Vorwort zur Broschüre "Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei!"

von Rudi Friedrich

(14.07.2016) "Europa hat uns vergessen", das ist die bittere Aussage, die in diesen Tagen so oft im Südosten der Türkei zu hören ist. „Wir dachten, Europa stünde für Menschenrechte und Frieden. Aber im Gegensatz zum Krieg in der Türkei in den 90er Jahren, kümmert sich heute niemand darum, was bei uns geschieht.“

Wir, eine von der War Resisters‘ International (WRI) koordinierte Arbeitsgruppe, hörten dies während einer Delegationsreise, die wir Ende April nach Diyarbakr und Cizre unternahmen. Und tatsächlich spielt der Krieg in den kurdischen Gebieten der Türkei hier in Europa kaum eine Rolle. Die Europäische Union - und allen voran die deutsche Bundeskanzlerin - sucht vielmehr das Gespräch mit der türkischen Regierung und dem Präsidenten Tayyip Erdoğan, damit die Türkei Hunderttausende im Land gestrandete syrische Flüchtlinge davon abhält, in die EU zu kommen.

In dieser Broschüre dokumentieren wir Berichte über den Krieg, die Realität der Ausgangssperren und der Straßenkämpfe. Verschiedene Organisationen kommen zu Wort. Aber wir zeigen auch auf, welche zivilen Widerstandsformen, welche Solidaritätsarbeit und welche Aktivitäten es gegen den Krieg gibt.

Das Rad dreht sich weiter

Einen besonderen Stellenwert nimmt in dieser Broschüre die ausführliche Analyse des Krieges von Hülya Üçpınar und Andreas Speck ein. Sie stellten ihren Beitrag bereits Mitte März 2016 zusammen, um die Hintergründe für die erneute Eskalation des Konflikts zwischen der Türkei und der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) zu beschreiben. In der Zwischenzeit gab es weitere Entwicklungen, an die wir an dieser Stelle erinnern wollen:

  • Das türkische Parlament hob mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit am 20. Mai 2016 die Immunität von mehr als einem Viertel der Abgeordneten auf. Die Aufhebung der Immunität erfolgt über eine befristete Verfassungsänderung. Die Entscheidung trifft vor allem die pro-kurdische Demokratische Partei der Völker (HDP). Präsident Tayyip Erdoğan wirft deren Abgeordneten vor, Sprachrohr der verbotenen PKK zu sein. Nach der Entscheidung könnten 50 der insgesamt 59 Abgeordneten der Partei ihre Immunität verlieren. Ihnen drohen Anklagen - unter anderem wegen Terrorunterstützung.1
  • Am 23. Juni 2016 verabschiedete das türkische Parlament Regelungen, mit denen die Sicherheitskräfte erweiterte Befugnisse erhalten und bei ihren Einsätzen faktisch straflos gestellt werden. Durch die Änderungen ist zukünftig für die Eröffnung von Ermittlungen gegen den Stabschef und führende Offiziere die Genehmigung des Ministerpräsidenten erforderlich, bei niedrigeren Offiziersrängen die Genehmigung des Innen- oder Verteidigungsministers. Zudem können Militärbefehlshaber zukünftig ohne Einbeziehung der Justiz Durchsuchungsbefehle ausstellen. „Die Gesetzesänderungen senden das zutiefst beunruhigende Signal an die Sicherheitskräfte“, so Amnesty International, „dass Übergriffe toleriert werden.“2
  • Große internationale Empörung löste die Verhaftung der Vorsitzenden der Menschenrechtsstiftung der Türkei, Şebnem Fincancı, sowie der Journalisten Erol Önderoğlu und Ahmet Nesin am 27. Juni 2016 aus. Ihnen und 31 weiteren MedienvertreterInnen wird vorgeworfen, „Propaganda für eine terroristische Organisation“ betrieben zu haben. Der Grund: Seit dem 3. Mai, dem Internationalen Tag der Pressefreiheit, übernahmen sie und andere jeweils einen Tag lang symbolisch den Posten des Chefredakteurs der Zeitung Özgür Gündem, um ein Zeichen der Solidarität mit der Zeitung zu setzen, die unter enormem Druck der türkischen Behörden steht. Nach Protesten aus dem Europarat und auch vom UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon wurde am 30. Juni die Freilassung von Erol Önderoğlu und Şebnem Fincancı angeordnet. Die Strafandrohung bleibt jedoch bestehen. Es ist ein weiteres Beispiel, wie der türkische Staat mit dem Vorwurf der Unterstützung einer terroristischen Organisation gegen kritische Stimmen vorgeht.3
  • Für Aufruhr in der Türkei sorgte die Armenien-Resolution, die der Bundestag am 31. Mai 2016 verabschiedete. Darin „beklagt der Deutsche Bundestag die Taten der damaligen jungtürkischen Regierung, die zur fast vollständigen Vernichtung der Armenier im Osmanischen Reich geführt haben“ und „bedauert die unrühmliche Rolle des Deutschen Reiches“ bei diesen „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.4 Präsident Erdoğan reagierte darauf mit einer scharfen Attacke gegen türkisch-stämmige Bundestagsabgeordnete und rückte sie in die Nähe des Terrorismus.5
  • Trotz großer Spannungen: Die deutsche Bundesregierung - und mit ihr die Europäische Union - verhandelt weiter mit der Türkei. Hülya Üçpınar und Andreas Speck kommen in ihrem Artikel zu dem Schluss: „Die USA und die Europäische Union brauchen die Türkei mehr, als die Türkei sie“.6 Die Türkei spielt im Südosten der NATO eine zentrale militärpolitische Rolle und hat in der Frage der Flüchtlingspolitik eine mächtige Position.
  • Der Krieg im Südosten der Türkei wird fortgesetzt, weitere Ausgangssperren wurden verhängt, im Westen der Türkei kommt es immer wieder zu Anschlägen. Für zwei Anschläge auf die Polizei im Juni 2016 erklärte die Splittergruppe Freiheitsfalken Kurdistans (TAK) ihre Verantwortung. Wer für den Terroranschlag am Flughafen in Istanbul am 28. Juni 2016 verantwortlich ist, ist weiter ungeklärt.7 Sicher ist jedoch, dass sich die Gewaltspirale weiter dreht, mit verschiedenen Akteuren mit unterschiedlichsten Interessen.

