organisation bezeichnet.

Als im Juni 2015 die Volksverteidigungseinheiten / Frauenverteidigungseinheiten (YPG/ YPJ) „die Grenzstadt Tel Abyad vom ISIS übernehmen konnten, reagierte Erdoğan verärgert und erklärte, dass ‚wir niemals die Gründung eines Staates im Norden Syriens oder in unserem Süden erlauben werden. Wir werden unseren Kampf in diesem Sinne fortführen, egal, was er kostet. Wir werden kein Auge zudrücken.‘ Diese Reaktion zeigt, dass Erdoğan Gebiete an der türkischen Grenze, die von dem ISIS kontrolliert werden, als viel problemloser ansah als ein kurdisches autonomes Experiment.“97 Tatsächlich zeigen nun in einem Buch veröffentlichte Protokolle der Treffen zwischen dem PKK-Führer Abdullah Öcalan und einem Komitee der HDP, wie Irfan Aktan schreibt, klar, dass die Friedensgespräche steckenblieben, und zwar „vor allem wegen der Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihren Zielen im benachbarten Norden Syriens beziehungsweise Rojava, wie die KurdInnen das Gebiet nennen. Das System von Bezirken, das die PYD eingerichtet hat, scheint die Türkei unverzüglich dazu bewogen zu haben, das Angebot von Öcalan abzulehnen, den Krieg aufzugeben“.98 Das hat sich seitdem nicht geändert, sondern ist vielleicht eher offensichtlicher geworden. Im Januar 2016 hat die türkische Regierung in scharfer Form die Teilnahme von VertreterInnen der Partei der Demokratischen Union (PYD) und der Volksverteidigungseinheiten (YPG) bei einem der letzten fehlgeschlagenen Versuche zur Aufnahme von Verhandlungen über den Bürgerkrieg in Syrien abgelehnt, weil sie eine „direkte Bedrohung der Türkei“ darstellen.99 Wenig später stellte Erdoğan die USA wegen ihrer Unterstützung der PYD/YPG zur Rede und fragte rhetorisch: „Seid Ihr auf unserer Seite oder auf der Seite von terroristischen Organisationen?“100 Die Türkei sieht die YPG als eine terroristische Organisation und einen Ableger der PKK an, während die USA sie als höchst effizienten Partner im Krieg gegen den ISIS sieht.

Nur wenige Tage später begannen die türkischen Streitkräfte Positionen der PYD/YPG in der Nähe der Grenze zu bombardieren. Unter den von der Türkei anvisierten Zielen war die Luftwaffenbasis Menagh, die am 11. Februar von der mit der YPG verbündeten arabischen Jaish Al-Thuwar von syrischen islamistischen Rebellen der Levante-Front (eine Salafistengruppe) und der mit Al-Qaeda verbundenen Al-Nusra-Front erobert worden war.101

3. Das Ende der AKP-Vorherrschaft seit Gezi-Park und Rojava

Die Proteste im Gezi-Park, die sich 2013 über die gesamte Türkei ausbreiteten, waren ein erstes Zeichen, dass es wachsende Unzufriedenheit mit der Politik der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) gibt. Die Proteste begannen am 17. Mai im Gezi Park in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul. Sie sollten den Park vor einem städtischen Entwicklungsprojekt von Erdoğan (ein weiteres Einkaufszentrum) schützen. Eine durch die Polizei mit Gewalt durchgesetzte Räumung verursachte in der gesamten Türkei eine Welle von Protesten. Innerhalb von zwei Wochen hatten 3,5 Millionen Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 80 Millionen) an etwa 5.000 Demonstrationen im Land teilgenommen.102 Nach Erdem Yörük und Murat Yüksel „nahmen geschätzte 16% der Bevölkerung Istanbuls an den Protesten teil, etwa 1,5 Millionen. In Izmir, der drittgrößten Stadt im Land, waren es eine halbe Million.“103 Am Ende wurde das Projekt zurückgestellt.

