Die Europäische Union und Eritrea
Teil I des Beitrags
(19.10.2017) Die EritreerInnen, die versuchen aus ihrem Land zu fliehen, waren selten in größerer Gefahr. Die sich ihnen entgegenstellenden Hindernisse – beim Grenzübertritt nach Sudan oder nach Äthiopien – sind beträchtlich. Ihre Reise nach Europa ist zunehmend riskant und ihr Empfang in Europa häufig sehr unfreundlich. Trotzdem wählen immer noch viele diesen schwierigen und zermürbenden Weg und entscheiden sich dazu, ihre Familien und Gemeinschaften zu verlassen, die zerrissen und verletzlich zurückbleiben. Das ist ein Hinweis darauf, wie ernsthaft sich die Menschenrechtslage in Eritrea selbst darstellt.
Nach der letzten Schätzung des UNHCR gab es 2016 etwa 69.900 eritreische Flüchtlinge, 5.800 pro Monat.1 Sie erreichten aber nicht mehr in der gleichen Zahl wie zuvor Europa, so Frontex im letzten Afrika-Bericht:2
„2016 nahm die irreguläre Migration von Staatsangehörigen der Länder des Horns von Afrika in die EU im Vergleich zu 2015 ab. Während es 2015 mehr als 70.000 Flüchtlinge gab (davon etwa 34.000 allein in der ersten Jahreshälfte), erreichte die Zahl in den ersten Monaten des Jahres 2016 kaum 21.000. Der Rückgang kann vor allem mit der niedrigeren Anzahl aufgegriffener somalischer und eritreischer Flüchtlinge belegt werden. Die Zahl der festgesetzten Sudanesen stieg in der ersten Hälfte 2016 um 20% an, die Zahl der Äthiopier um 18% im Vergleich zum gleichen Zeitraum des Vorjahres.“
Wenn diese Schätzungen zutreffen (alle diesbezüglich gemachten Angaben müssen mit Vorsicht behandelt werden), dann scheint etwas Wichtiges zu passieren. Der Rückgang der Zahl der flüchtenden Somalis ist nicht schwer zu erklären, da sich die Sicherheitslage nach dem Zurückdrängen der al-Shabaab-Milizen verbessert hat. Die Abnahme bei den Flüchtlingen aus Eritrea ist schwieriger nachzuvollziehen. Die Zahl derjenigen, die Europa erreichten, ist im Jahr 2016 gesunken, auch wenn die Zahl derer, die das Land verlassen, weiter hoch ist.
Wohin also gehen die eritreischen Flüchtlinge? Das ist schwer zu erklären. Eine Antwort ist Äthiopien. Dort befinden sich gegenwärtig etwas mehr als 160.000 eritreische Flüchtlinge.3 Laut UNHCR wurden kürzlich 73.078 in den Lagern registriert und es wurde ihnen erlaubt, sich nunmehr in städtischen Regionen anzusiedeln. Einige von ihnen studieren in Addis Abeba, andere finden Jobs im Norden Äthiopiens. 2017 stieg die Zahl der EritreerInnen in Äthiopien um weitere 17.000 an, die die Grenze überschreiten konnten.4
Eine weitere Antwort auf die Frage, wo die eritreischen Flüchtlinge landen, ist, dass sie im Sudan festhängen oder – in zunehmendem Maße – in Ägypten und Libyen. Mixed Migration Monthly berichtet: „Untersuchungen zeigen, dass EritreerInnen begonnen haben, Libyen zu meiden und eher versuchen Europa über Ägypten zu erreichen. Indessen gibt es in der Analyse von Frontex über das erste Quartal 2017 keine Berichte über Ankünfte aus Ägypten, was darauf hin deutet, dass wohl viele EritreerInnen auf ihrer Flucht in Ägypten hängen geblieben sind.