Rundbrief »KDV im Krieg« - November 2017

Rundbrief »KDV im Krieg« - November 2017

Hört die Stimmen der Kindersoldatinnen aus DR Kongo

von Sandra Olsson

(19.06.2017) Im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DR Kongo) brodeln weiter verschiedenste Konflikte, die ländliche kommunale Strukturen schwächen und die Kinder in ein Netz der Gewalt locken.
Die Konflikte haben Gemeinschaften zerstört und zu Tausenden von KindersoldatInnen geführt, die direkt an der Front Dienst leisten oder als TrägerInnen, Köche oder Spione arbeiten. Bis zu 40% von ihnen sind Mädchen.
2016 interviewte Child Soldiers International 150 Mädchen, die vorher bei einer der vielen bewaffneten Gruppen im Land waren. Die Interviews sind Grundlage unseres neuen Berichtes, „Was die Mädchen sagen“ , der am 19. Juni 2017, dem Internationalen Tag zur Überwindung der sexuellen Gewalt in Konflikten, veröffentlicht wurde.

Hoffnung auf ein besseres Leben

Von den 150 intervewten Mädchen waren zwei Drittel von den bewaffneten Gruppen entführt worden, ein Drittel schloss sich den Gruppen „freiwillig“ an.
„Wir haben gehört, dass wir dort Geld verdienen könnten“, berichtete uns die 15-jährige Judith. „Ich ging hin, weil ich genug Geld verdienen wollte, um zur Schule gehen zu können.“
Ähnliche Erwägungen gaben uns Dutzende von Mädchen aus Süd- und Nordkivu sowie aus Haut-Uéle. Die finanzielle Not zu Hause trieb sie in den Konflikt. Es wird geschätzt, dass nur 60% der Mädchen die Grundschule abgeschlossen haben. Im Vergleich dazu sind es 80% bei den Jungen.
Nicht zur Schule gehen zu können, war für viele Mächen ein Faktor bei ihrer Entscheidung, sich den bewaffneten Gruppen anzuschließen, darunter den Verteidigungsmilizen, die als Mai-Mai bekannt sind, der Lord‘s Resistance Army von Joseph Kony und der M23.
„Ich wurde aus der Schule geworfen, weil meine Eltern nicht mehr zahlen konnten“, erklärte die 16-jährige Sara. „Statt ziellos in der Stadt rumzulungern, war es besser loszuziehen und ihnen im Busch zu helfen.“
Für einige andere gab es aber auch das Motiv, Rache für den Tod eines Freundes oder eines Familienangehörigen zu nehmen. Bei anderen war die Dorfgemeinschaft bedroht worden und sie suchten Schutz.
„Die Mai-Mai machten die ganze Zeit schlimme Sachen“, erklärte ein Mädchen. „Sie plünderten und vergewaltigten. Es war so beängstigend und es war nicht mehr möglich, zu Hause zu leben. Um uns selbst zu schützen, entschieden ich und fünf weitere, drei Mädchen und zwei Jungen, uns ihnen anzuschließen. Zwei Tage marschierten wir.“