Die Proteste forderten laut der türkischen Medizinerkammer einen hohen Blutzoll: Acht Menschen starben, mindestens vier durch Polizeieinsätze. Über 8.000 wurden verwundet, 104 hatten schwere Kopfverletzungen und 11 Personen verloren ein Auge, zumeist aufgrund des Einsatzes von Plastikkugeln durch die Polizei.104 Bei den Gezi-Park-Protesten ging es um weit mehr als nur um den Schutz von einigen Bäumen in einem Stadtpark. Die Proteste waren die erste Herausforderung für die AKP-Regierung und insbesondere für Erdoğan. Und obwohl die Regierung bei der Forderung, den Gezi-Park zu schützen, nachgab, folgte nach den Protesten eine Repressionswelle. Viele UnterstützerInnen, BerichterstatterInnen oder auch Menschen, die ihren Protest über Twitter verbreitet hatten, verloren ihren Job. Einige wurde angeklagt. Hunderte haben ein Jahr danach immer noch laufende Gerichtsprozesse.105 Am Ende gelang es der AKP, die Brüche zu überdecken und die Herausforderung ihrer Vorherrschaft zu überstehen. Sie erholte sich von den Gezi-Protesten. Erdoğan gewann 2014 die Präsidentschaftswahlen mit mehr als 51% der Stimmen. Aber wichtiger ist, dass die Gezi-Park-Proteste eine neue Kultur und Praxis des Zivilen Ungehorsams und Widerstands geschaffen haben, eine Organisierung und Kooperation auf Graswurzelebene, unabhängig von den althergebrachten politischen Parteien. Die Anthropologin und Journalistin Ayşe Çavdar schreibt: „Gezi änderte die Grundlagen und Sprache der Politik entscheidend. Es ist neu, weil Gezi keinerlei Vorschläge der Machtverfügung anbot. Ganz im Gegenteil - Gezi war ein bestimmtes Lebensgefühl, eine Praxis, sich selbst zur Handlungsfähigkeit zu ermächtigen. Es beinhaltete ethische Richtlinien für alle von uns.“106

Der nächste Riss in der Vorherrschaft der AKP entstand aus der Belagerung von Kobanî in Rojava (syrisches Kurdistan) im Herbst und Winter 2014 durch den ISIS und die darauffolgende Antwort der türkischen Regierung. Wie schon erwähnt, ist die AKP-Regierung äußerst beunruhigt über den faktisch autonomen Status der kurdischen Region südlich der Grenze in Syrien, ähnlich wie im irakischen Kurdistan. Und Präsident Erdoğan verglich die KurdInnen von Kobanî und ihre VerteidigerInnen mit den Angreifern des Dschihad: „Es ist falsch, sie zu unterscheiden. Wir müssen mit beiden gleichermaßen fertig werden“, sagte er im Oktober 2014.107 Konsequenterweise verweigerte die Türkei jede Unterstützung, als die Belagerung durch den ISIS andauerte und der ISIS große Teile von Kobanî einnahm. Die Türkei gestattete auch nicht, dass kurdische KämpferInnen aus dem Irak oder der Freien Syrischen Armee (von denen Teile durch die Türkei unterstützt werden) über den einzig verbliebenen Zugang über die Türkei nach Kobanî gehen konnten. Auch Versorgungsgüter konnten die Stadt nicht erreichen. Erst viel später, Ende Oktober, gestattete die Türkei auf Druck der USA 150 irakisch-kurdischen KämpferInnen der Peschmerga, die Grenze nach Kobanî zu überschreiten.108 Letztendlich gelang es aber den Volksverteidigungseinheiten (YPG) und der Freien Syrischen Armee, mit Unterstützung der US-Luftwaffe, den ISIS aus Kobanî zu vertreiben. Während Kobanî nicht an den ISIS fiel, hatte der Widerwille der türkischen Regierung, Kobanî Hilfe zukommen zu lassen, bedeutende politische Auswirkungen in der Türkei.

Die Belagerung von Kobanî löste in der gesamten Türkei, aber insbesondere in den kurdischen Gebieten, Proteste aus. Nach Zusammenstößen am 7. Oktober 2014 wurden Panzer und gepanzerte Fahrzeuge eingesetzt, um Ausgangssperren in den vorwiegend kurdisch bewohnten Provinzen Diyarbakır, Batman, Bingöl und Van, wie auch in anderen Gebieten, durchzusetzen.109 Heute sieht das alles wie ein Vorspiel zu den aktuellen Ereignissen in den kurdischen Regionen der Türkei aus.