“5 Die ägyptischen Behörden gehen hart gegen die Migration in die EU vor, mit dem Ergebnis, dass die Zahl derer, die Italien von Ägypten aus erreichten, von 11.000 im Jahr 2016 auf weniger als 1.000 zurückging.6 Die eritreische Menschenrechtsaktivistin Meron Estefanos glaubt, dass mindestens 10.000 EritreerInnen in einem Netzwerk von Privatunterkünften festhängen oder in Haftzentren in Libyen gefangen sind, während sie auf eine Überfahrt nach Europa hoffen.7 Dieser Eindruck wird von Ärzte ohne Grenzen bestätigt, deren Boot Aquarius vor der libyschen Küste operiert. „In diesem Jahr wurden viel weniger EritreerInnen von uns gerettet. Aber es ist kaum möglich zu sagen, warum. Es kann sein, dass sie erheblich größere Schwierigkeiten haben, nach Libyen zu kommen“, sagte Marcella Kraay, Projektkoordinatorin von Ärzte ohne Grenzen an Bord des Schiffes.8
Es ist möglicherweise keine Überraschung, dass die Zahl derjenigen sinkt, die die schwierige Reise durch Libyen antreten. Europa wird beschuldigt, das Flüchtlingsproblem nach außen zu verlagern, wie aus einem ausführlichen Artikel in Foreign Policy hervorgeht:9
„Die Ausbreitung von Inhaftierungszentren im vom Krieg zerrissenen Libyen ist nicht nur ein Ergebnis des Zusammenbruchs der Ordnung oder der Aktivität von Milizen, die in einem Staat der Anarchie Amok laufen. Besuche von fünf verschiedenen Verhaftungszentren und Interviews mit Dutzenden von Milizführern, Regierungsvertretern, MigrantInnen und VertreterInnen von nichtstaatlichen Organisationen vor Ort zeigen, dass dies die Folge erwarteter Zahlungen von Hunderten von Millionen Dollar ist, die als Unterstützung von europäischen Ländern zugesagt werden, um zu versuchen, den Strom unerwünschter MigrantInnen aufzuhalten. Die Europäische Union hat bislang 160 Millionen US-Dollar zugesichert: Für neue Hafteinrichtungen, um dort MigrantInnen unterzubringen, bevor sie zurück in ihre Heimatländer geschickt werden können und um die libysche Küstenwache auszubilden und auszustatten, damit sie Flüchtlingsboote auf dem Meer abfangen kann.“
Diese Politik steht in Übereinstimmung mit den Vorschlägen des Parlamentspräsidenten der Europäischen Union, Antonio Tajani. Er rief die EU dazu auf, Aufnahmezentren für Flüchtlinge in Libyen aufzubauen.10
Die libyschen Zentren sollten nicht zu „Konzentrationslagern“ werden, sondern es solle eine angemessene Ausstattung vorhanden sein, um sicherzustellen, dass die Flüchtlinge unter würdigen Bedingungen leben und Zugang zu ausreichender medizinischer Versorgung haben. In der Realität sind die Haftzentren nicht weit entfernt von den von Tanjani beschriebenen „Konzentrationslagern“. Die grauenhaften Bedingungen sind gut dokumentiert und den europäischen Behörden bekannt.11
Wenn der Weg über Libyen schwierig geworden ist, so muss das Gleiche auch zu Ägypten gesagt werden. Etwa 11.000 Flüchtlinge kamen im Jahr 2016 von Ägypten nach Italien. Nachdem ägyptische Behörden gegen die heimliche Migration dieses Jahr scharf vorgingen, fiel die Zahl auf unter 1.000.12 EritreerInnen auf dem Weg nach Europa sind in Ägypten hängen geblieben. „Ich wollte Ägypten über das Meer verlassen. Ich hatte nicht die Absicht, hier zu bleiben“, sagt Dejen, ein 30-jähriger eritreischer Flüchtling. Er sitzt zusammen mit drei Freunden im Schlafzimmer einer Wohnung im Bezirk Ard El-Lewa in Kairo. „Dieses Jahr gibt es keinen Weg (nach Europa). Die Route ist geschlossen.“ Dejen und seine Freunde sind in eine Wohnung eingezogen und richten sich auf einen längeren Aufenthalt in Ägypten ein, den keiner von ihnen geplant hat.