Kampagne für ein Ende des Krieges

Die von den WRI koordinierte Arbeitsgruppe, in der u.a. Mitglieder der WRI aus der Türkei, Schweden und Spanien sowie VertreterInnen von Connection e.V., dem Bund für Soziale Verteidigung und dem Internationalen Versöhnungsbund - Österreichischer Zweig mitwirken, hatte angesichts der erneuten Eskalation der Gewalt im Januar 2016 ihre Arbeit aufgenommen. Wir starteten die Kampagne „Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei“, die sich an den deutschen Bundesaußenminister, aber auch an die Hohe Vertreterin der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Federica Mogherini, wendet. Tausende forderten in den Petitionen die europäischen Institutionen auf, die Parteien des Konflikts, insbesondere die türkische Regierung und die PKK zum sofortigen Waffenstillstand und zur Wiederaufnahme der Friedensgespräche aufzurufen. Zudem sollen alle Waffenlieferungen in die Region gestoppt und die OSZE eingeschaltet werden, um eine Beobachtermission zu entsenden.

Um dem Nachdruck zu verleihen, entsandten die Organisationen zudem im Juni 2016 zwei MenschenrechtsexpertInnen aus der Türkei zu den internationalen und europäischen Institutionen. Und obwohl viele europäische Institutionen und Regierungen weiter schweigen: Erfreulich war, dass während der Lobbytour die Parlamentarische Versammlung des Europarates in der Resolution 2121 (2016) Stellung bezog: „Die Versammlung kommt zu dem Schluss, dass die jüngsten Entwicklungen bezüglich der Rede- und Pressefreiheit, der Aushöhlung des Rechtssystems und der Menschenrechtsverletzungen im Rahmen der Anti-Terror-Operationen der Sicherheitskräfte im Südosten der Türkei eine Bedrohung für das Funktionieren der demokratischen Institutionen darstellen und bezüglich der Verpflichtungen des Landes im Rahmen des Europarates.“

Einige Organisationen in Diyarbakır und Cizre zeigten großes Interesse an Möglichkeiten, wie ein ziviler und gewaltfreier Widerstand aufgebaut werden kann. Gemeinsam mit diesen Organisationen bereitet die War Resisters‘ International nun ein Nachfolgetreffen bzw. -seminar vor. Eine stärkere Zusammenarbeit mit den zivilgesellschaftlichen Organisationen in der Türkei, die sich gegen Krieg und für die Menschenrechte einsetzen, ist dringend geboten. Und es muss darum gehen, dass europäische und internationale Institutionen ihre Möglichkeiten nutzen, den Krieg zu beenden und eine Lösung über Friedensverhandlungen zu unterstützen.

Fußnoten

1 Süddeutsche Zeitung: Ankara - Türkisches Parlament hebt Immunität von Abgeordneten auf. 20.5.2016

2 Amnesty International: Südost-Türkei droht Rückfall in düstere Zeiten der 1990er Jahre

3 Amnesty International: Solidaritäts-Aktion - Freiheit für türkische Journalisten und Menschenrechtsverteidiger, 27.6.2016; Reporter ohne Grenzen: ROG-Korrespondent freigelassen, 30.6.2016.

4 Deutscher Bundestag: Drucksache 18/8613, 31.5.2016

5 Tagesspiegel: Erdogan für Blutprobe bei türkischstämmigen Bundestagsabgeordneten. 6.6.2016

6 vgl. Seite 24ff in dieser Broschüre

7 http://de.wikipedia.org/wiki/Liste_von_Terroranschlägen. Zugang am 11. Juli 2016

Der Beitrag erschien in der Broschüre "Stoppt den Kreislauf der Gewalt in der Türkei!", hrsg. von Connection e.V., Bund für Soziale Verteidigung und Internationaler Versöhnungsbund, 14. Juli 2016

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