Wichtiger ist aber, dass diese Ereignisse die Vorherrschaft der AKP in den kurdischen Gebieten brach. Während bis dahin konservative KurdInnen, die etwa 40% der Wählerschaft in den Gebieten stellen, für die AKP gestimmt hatten, wechselten nun viele, erschrocken über die fehlende Unterstützung für Kobanî durch die von der AKP regierte Türkei, zur HDP.110 Auf der anderen Seite unterstützten KämpferInnen der PKK die syrisch-kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und die irakischen Peschmerga im Kampf gegen den ISIS. Sie verteidigten Kobanî, während die türkischen Streitkräfte das gerade nicht taten. Sie konnten damit ihre Legitimität in den kurdischen Gebieten der Türkei steigern.111 Es war nicht der einzige Grund, warum die HDP über die 10%-Hürde kommen konnte, aber es war auf jeden Fall ein wichtiger Grund, warum die AKP die Mehrheit verlor.

4. Die sogenannte „Flüchtlingskrise“ und der „Krieg gegen ISIS“ geben der Türkei mehr Macht

Der Krieg in Syrien und die daraus folgende humanitäre Krise (zusätzlich zu den andauernden Kriegen in Irak und Afghanistan) haben die geostrategische Position der Türkei gestärkt. Anders gesagt: Vielleicht brauchen Europäische Union und die USA die Türkei jetzt mehr, als die Türkei sie braucht.

Die USA wollte die Türkei unbedingt in ihrer Koalition gegen den ISIS haben, worauf die Türkei lange zögerlich reagierte. Die Türkei trat der Koalition gegen den ISIS formal im September 2014 während eines NATO-Treffens bei.112 The Guardian betonte im Juli 2015: „Erdoğan hatte den Schwerpunkt viel stärker darauf gelegt, kurdische separatistische Ambitionen in den rechtsfreien Räumen von Irak und Syrien zu durchkreuzen, als den Terrorismus zu bekämpfen“ und „die Geheimdienste der Türkei wurden angeklagt, heimlich den ISIS und andere islamistische Gruppen zu unterstützen, um die KurdInnen in Schach zu halten“. Das hat sich nicht wirklich geändert, obwohl die Türkei im Juli 2015 den USA die Nutzung der Luftwaffenbasis İncirlik und möglicherweise weiteren Luftwaffenbasen für ihre Angriffe gegen den ISIS gestattete,113 und obwohl die Türkei einige Bombenangriffe gegen den ISIS in Syrien flog. Sie nutzte diese Gelegenheit, auch Stellungen der PKK anzugreifen.

Es ist nicht bekannt, was die Vereinbarung zwischen den USA und der Türkei darüber hinaus beinhaltet. Aber angesichts der zögerlichen Haltung gegenüber der Koalition gegen den ISIS und der Feindseligkeit gegenüber den USA bezüglich der Unterstützung der syrisch-kurdischen YPG sowie der Weigerung der USA, die YPG zu einer terroristischen Organisation zu erklären, ist es wahrscheinlich, dass die Türkei nichts weiter im Gegenzug erhielt, als das Stillschweigen der USA zur türkischen Repression gegenüber der kurdischen Bevölkerung. Wie Nate Shenkkan, Leiter des Projektes Nations in Transit (Nationen im Übergang) des Freedom House‘ schreibt: „Die Türkei hat eine stärkere Unterstützung für die Koalition zugesagt und dies erfolgreich damit verbunden, dass jede Kritik der USA an den Übergriffen gegenüber den KurdInnen verstummt.“114 In ähnlicher Weise ist die erneuerte und sehr deutliche Warnung von Erdoğan gegenüber den USA zu verstehen, sich zwischen der YPG und der Türkei als Verbündete zu entscheiden. Diese Warnung sprach Erdoğan nach dem Bombenanschlag am 17. Februar 2016 aus, bei dem in Ankara 28 Menschen getötet wurden. Erdoğan verlautbarte wiederholt, dass er keinen Zweifel daran habe, dass die syrisch-kurdische YPG das Attentat ausgeführt habe oder zumindest daran beteiligt sei,115 obwohl die Splittergruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) die Verantwortung dafür übernommen hatte.116 Das mag tatsächlich mehr ein Nebengefecht gewesen sein, um sicherzustellen, dass die USA bezüglich der kurdischen Regionen in der Türkei Stillschweigen bewahren.