Wenn diese Analyse zutrifft, gibt es für EritreerInnen immer weniger Möglichkeiten. Der Weg nach Europa wird schnell enger; der Weg nach Äthiopien bleibt die einzig realisierbare Option. Hier hat sich die Situation verbessert. Einige EritreerInnen arbeiten in Addis Abeba, andere studieren an äthiopischen Universitäten.13 Darüber hinaus sind die Aussichten für junge EritreerInnen düster: im Land bleiben und einen Militärdienst unbefristeter Länge zu erwarten, über die Grenze fliehen und in einem Lager enden oder sich in Äthiopien irgendwie durchschlagen oder im Sudan, in Libyen oder Ägypten gefangen zu sein mit nur geringen Aussichten, dem Weg früherer Generationen zu folgen und nach Europa oder in die USA zu kommen.
Wenn man sich die Beziehung zwischen der Europäischen Union und Eritrea anschaut, darf eines nicht übersehen werden: die schweren Menschenrechtsverletzungen, die innerhalb des Landes so sehr Teil des alltäglichen Lebens sind. Mike Smith, Vorsitzender der UN-Untersuchungskommission über die Menschenrechte in Eritrea, hält dies am 8. Juni 2016 in dem umfassenden Abschlussbericht der Kommission fest:
„Eritrea ist ein autoritärer Staat. Es gibt keine unabhängige Justiz, keine Nationalversammlung und keinerlei andere demokratische Institutionen in Eritrea. Das hat zu einem Vakuum bzgl. Regierungsführung und Rechtsstaatlichkeit geführt, was wiederum ein Klima der Straflosigkeit bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit zur Folge hat, die seit einem Viertel Jahrhundert immer wieder begangen wurden und auch heute noch stattfinden.“14
Diese Befunde wurden von der UN-Menschenrechtskommission bekräftigt und der UN-Generalversammlung berichtet. Sie sind der Hintergrund, auf dem das Engagement der EU in Eritrea beurteilt werden muss. Es ist bemerkenswert, dass diese erschreckenden Erkenntnisse bei europäischen PolitikerInnen kein Gewicht zu haben scheinen, wenn sie über die Politik gegenüber dem Land bzw. der Diktatur entscheiden, die ihre eigene Bevölkerung im Würgegriff hält.
EU-Politik gegenüber Eritrea
Seit der Unabhängigkeit sind die Beziehungen zwischen Asmara und Washington schwierig. Es gab nur wenige Momente wirklicher Annäherung. Die Beziehungen zwischen Asmara und Brüssel waren komplizierter, mit Versuchen der Europäer, einen konstruktiven Dialog zu führen, die aber nur begrenzt erfolgreich waren.
Das Verhalten Europas gegenüber Eritrea hat sich über viele Jahre hinweg entwickelt. Es sollte nicht vergessen werden, dass Europa das eritreische Volk schon lange vor der De-facto-Unabhängigkeit des Landes im Jahr 1991 unterstützt hat. Dies war insbesondere während der Hungersnot 1984-85 der Fall, als die europäischen Länder die wichtigsten Spender waren.15 Grenzüberschreitende Aktionen sorgten dafür, dass Hunderttausende versorgt wurden, die ansonsten verhungert wären.
Seit der durch die Vereinten Nationen ratifizierten Unabhängigkeit des Landes im Jahre 1993 hat Europa versucht, eine Beziehung zur eritreischen Regierung aufzubauen. Das war nicht einfach. Die EU hat ungeachtet der Unterdrückungspolitik des Regimes versucht, die Beziehungen zur Regierung aufrechtzuerhalten. Dieses Problem wurde vielleicht am deutlichsten bei der Niederschlagung jedweder Opposition im Jahr 2001, als hochrangige PolitikerInnen, JournalistInnen und HerausgeberInnen inhaftiert wurden. Unter den seitdem Inhaftierten ist Dawit Isaak, ein schwedisch-eritreischer Journalist.16 Aufgrund seiner schwedischen Staatsbürgerschaft hat die EU wiederholt seine Freilassung eingefordert und VertreterInnen der EU haben seinen Fall immer wieder aufgegriffen.17
Als die Verhaftungen stattfanden, legte der italienische Botschafter in Eritrea, Antonio Bandini, den Behörden ein Protestschreiben vor. Er wurde umgehend aus dem Land ausgewiesen. Andere europäische Botschafter wurden daraufhin aus Protest zurückgezogen. Die EU-Präsidentschaft erklärte, durch die Ausweisung seien die Beziehungen zwischen der EU und Eritrea „ernsthaft untergraben“ worden.18 Zunächst forderten die Europäer, dass Eritrea die Menschenrechtslage verbessern solle, bevor wieder normale Beziehungen aufgenommen werden würden. Präsident Isayas tat nichts dergleichen, davon ausgehend, dass er den Zorn der EU aussitzen könne. Er hat recht behalten. Am Ende gaben die Europäer nach.
