Situation von Frauen und Mädchen in Eritrea
(19.10.2017) Eritrea erreichte nach 30 Jahren Krieg 1991 seine Unabhängigkeit von Äthiopien. Die regierende Partei, die Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ), ist seit der Unabhängigkeit die einzige bestehende Partei. Eine 1997 verabschiedete Verfassung wurde nie umgesetzt. Gegenwärtig wird das Land von einer geheimnistuerischen Diktatur regiert, der Menschenrechtsverletzungen vorgeworfen werden und die eine gewaltige Rolle in der größten weltweiten Migrationskrise seit dem II. Weltkrieg spielt.
Der Traum und die Hoffnung der Unabhängigkeitsbewegung waren es, ein demokratisches Eritrea aufzubauen, in dem Rechtsstaatlichkeit herrscht, die individuellen Rechte respektiert werden und alle Bürger die gleichen Möglichkeiten für ein ehrbares Leben haben.
Während des Unabhängigkeitskampfes wurde die Eritreische Volksbefreiungsfront (EPLF) nicht nur als eine militärische Organisation gesehen, sondern auch als ein Vehikel für soziale Veränderungen, insbesondere auch hinsichtlich der Gleichstellung der Geschlechter. Daher schlossen sich viele Frauen dem Kampf an, um von der in der EPLF praktizierten Gleichstellung zu profitieren. 30.000 eritreische Frauen kämpften Seite an Seite mit ihren männlichen Kameraden in gemischten Einheiten für die Unabhängigkeit Eritreas.
Nach der Unabhängigkeit sahen sich die ehemaligen Kämpferinnen vielen Herausforderungen gegenüber, um in das zivile Leben zurückzukehren. Die während des 30-jährigen Krieges erzielten Fortschritte bei der Gleichstellung der Geschlechter verfielen nach Erreichen der Unabhängigkeit.
Die gegenwärtige politische und soziale Situation in Eritrea ist gegenüber Frauen feindlich eingestellt. Heutzutage werden Frauen in allen Lebensbereichen diskriminiert. Es gibt eine Reihe von Gesetzesreformen, die darauf abzielen, die Gleichstellung der Geschlechter festzuschreiben. In der Praxis wird das jedoch nicht aufrechterhalten. Frauen sind überaus stark davon betroffen, dass sie keinen Zugang zum Justizwesen haben.
Insbesondere bei Familienstreitigkeiten und Erbschaftsangelegenheiten werden Gewohnheits- und Schariarecht angewandt. Beide Rechtssysteme begünstigen Frauen nicht. Wirtschaftliche Not und Unterdrückung, wie auch die soziale und kulturelle Hierarchie schließen eritreische Frauen von gleichen Zugangsmöglichkeiten zu Land und anderen Ressourcen aus. Wichtiger ist noch, dass Frauen nur begrenzte Kontrolle über ihr eigenes Leben als Menschen haben. Wenn Frauen eine Hochschulausbildung anstreben, sehen sie sich negativen Einstellungen ihrer Familien, der Gemeinschaft und der Lehrer gegenüber.
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt nimmt in Eritrea viele Formen an. Weibliche Genitalverstümmelung ist ein ernsthaftes Problem, das 89% der Frauen betrifft. Häusliche Gewalt wird nicht systematisch gemeldet. Nach einem Menschenrechtsbericht des US-Außenministeriums aus 20111 reagieren die Behörden auf Vergewaltigungsanzeigen häufig damit, die Täter zur Heirat mit dem Opfer zu ermutigen.
30% der Erwerbstätigen sind Frauen, im informellen Sektor sind es 93%. 40% der kleinen und mittelgroßen Unternehmen werden von Frauen geführt. Trotzdem haben Frauen keinen Zugang zu Einrichtungen, Technologie, Finanzen, Märkten und Krediten und sind übermäßigen staatlichen Regelungen und Vorschriften ausgesetzt.
Einige der hochrangigen ehemaligen Kämpferinnen befinden sich ohne Rechtsverfahren im Gefängnis. Sie haben kein Recht sich selbst zu verteidigen oder Familienbesuche zu erhalten. Ihre unmittelbare Familie erhält keine finanzielle Unterstützung.