Gegenüber der Europäischen Union befindet sich die Türkei in einer noch mächtigeren Position. Die Türkei nimmt einen Großteil der syrischen Flüchtlinge auf. Es leben derzeit schätzungsweise mehr als 2,5 Millionen im Land. Die Türkei ist nun auch eine der wichtigsten Transitrouten für Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan in die Europäische Union. Von den mehr als eine Million Flüchtlingen, die 2015 in die Europäische Union kamen, erreichten über 80% Griechenland über die Türkei.117 Nach anfänglichem Chaos in der Europäischen Union gibt es nun einen wachsenden Konsens darüber, die „Flut der MigrantInnen an den EU-Außengrenzen aufzuhalten“, was den Druck auf Griechenland erhöht, die Grenzkontrollen zu verstärken. Mit einem Abkommen erhält die Türkei nun von der Europäischen Union 3 Milliarden Euro und die Zusage für eine Wiederaufnahme der Beitrittsverhandlungen zur EU. Im Gegenzug versprach die Türkei, die Grenzen zur EU zu schließen und die Flüchtlinge im Land zu behalten.118 Zudem gibt es eine Übernahmevereinbarung, wonach die Flüchtlinge, deren Asylanträge in der Mitgliedsländern der EU nicht erfolgreich waren, von der Türkei zurückgenommen werden. Weniger als zwei Monate später begann die Türkei weitere Mittel119 von der EU einzufordern, als Beitrag zu den mehr als 10 Milliarden Euro, die das Land bereits für die syrischen Flüchtlinge aufgewendet habe. Im März 2016 verhandelten EU und Türkei über ein neues Abkommen mit einer Finanzspritze über 6 Milliarden Euro.120 Da also die USA und die Europäische Union die Zusammenarbeit mit der Türkei brauchen, ist die türkische Regierung in einer starken Position, um Stillschweigen darüber einzufordern, was sie in den kurdischen Gebieten tut. Substanzielle Kritik von Seiten der EU oder der USA an den Maßnahmen der türkischen Regierung ist daher unwahrscheinlich.

5. Ein erneuerter kurdischer Nationalismus

Aber die Ereignisse der letzten Jahre - allen voran der „Kampf um Kobanî“ - änderten auch die türkisch-kurdischen Sichtweisen. Wie Cengiz Güneş und Robert Lowe schreiben: Dies „schuf einen neuen kurdisch-nationalistischen Mythos des Heldentums und der Befreiung. Kobani wird - unabhängig von den damit verbundenen Verwüstungen - als bedeutender Sieg angesehen und hat einen immensen symbolischen Wert für die kurdische Stimmung in der Region.“121 Der Mythos von Kobanî und Rojava - der kurdische Name für den in Syrien gelegenen Teil Kurdistans - begeistert große Teile der kurdischen Bevölkerung in der Türkei, vor allem die Jugend.

Somit gab es einen hohen Grad an Empörung, als die staatlichen Repressionen in den kurdischen Regionen der Türkei anstiegen, nicht nur über die Repressionen selbst, sondern auch über die Untätigkeit und Sabotage bei der Verteidigung von Kobanî im Jahr 2015. Dies verband sich mit einem erneuerten kurdischen Nationalismus und der Begeisterung für eine kurdische Selbstverwaltung nach dem Konzept des „demokratischen Konföderalismus“ (sei dies nun nur ein Mythos oder Wahrheit). Auch das brachte viele Menschen dazu, gegen die Repressionen aufzustehen und ähnliche Taktiken zu nutzen wie in Kobanî. Die Erklärungen zur Selbstverwaltung vieler kurdischer Städte und Stadtteile und das Ausheben von Gräben in diesen Gebieten war ein verzweifelter und vergeblicher Ausdruck des erneuerten Nationalismus und des Gefühls „Genug ist genug“.

Zusammenfassung

All diese Entwicklungen können nicht getrennt von den Ambitionen der regierenden Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung (AKP) und vor allem von Erdoğan zum Machterhalt und zur Vorherrschaft in der Türkei gesehen werden. Erdoğans Entscheidung, den Posten als Premierminister aufzugeben (der nach der türkischen Verfassung die wirkliche Macht innehat) und sich dafür zu entscheiden, im August 2014 der erste direkt gewählte Präsident zu werden (was nach der Verfassung eine eher symbolische Rolle darstellt), war verbunden mit dem Plan, die Türkei in ein Präsidialsystem zu verwandeln, ähnlich dem in Frankreich und den USA. Möglicherweise waren die AKP und Erdoğan zu überzeugt davon, dass sie die für eine Verfassungsänderung notwendige 2/3-Mehrheit im Parlament erreichen könnten. Sie wollten nicht die Einbrüche in die Vorherrschaft der AKP sehen, ausgelöst durch den Gezi-Park und den Zusammenbruch der Position der AKP in der kurdischen Region nach der Belagerung von Kobanî im Herbst und Winter 2014.