Ein internes Dokument der Europäischen Union vom Oktober 2008 legte dar, wie armselig die EU auf die Situation reagiert hat.19 Dort heißt es, dass beschlossen worden sei, dass die europäischen Botschafter „die Bereitschaft des Präsidenten Isayas, sich an einem Dialog über Menschenrechte zu beteiligen, zur Bedingung ihrer Rückkehr“ machen würden. „Diese Anforderung wurde nie erfüllt. Dennoch kehrten die EU-Botschafter nach Eritrea zurück.“ Damit hatten die Europäer Asmara eine wichtige Botschaft mitgeteilt, die das Regime sehr schnell begriff.
Im Laufe der Zeit hat die Europäische Union ihre Beziehungen zu Asmara neu bewertet.20 Obwohl es in der Frage der Menschenrechte keine Zeichen einer Bewegung gab, wurde entschieden, den Versuch zu einem „Neubeginn“ mit Eritrea zu unternehmen.
Im Mai 2007 wurde Präsident Isayas zu einem Besuch nach Brüssel eingeladen und von dem Kommissar für Entwicklung, Louis Michel, „herzlich willkommen“ geheißen, obwohl Dawit Isaak und andere weiterhin gefangen gehalten wurden.21 Vor dem Hintergrund der Gespräche änderte die Europäische Kommission ihre Haltung zu Eritrea, wie der interne Bericht klarstellt.22 „Im Juni 2007 änderte die Europäische Kommission ihre Strategie und initiierte einen Prozess zur Wiederbelebung der politischen Beziehungen mit Eritrea. Der entscheidende Grund dafür war die Entschlossenheit Louis Michels, eine positive regionale Agenda für das Horn von Afrika ins Leben zu rufen, bei der Eritrea angesichts seiner Präsenz in den Konflikten in Sudan und Somalia eine entscheidende Rolle spielen sollte.“ Das Dokument schloss mit der Feststellung, dass zur Realisierung dieser „politischen Wiederbelebung“ beide Seiten zeigen müssten, dass sie diese ernsthaft angehen wollen. Konkrete Belege waren dazu erforderlich: „Beide Seiten brauchen einen politischen Dialog, um Ergebnisse zu erzielen: Die Europäische Kommission braucht aus Eritrea ein sichtbares Zeichen für eine Kooperation, um weiterhin eine zugewandte Diplomatie rechtfertigen zu können, während die zunehmend isolierte eritreische Regierung einen glaubwürdigen Gesprächspartner und großzügige Spender brauchen könnte. Die Freilassung von Dawit Isaak aus humanitären Gründen könnte solch ein Zeichen sein. Aber auch wenn dies gern gesehen wäre, wäre es nur ein Tropfen auf den heißen Stein.“ Obwohl keine wirklichen Fortschritte erzielt wurden, wurde den Eritreern neue Hilfe versprochen.
Statt die Menschenrechtslage zu verbessern, weigerte sich die eritreische Regierung, die Bedenken der EU in irgendeiner Art und Weise zu berücksichtigen. Die EU stellte die Hilfe zur Verfügung, die Haltung von Präsident Isayas blieb jedoch unverändert. Trotzdem trieben die Europäer die Strategie des „erneuerten Engagements“ voran. Brüssel hatte von den Fehlern nach dem Rückzug der Botschafter nichts gelernt. Asmara, auf der anderen Seite, hatte herausgefunden, dass die europäischen PolitikerInnen und Staatsbeamten die Forderungen erfüllen, wenn man nur hartnäckig bliebe. Präsident Isayas bestimmte die Agenda.