Die Nationale Union der Eritreischen Frauen (NUEW) ist in Eritrea die einzige Organisation, die von der Regierung beauftragt wurde, zur Förderung von Frauen und Geschlechterverhältnissen zu arbeiten. Eritreische Frauen betrachten NUEW nicht als eine unabhängige Anwältin der Frauen, sondern als eine Propagandaorganisation der regierenden Partei Volksfront für Demokratie und Gerechtigkeit (PFDJ), da die Organisation ihrer Verpflichtung, Frauen vor Missbrauch durch Regierungsbeamte oder dem Staat zu schützen, nicht nachkommt.
Die Situation von Frauen im Militärdienst und auf den Fluchtrouten
1991 führte die Regierung Eritreas die Wehrpflicht für alle EritreerInnen ein, Männer und Frauen, im Alter zwischen 18 und 40 Jahren. Ursprünglich umfasste dieser Dienst eine sechsmonatige Grundausbildung und 12 Monate Tätigkeiten bei Projekten zum Wiederaufbau und zur Entwicklung des Landes. In der Praxis wurde der Dienst willkürlich verlängert. Die Bedingungen in der Grundausbildung sind den Berichten zufolge hart. Es gibt keine ausreichende Versorgung mit Essen und Wasser. Diese Zwangsarbeit ist vergleichbar mit Sklaverei. Alltäglich sind willkürliche und strenge Bestrafungen und sexuelle Übergriffe auf Frauen. Statt sexuellem Missbrauch und den allgemein harten Bedingungen im Nationaldienst ausgesetzt zu sein, entscheiden sich viele junge Frauen für eine frühe Ehe, Schwangerschaft und eine Unterbrechung der Ausbildung.
Vergewaltigungsopfer sehen sich oft vielen Schwierigkeiten ausgesetzt, wenn sie versuchen, die Täter vor Gericht zu bringen. Viele Frauen, die vergewaltigt wurden oder anderen Formen des Missbrauchs ausgesetzt waren, sind zudem durch die kulturelle Einstellung und die Untätigkeit des Staates stark eingeschüchtert, um Abhilfe zu suchen. Es trotzdem zu tun, kann bedeuten, Feindseligkeit der Familie oder der Gemeinschaft ausgesetzt zu sein, mit wenig Hoffnung auf Erfolg. Diejenigen, die den Rechtsweg beschreiten, sehen sich mit einem System konfrontiert, das Gewalt gegen Frauen ignoriert, leugnet oder sogar toleriert und Täter schützt, seien es nun Staatsbeamte oder Privatpersonen.
Nach Angaben der UN-Untersuchungskommission werden in den militärischen Ausbildungszentren, in der Armee und in Militärhaft weiterhin Vergewaltigungen von Militärangehörigen, Ausbildern wie auch von Gefängnisangestellten und Wächtern ungestraft begangen.
Das Klima von Unterdrückung, Gewalt und Paranoia – und ein Nationaldienst unbegrenzter Dauer, für den nie mehr als 2 US-Dollar pro Tag gezahlt werden, bringt viele junge EritreerInnen dazu, jeden Tag zu Hunderten das Land zu verlassen. Nach Angaben von UN-Behörden verlassen jeden Monat 5.000 EritreerInnen das Land in Richtung Sudan und Äthiopien und machen damit das Land zu einem der weltweit führenden Produzenten von Flüchtlingen. Eritrea hat auch die höchste Zahl von unbegleiteten asylsuchenden Kindern, unter ihnen sind zahlreiche junge Mädchen.
Die äußerst eingeschränkten Möglichkeiten, sich in Drittländern niederzulassen, der Familienzusammenführung und anderer legaler Alternativen, außerhalb von Äthiopien und Sudan um Asyl zu ersuchen, lässt eritreischen Flüchtlingen keine andere Wahl, als sich auf eine gefährliche Reise zu begeben.
Darüber hinaus bieten nach Angaben von Ärzte ohne Grenzen die Flüchtlingslager in Äthiopien, Sudan und Libyen keinen Schutz für besonders gefährdete Gruppen, darunter „gefährdete Frauen“, unbegleitete Minderjährige und Opfer von sexueller und geschlechtsspezifischer Gewalt sowie überlebende Folteropfer.
EritreerInnen folgen der tödlichsten MigrantInnenroute der Welt, quer durch die Sahara und über das Mittelmeer nach Europa. Auf ihrer Reise werden EritreerInnen von Schleppern gefoltert, erpresst und vergewaltigt. Viele sterben während der Reise durch die Wüste. Schwangeren Frauen drohen leidvolle Komplikationen und Frühgeburten in der Wüste.