Die Verfassungsänderung war und ist ein entscheidendes Element der AKP-Strategie, um die Vorherrschaft aufrecht zu erhalten, da die AKP, auch wenn sie im Juni 2015 die absolute Mehrheit verlor (und im November wieder errang), die einzige Partei ist, die an die 50% der Stimmen bekommt, und eine geeinte Opposition unwahrscheinlich ist. Deshalb würde ein Präsidialsystem, das von der Anlage her einen Wettkampf zwischen zwei Kandidaten bedeutet, sehr wahrscheinlich die AKP für lange Zeit an der Macht halten - so das Kalkül.

Die Umarmung - oder vielmehr die Benutzung - der KurdInnen war Teil der Strategie, um die notwendige Unterstützung für eine Verfassungsänderung zu erhalten. Nach Kobanî wurde aber klar, dass diese Strategie nicht aufgehen würde. Die einzige Möglichkeit für die AKP ist nun, auf der einen Seite die kurdische HDP unter die 10%-Hürde zu drücken (und damit aus dem Parlament zu drängen), und auf der anderen Seite an die Wähler der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP) zu appellieren. Somit ist die Idee von Frieden und (einer sehr begrenzten) kurdischen Autonomie nun eine Sache der Vergangenheit. Es scheint für die AKP nicht mehr möglich zu sein, die Unterstützung in den kurdischen Regionen wiederzugewinnen. Und jeder Versuch, es zu tun, würde die nationalistischen Wähler vor den Kopf stoßen.

In Ergänzung dazu droht eine kurdische autonome Region im Norden Syriens, was einen starken Einfluss auf die KurdInnen in der Türkei haben könnte. Wir können dies bereits seit Juli 2015 beobachten. Die syrisch-kurdische Partei der Demokratischen Union (PYD) und ihre Volksverteidigungseinheiten (YPG) stehen der Strategie von Erdoğan und der AKP für Syrien im Weg. Eine Strategie, die auf die Unterstützung einer Reihe von islamistischen Gruppen setzt. Die Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in den kurdischen Gebieten der Türkei in Kämpfe zu verwickeln, ist zudem ein Weg, um sie zu beschäftigen und somit daran zu hindern, YPG und PYD in Syrien zu unterstützen, wie sie es während der Belagerung von Kobanî getan haben.

In vielerlei Hinsicht sind die Strategien von Erdoğan und der AKP für die Türkei und den Nahen Osten komplett gescheitert. Der aus der Muslimbruderschaft stammende Präsident Mohamed Morsi in Ägypten, der von der Türkei unterstützt wurde, wurde vom ägyptischen Militär unter Abdel Fattah el-Sisi gestürzt, womit die kurze Allianz zwischen den beiden Ländern endete. Auch die Strategie bezüglich Syrien scheint zu scheitern, mit dem negativen Effekt, dass die faktisch autonome kurdische Region südlich der türkischen Grenze gestärkt wurde. Und die Versuche der AKP, in den kurdischen Gebieten der Türkei Unterstützung zu erhalten, liegen in Trümmern (und Blut).

Der gegenwärtige Krieg in den kurdischen Regionen der Türkei und die zunehmende willkürliche und brutale Unterdrückung jedweder oppositioneller Stimmen in der Türkei (wie die Repressionen gegen die mehr als 1.000 AkademikerInnen, die eine Erklärung gegen das Vorgehen in den kurdischen Regionen der Türkei unterzeichnet hatten) kann als verzweifelter (und mit Gewalt durchgesetzter) Versuch gesehen werden, das zu erreichen, was anders nicht zu erreichen ist. Erdoğan und die AKP sind angeschlagen und verzweifelt und sie haben keinen Plan B. Das macht es noch gefährlicher, weil sie alles daran setzen werden, den Plan A umzusetzen. Die Opfer werden nicht nur die KurdInnen sein, sondern auch die Aussichten auf Demokratie und soziale Gerechtigkeit in der Türkei.

Link zu den Fußnoten

Andreas Speck und Hülya Üçpınar: Renewed war in the Kurdish regions in Turkey. 19. März 2016. www.wri-irg.org/de/node/26282. Übersetzung: rf. Der Beitrag erschien in der Broschüre "Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei!", hrsg. von Connection e.V., Bund für Soziale Verteidigung und Internationaler Versöhnungsbund, 12. Juli 2016

Stichworte:    ⇒ Friedensbewegung   ⇒ Krieg   ⇒ Menschenrechte   ⇒ Militarisierung   ⇒ Strafverfolgung   ⇒ Türkei   ⇒ Zivilgesellschaft