Am 2. September 2009 unterzeichneten die EU und Eritrea eine „Länderstrategie für 2009-2013“23. Darin wurde auch die Razzia gegen Andersdenkende im Jahr 2001 anerkannt, wenn auch (nur) in diplomatischer Sprache: „Von 2001 bis 2003 gab es einen Rückgang der Entwicklungszusammenarbeit zwischen der EU und Eritrea. Im Prozess des politischen Dialogs kam es zu sehr unterschiedlichen Auffassungen über die Entwicklungen in Eritrea und der Region.“ Der Bericht sprach von einem „begrenzten“ politischen Dialog.
Eine Gesandtschaft des Entwicklungsausschusses des Europäischen Parlaments Ende 2008 zeichnete ein düsteres und genaueres Bild.24 Die Untersuchungskommission zum Horn von Afrika stellte fest: „Seit der Unterbrechung des Demokratisierungsprozesses im Jahr 2001 sah sich die EU in der Kooperation mit Eritrea großen politischen und technischen Schwierigkeiten ausgesetzt. Die Zusammenarbeit wurde als Reaktion auf die Ausweisung des italienischen Botschafters für mehrere Jahre eingefroren, was zu einem gewissen Rückstand beim 9. Entwicklungshilfefonds der EU führte.“ Zur gleichen Zeit blieb die Delegation dabei, dass sich die Situation in den letzten Jahren verbessert habe und wieder einmal begannen die Gelder zu fließen.
Erste „Wiederbelebung“
Offensichtlich hoffte der Entwicklungskommissar Louis Michel Fortschritte erzielen zu können und eröffnete neue Gespräche mit Eritrea. Nachdem durch eritreische Diplomaten zugesichert worden war, dass Dawit Isaak freigelassen und in seine Obhut übergeben werden würde, war er im August 2009 kurz davor, nach Asmara zu reisen.25 Er hatte Dawit bereits ein Ticket gebucht, um mit ihm nach Europa zurückzukehren und flog nach Asmara. Aber als er Präsident Isayas getroffen hatte, wurde deutlich, dass der Präsident keinerlei Absicht hatte, Dawit gehen zu lassen. Louis Michel wurde noch nicht einmal gestattet, den Gefangenen im Gefängnis zu besuchen. Er musste ohne ihn nach Hause zurückkehren.
Trotz dieser Rückschläge blieb die EU beharrlich bei ihren Versuchen, die Beziehungen mit Eritrea zu verbessern. Trotz der fehlgeschlagenen Mission Louis Michels waren die EU-AußenministerInnen im Oktober 2009 bereit, eine deutlich weichere Linie gegenüber Eritrea einzuschlagen als ihre US-amerikanische Kollegin. Einem über Wikileaks veröffentlichten Telegramm eines US-Diplomaten ist zu entnehmen, wie ein/e europäische/r VertreterIn nach der/dem anderen zur Zurückhaltung mahnte und sich zugleich gegen eine Ausweitung der Sanktionen gegen das Regime Afewerki aussprach.26
„Italien beschrieb Eritrea als ein von einem ‚brutalen Diktator‘ geführtes Land und stellte fest, dass Italiens Bemühungen um einen Dialog keine Ergebnisse gebracht haben. Man warnte jedoch davor ein ‚weiteres Afghanistan zu schaffen´, indem man gegen Eritrea weitere Sanktionen verhänge. Die Ausdehnung der Sanktionen auf andere Länder der Region müsse überdacht werden. Der französische Vertreter erklärte, das Engagement sei zwar ‚nutzlos‘, Frankreich würde aber diesen Weg weiter verfolgen, weil es keine andere Option gäbe.“
Auf demselben eintägigen Treffen sagte der britische Vertreter, Jonathan Allen: „London hat Asmara bereits klar gemacht, dass dem Vereinigten Königreich sehr wohl bewusst ist, dass Eritrea anti-westliche Gruppen unterstützt, die die britische Sicherheit gefährden.“ Als Antwort betonte ein hochrangiger Diplomat aus den USA, der stellvertretende Staatssekretär für afrikanische Angelegenheiten, Karl Wycoff: „Es liegt ein Widerspruch vor, da Asmara einerseits gewalttätige, anti-westliche Elemente unterstützt und andererseits einige Staaten Hilfspakete nach Asmara liefern. Er merkte auch an, dass strenge Maßnahmen, darunter auch Sanktionen, notwendig seien, um eine Chance auf Veränderungen im Verhalten von Isayas zu erzielen.“ Trotz der US-amerikanischen Bedenken setzte die EU ihre Strategie fort, eine Strategie, in die sie selbst wenig Vertrauen hatte und die ihre Vertreter als „nutzlos“ bezeichneten.