Seit 2016 gibt es zunehmend Berichte von Flüchtlingen und MigrantInnen über Entführungen im Norden des Sudan, einschließlich der Entführung von Mädchen und Frauen für Menschenhandel und Zwangsprostitution.
Männliche eritreische Flüchtlinge, die von Ärzte ohne Grenzen interviewt wurden, berichten, wie ihre Schwestern, Freundinnen und Mütter vor ihren Augen vergewaltigt wurden. Schließlich wurden sie an die Grenze zu Libyen gebracht, wo sie an Schmugglerbanden, Menschenhändler oder andere kriminelle Gruppen wie ISIS verkauft wurden.
Eritreische Flüchtlingsfrauen sind sich diesem hohen Risiko sexueller Gewalt schon vor Antritt der Reise bewusst. Viele von ihnen gaben in einem Bericht von Ärzte ohne Grenzen an, dass ihnen vor Verlassen von Khartum, um die Wüste nach Libyen zu überqueren, Verhütungsmittel gespritzt werden, um ungewollte Schwangerschaften im Falle einer Vergewaltigung zu verhindern. Sie sind sich bewusst, dass sie oder ihre FreundInnen wahrscheinlich mehrere Male und von verschiedenen Tätern vergewaltigt oder sexuell belästigt werden. Und dennoch, sagen sie, haben sie keine andere Wahl, als das Risiko einzugehen, statt in Eritrea, Äthiopien oder Sudan zu bleiben, wo sie unter unerträglichen Bedingungen leben.
Die Rolle der Europäischen Union und ihrer Mitgliedsstaaten
Empfehlungen und Forderungen des Netzwerkes Eritreischer Frauen
Das 2016 geschlossene Kooperationsabkommen zwischen der Europäischen Union und der eritreischen Regierung legt nahe, dass der wichtigste Antrieb für den derzeitigen Exodus aus Eritrea wirtschaftlicher Natur ist. Armut ist tatsächlich ein Faktor. Aber die Beweise zeigen in überwältigender Art und Weise, dass EritreerInnen vor allem der Wehrpflicht, Zwangsarbeit, willkürlicher Haft, Folter, Tötungen und dem allgemeinen Mangel an Freiheit entfliehen, wie von der UN-Untersuchungskommission zu Eritrea dokumentiert wird.
Wenn Europa den Exodus von Menschen aus Eritrea reduzieren will, muss es seinen politischen, diplomatischen und finanziellen Einfluss nutzen, um Veränderungen in Asmara herbeizuführen. Wenn die Ursachen nicht behoben werden, werden die Menschen weiterhin die Risiken in Kauf nehmen. Es muss viel Druck auf die eritreische Regierung ausgeübt werden2, um den unbefristeten Nationaldienst zu beenden, das Leben für die Menschen erträglich zu machen und ihnen ein freies Leben zu ermöglichen. Sie müssen alle gewaltlosen politischen Gefangenen aus den Gefängnissen entlassen und den Menschen, insbesondere der Jugend, erlauben, sich für das zu entscheiden, was sie in ihrem Leben machen wollen.
Wenn nicht gegen das Regime „hart vorgegangen“ wird, wird die Regierung weiterhin ungestraft handeln können und die EritreerInnen werden weiterhin den langen Treck nach Norden auf sich nehmen. Fischer und Küstenwache werden weiterhin Tote aus den europäischen Gewässern fischen.
Fußnoten
1 https://www.state.gov/j/drl/rls/hrrpt/2011humanrightsreport/index.htm#wrapper
2 www.theguardian.com/world/eritrea
Dr. Asia Abdulkadir: The Situation of Women and Girls in Eritrea. Redebeitrag auf der Konferenz „Eritrea and the Ongoing Refugee Crisis“, 19. Oktober 2017 in Brüssel, Übersetzung: rf. Dr. Asia Abdulkadir ist Expertin für Geschlechterforschung und lebt in Nairobi. Sie ist als Beraterin für Geschlechterfragen tätig für das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen in Somalia.Der Beitrag wurde veröffentlicht in der Broschüre „Eritrea: Ein Land im Griff einer Diktatur – Desertion, Flucht & Asyl“, 3. Mai 2018. Herausgegeben von Förderverein PRO ASYL e.V. und Connection e.V.
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