Missbraucht und ausgebeutet als „Ehefrau“

Aber die Hoffnung, darüber Geld zu verdienen oder durch die bewaffneten Gruppen beschützt zu werden, wurde niemals wahr. Körperliche Misshandlung, sexueller Missbrauch, Kampfeinsatz, harte Arbeit und die ständige Todesangst sind für Kinder und Teenager Realität in den bewaffneten Gruppen in der DR Kongo. Die Rolle der Mädchen schließt keineswegs den Einsatz an der Front und bei direkten Kämpfen aus.
Viele wurden als „Ehefrauen“ von Soldaten ausgebeutet oder benutzt, um verschiedene Haushaltstätigkeiten zu leisten, z.B. auf die Babys der Gruppe aufzupassen. Viele haben selbst Kinder bekommen, oft unter sehr schwierigen Umständen.
„Wir wurden wie Spielzeuge behandelt“, sagte eine 15-jährige. „Glücklich waren die dran, die nur einen Mann hatten.“ Die meisten der Mädchen gaben an, dass sie in der Gefangenschaft unter sexuellem Missbrauch litten. „Ich war oft vollgepumpt mit Drogen“, erinnert sich die 17-jährige Jeanette. „Wenn ich aufwachte, fand ich mich selbst nackt wieder. Sie gaben uns Drogen, damit wir nicht schlapp machten, wenn sie alle uns benutzten.“
Es sind unerträgliche Erfahrungen, die für Frauen und Mädchen gleichwohl in der ganzen Welt in Konfliktgebieten üblich sind. Der Internationale Tag zur Beseitigung von sexueller Gewalt in Konflikten wurde 2015 eingeführt. Der 19. Juni ist der Jahrestag, an dem der UN-Sicherheitsrat eine Resolution verabschiedet hat, die sexuelle Gewalt als Kriegsstrategie verurteilt.
„Sexuelle Gewalt ist eine brutale Form körperlicher und psychologischer Kriegsführung basierend auf der Ungleichheit der Geschlechter. Sie existiert nicht nur in Konfliktgebieten, sondern in unserem alltäglichen Leben“, so der Generalsekretär António Guterres in einem Bericht, der an diesem Jahrestag veröffentlicht wurde. „Solche Formen der Gewalt untergraben fortdauernd Frieden und Sicherheit und zerrütten Familienbindungen und Gemeinschaften.“
2016 hat die UN-Mission in der DR Kongo, MONUSCO, 514 Fälle von im Zusammenhang mit dem Konflikt stehenden sexueller Gewalt festgestellt. Mehr als ein Drittel der Opfer waren Mädchen unter 18 Jahren. Der Bevölkerungsfonds der UN berichtet für denselben Zeitraum über 2.593 Fälle sexueller Gewalt in „vom Konflikt betroffenen Provinzen“.
MONUSCO führte aus, dass nicht-staatliche bewaffnete Gruppen, darunter auch verschiedene Einheiten der Mai-Mai, für fast 70% der Fälle verantwortlich sind.

Wiederherstellung und Reintegration

Die Mädchen aus dem Griff der bewaffneten Gruppen zu befreien, kann ein unglaublich schwieriges Ziel sein. Von mehr als 9.000 von MONUSCO zwischen 2009 und 2015 in der DR Kongo befreiten KindersoldatInnen waren nur 7% Mädchen. Allerdings ist das Leben für zurückkehrende Mädchen in ihren Familien und Gemeinschaften oft noch leidvoller. Stigmatisierung und Ablehnung herrschen vor, zumeist basierend auf der Tatsache, dass sie bereits vor ihrer Heirat sexuelle Beziehungen hatten.
„Es vergehen keine zwei Tage, bis mich Nachbarn daran erinnern, dass wir mit Männern zu tun hatten“, sagte ein Mädchen. „Wir dürfen uns nicht mit ihren Töchtern treffen.“
Solcher Art diskriminiert sind sie in ihren Gemeinschaften geächtet und vom sozialen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen. Deshalb entscheiden sich einige dazu, zu den bewaffneten Gruppen zurückzukehren, die sie missbraucht haben. „Wenn wir die Gruppe verlassen, werden wir zur Zielscheibe und abgelehnt“, berichtete mir ein Mädchen. „So viele nehmen es hin und entscheiden sich für eine Fortführung des Lebens mit ihrem ‚Ehemann‘ im Urwald.“
Die Studie von Child Soldiers International zeigt, dass die Stigmatisierung und die Ablehnung durch die Gemeinschaft die wesentlichsten Hürden für eine Reintegration vieler ehemaliger Kindersoldaten im Land darstellt. Eine Änderung des Verhaltens und Standpunktes gegenüber den Kindersoldatinnen ist dringend erforderlich.
Unsere Organisation arbeitet derzeit mit der kongolesischen Regierung, lokalen Partnerorganisationen, den Vereinten Nationen und Führern der Dorfgemeinschaften daran, die Behandlung von diesen Mädchen zu verbessern und ihnen Hilfestellung zu geben, wenn sie zurückgekehrt sind.
Wir haben eine Reihe von Aktivitäten skizziert, die auf kommunaler Ebene umgesetzt werden können, um das Leben der ehemaligen Kindersoldatinnen und die Sichtweise der Familien und Gemeinschaften zu verändern.