Die Situation wurde 2011 erneut geprüft, als die EU einen „Strategischen Rahmen für das Horn von Afrika“ erarbeitete.27 Darin wurden die Beziehungen Europas zur gesamten Region festgelegt: „Die EU engagiert sich stark in der Region, mit Schwerpunkten in fünf Bereichen: Entwicklungspartnerschaft, politischer Dialog, Krisenreaktion, Krisenbewältigung und Handelsbeziehungen.“
Im Anschluss erläutert das Dokument, wie dies erreicht werden könnte. Wieder waren Menschenrechte ein integraler Bestandteil der Strategie:
„Die Entwicklung demokratischer Prozesse und Institutionen, die zur Sicherheit und Partizipation der Menschen beitragen, wird unterstützt durch:
- Förderung der Achtung von Verfassungsnormen, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte und Gleichstellung der Geschlechter durch Zusammenarbeit und Dialog mit den Ländern am Horn von Afrika;
- Unterstützung von Reformen des Sicherheitsbereiches und Etablierung von zivilen Beobachtungsstellen der verantwortlichen Sicherheitsorgane am Horn von Afrika;
- Umsetzung der EU-Menschenrechtspolitik in der Region;“
Im Einklang mit dieser Politik wurde beschlossen, Eritrea zwischen 2009 und 2013 Mittel in Höhe von 122 Mio. € zur Verfügung zu stellen.
Seit der Ausarbeitung des Strategischen Rahmens gab es keinerlei Anzeichen für eine Verbesserung der Lage in Eritrea. Obwohl die EU weiterhin die Situation der Menschenrechte in Eritrea aufwarf, gab es keine Fortschritte bezüglich der Freilassung von politischen Gefangenen, der Umsetzung der Verfassung oder der Meinungsfreiheit.28 Das Land ist immer noch ein Ein-Parteien-Staat, verwickelt in ständiger Repression. Die Menschenrechtsverletzungen treiben nach wie vor jeden Monat vier- bis fünftausend EritreerInnen über die Grenzen. Viele von ihnen landen an den Küsten Europas. In den ersten zehn Monaten 2014 hat sich laut UN-Flüchtlingshilfswerk die Zahl der in Europa eintreffenden Asylsuchenden im Vergleich zum Vorjahr fast verdreifacht. 2015 überquerten insgesamt 38.791 das zentrale Mittelmeer und trafen in Italien ein, so Frontex, die EU-Agentur, die die Situation überwacht.29 Eritrea blieb eines der zehn Länder mit den höchsten Zahlen irregulär Einreisender.
Zweite „Wiederbelebung“
Die Frage der Flüchtlinge ist in Europa zu einem gefährlichen Thema geworden. PolitikerInnen stehen unter erheblichem Druck, jedwede irreguläre Migration zu beenden. Grenzen wurden geschlossen, Zäune errichtet und Passkontrollen wieder eingeführt. Obwohl sich der eritreische Fall stark von denen irakischer oder syrischer Flüchtlinge unterscheidet, sind sie von der wachsenden Welle der Ablehnung jeder Art von AusländerInnen betroffen. Einige europäische Staaten haben darauf reagiert und haben – wieder einmal – versucht, die Beziehungen zu Asmara „neu zu beleben“. 2014 entsandte die dänische Regierung Beamte nach Eritrea, um die Situation zu untersuchen. Sie schrieben im Anschluss einen Bericht, der vom Dänischen Einwanderungsamt veröffentlicht wurde.30 Dieser kam zu folgendem Schluss: „Die Menschenrechtssituation in Eritrea ist möglicherweise nicht so schlimm, wie vermutet.“
Der dänische Bericht wurde nicht gut aufgenommen.31 Er war ungenau und zitierte die wichtigste wissenschaftliche Quelle falsch. Professor Gaim Kibreab, dessen Arbeit in dem Bericht häufig zitiert wurde, sagte, er fühle sich „betrogen von der Art und Weise, in der diese Arbeit benutzt wurde“32. „Ich war schockiert und sehr überrascht. Sie zitieren mich ohne Kontext zusammen mit ihren anonymen Quellen, um ihre Sichtweise zu belegen. Sie haben Fakten völlig ignoriert und nur bestimmte Informationen herausgepflückt.“ Trotzdem wurde der Bericht beträchtlich verbreitet. Er wurde von einer Reihe von europäischen Ländern aufgegriffen, darunter auch Großbritannien.