Ausbildung und wirtschaftliche Stärkung

Als eine der Initiativen kann unserer Auffassung nach Ausbildung ein sehr bedeutsamer Katalysator für solch eine Veränderung sein. Viele der Rückkehrerinnen sind von Ausbildungsmöglichkeiten ausgeschlossen. Einige können nichts dafür bezahlen, andere werden von Familienangehörigen gemieden und ihnen wird nicht gestattet, wieder in die Schule zu gehen. Das Verlangen, wieder zurück in die Schule zu kommen, war unter den von uns interviewten Mädchen im Osten der DR Kongo geradezu überwältigend. Eine sagte: „Wenn wir zur Schule gehen könnten, wäre das Dorf netter zu uns. Wir würden stärker berücksichtigt. Es würde uns sehr helfen.“
Der Mangel an Ausbildungsmöglichkeiten, aufrechterhalten durch die Ablehnung der Dorfgemeinschaft, wird noch durch die Tatsache verstärkt, dass lokale Organisationen zu wenig Geld haben und es ihnen nicht möglich ist, zurückkehrenden KindersoldatInnen bei der Reintegration zu helfen.
Wir sprachen mit einigen Organisationen, die sich der Hilfe von KindersoldatInnen in der Region gewidmet haben, aber viele von ihnen erklärten, dass es ihnen aufgrund finanzieller Engpässe nicht möglich ist, Hilfe zu leisten. Einer sagte, dass sie gerade mal für 19 von 119 Kindern, die ihnen bekannt sind, Gelder haben. Andere Organisationen ergänzten: „Wir kennen 273 Kinder, die 2015 bewaffnete Gruppen verlassen haben, aber wir warten immer noch auf Hilfsgelder.“
Den Kindern die Rückkehr in die Klassenräume zu ermöglichen würde nicht nur die Akzeptanz durch ihre Gemeinschaften fördern, sondern auch eine langfristige wirtschaftliche Entwicklung anregen, da es ihnen größere Möglichkeiten und Mittel bei der Landwirtschaft eröffnen würde. Das ist der vorwiegende Lebensunterhalt für viele in einer Region, die durch die bewaffneten Konflikte verwüstet ist, wo Felder vernachlässigt sind, Tiere gestohlen und landwirtschaftliche Arbeitsgeräte geplündert.
Die Veränderung der Wahrnehmung und Hilfe bei der Entwicklung von wirtschaftlichen Möglichkeiten für die rückkehrenden Kindersoldatinnen in der DR Kongo und ihre Dorfgemeinschaften könnte hoffentlich andere Kinder im Schulalter davon abhalten, in den Konflikt mit hineingezogen zu werden. Und es könnte verhindern, dass rückkehrende Mädchen erneut zu den bewaffneten Gruppen gehen.
Den Kindersoldatinnen aus der DR Kongo eine Stimme zu geben hilft auch, auf ihre viel zu oft übersehene Rolle im Konflikt aufmerksam zu machen. Durch die Veröffentlichung ihrer Aussagen hoffen wir, Veränderungen anzustoßen, so dass mehr Mädchen im Osten der DR Kongo erreicht und erfolgreich reintegriert werden können, zurück zu ihren Familien und Dorfgemeinschaften.
„Ich bin sehr erfreut, dass es immer noch Menschen gibt, die sich für unsere Situation interessieren“, ergänzt ein Mädchen. „Manchmal fühlen wir uns völlig allein gelassen, ohne jede moralische Unterstützung. Danke.“

Sandra Olsson ist Referentin bei Child Soldiers International, einer Menschenrechtsorganisation, die die Rekrutierung von Kindern beenden will.




Sandra Olsson: Hear the voices of Congo‘s girl child soldiers. 19. Juni 2017. Quelle: IRIN, https://www.irinnews.org/opinion/2017/06/19/hear-voices-congo%E2%80%99s-girl-child-soldiers. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe November 2017.

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