Die Briten schickten daraufhin ihre eigenen Funktionäre nach Asmara und kamen mit ähnlichen Schlussfolgerungen zurück. Im März 2015 änderte sich plötzlich die Position des Vereinigten Königreichs zu Eritrea, nachdem das Innenministerium eine aktualisierte Länderinformation veröffentlicht hatte, die auf eine deutliche Verbesserung der dortigen Menschenrechtslage schließen ließ.33 Die Anerkennungsrate für eritreische Flüchtlinge fiel prompt von 84% im Jahr 2014 auf 44% im Jahr 2015, jedoch teilte die britische Justiz diese Einschätzung nicht. Die im Rahmen des Gesetzes über die Informationsfreiheit erhaltenen Daten zeigen, dass vom März 2015 (als die Änderungen eingeführt wurden) bis September 2015 von 1.179 vom Innenministerium abgelehnten EritreerInnen immerhin 1.006 gegen die Entscheidung Klage einreichten.34 118 laufende Fälle wurden in diesem Zeitraum durch die Gerichte entschieden, 106 von ihnen hatten Erfolg. Das ist eine Erfolgsrate bei den Klagefällen von 92%, die deutlich über dem Durchschnitt bei den Klageverfahren insgesamt liegt.35 173 EritreerInnen beschlossen, keine Klage einzureichen. Neun wurden von den Gerichten abgelehnt und 17 wurden nach Eritrea abgeschoben.
Die Idee, dass sich die Situation in Eritrea „verbessere“, hat in den vergangenen Jahren an Zustimmung gewonnen. Es schien nur eine Frage der Zeit zu sein, bis es einen erneuten Versuch geben würde, die Beziehungen mit der eritreischen Regierung „wiederzubeleben“. Das zeigte sich in einer Veröffentlichung des Royal Institute of International Affairs – Chatham House. Jason Mosely schrieb:
„Die Einrichtung eines EU-Sonderbeauftragten für das Horn von Afrika im Jahr 2012 bietet die Möglichkeit einer Wiederbelebung der Beziehungen zwischen der EU und Eritrea sowie Äthiopien. Insbesondere im Hinblick auf die Beziehungen zu Eritrea ist die EU in zweierlei Hinsicht gehemmt. Erstens hat sie als Garantiemacht für das Abkommen von Algier in Eritrea an Einfluss verloren, weil sie es versäumt hat, die Zustimmung Äthiopiens durchzusetzen. Zweitens bezieht die diplomatische Haltung der EU in der Außenpolitik auch Stellung zu den Menschenrechten. So wird die EU von Asmara nicht als „ehrlicher Makler“ wahrgenommen.
Dem EU-Sonderbeauftragten Alex Rondos ist es jedoch gelungen, eine sachliche Beziehung zu Eritrea aufzubauen. Mit dem Ziel, die allgemeine regionale Stabilität zu verbessern und damit im Einklang mit seinem Mandat, könnte sein Büro eine wichtige Rolle bei der Verbesserung der Beziehungen zwischen Eritrea und den Mitgliedsstaaten der EU spielen.“36
Der geringschätzende Verweis auf die Menschenrechte legt nahe, dass Menschenrechte als unangemessenes Hindernis der Außenpolitik angesehen werden; eine Belastung, der man sich nicht aussetzen müsse. Das spiegelt auch die Stimmung im EU-Ministerrat wider.
Im Jahr 2014 stattete Italiens stellvertretender Außenminister, Lapo Pistelli, Asmara einen offiziellen Besuch ab.37 Übertrieben lobte er seine Gastgeber und sagte, dass er sie „gut informiert und mit großem Willen zum Engagement“ wahrnehme. Die Begeisterung, mit der er diesen „Neubeginn“ begrüßte, spiegelte sich in der offiziellen Verlautbarung der italienischen Regierung wider. „Es ist Zeit für einen Neuanfang“, erklärte Pistelli bei seinem Besuch in Asmara. „Ich bin heute hier, um unsere Entschlossenheit zu bezeugen, unsere bilateralen Beziehungen wiederzubeleben und zu versuchen, Eritreas vollständige Wiederherstellung als verantwortlichen Akteur und wichtiges Mitglied der internationalen Gemeinschaft zur Stabilisierung der Region zu unterstützen.“ Es war fast so, als hätten die Rückschläge der Vergangenheit nie stattgefunden.
Seitdem hat die EU versucht, sich mit Eritrea als Teil einer umfassenderen afrikanischen Initiative zu befassen, um zu versuchen, den Exodus über das Mittelmeer zu beenden. Im Oktober 2014 trafen sich hochrangige europäische Beamte in Khartum mit ihren afrikanischen KollegInnen, darunter auch aus Eritrea. Während dieses Treffens erklärte der Außenminister Eritreas, Osman Saleh, der Versammlung: „Eritrea schätzt seine Partnerschaft mit der Europäischen Union und ist entschlossen, mit der EU und allen europäischen Ländern zusammenzuarbeiten, um die irreguläre Migration und den Menschenhandel zu bekämpfen und die Ursachen anzugehen. Wir fordern eine dringend gebotene Überprüfung der europäischen Migrationspolitik gegenüber EriteerInnen, da sie zumindest auf falschen Informationen beruht, was zunehmend anerkannt wird.“38
Das Khartum-Treffen legte eine Reihe von eher vage formulierten Vorschlägen vor, um Schmuggel und Menschenhandel zu reduzieren. Sie wurden unter dem Namen „Khartum-Prozess“ bekannt. Die EU billigte die Vorlage im Dezember 2014.39
Ein Jahr später fand in der Hauptstadt von Malta ein wesentlich hochrangigeres Treffen statt. Der Gipfel von Valletta, an dem erneut Eritrea beteiligt war, brachte dieses Mal afrikanische Führer und ihre europäischen KollegInnen zusammen.40 Das politische Kommuniqué, das dort zur Bearbeitung der Flüchtlingskrise entwickelt wurde, enthielt nur wenig Kontroverses. Es kam zu folgendem Schluss: „Wir erkennen ein hohes Maß an gegenseitiger Abhängigkeit zwischen Afrika und Europa. Es gibt folgende gemeinsame Herausforderungen, die Auswirkungen auf die Migration haben: Förderung der Demokratie, Menschenrechte, Beseitigung der Armut, Unterstützung der sozioökonomischen Entwicklung einschließlich der ländlichen Entwicklung, Eindämmung und Anpassung an die Auswirkungen des Klimawandels.“
Im begleitenden Aktionsplan sind eine Reihe detaillierter Empfehlungen versteckt. Sie enthalten die Anerkennung, dass afrikanische Staaten die größte Last von Flüchtlingen tragen; nur eine Minderheit macht sich derzeit auf den Weg nach Europa. Es gibt auch Verständnis dafür, dass die afrikanischen Flüchtlingslager, in denen sich so viele Flüchtlinge aufhalten, modernisiert werden müssen. Die Sicherheit in den Lagern sei ebenso zu verbessern wie die Ausbildungs- und Unterhaltungsmöglichkeiten der Flüchtlinge, so dass junge Männer und Frauen nicht einfach dem Nichtstun ausgeliefert sind. Es gibt sogar Vorschläge, dass einigen – einer kleinen, gut ausgebildeten Minderheit – gestattet werden könne, auf legalem Weg nach Europa zu kommen.
Im Absatz 4 des Dokuments gibt es sehr besorgniserregende Vorschläge. Hier stehen Einzelheiten dazu, wie europäische Institutionen mit ihren afrikanischen Partnern zusammenarbeiten sollen, um „irreguläre Migration, Schleusung von MigrantInnen und Menschenhandel“ zu bekämpfen. Dieses Ziel ist so lange lobenswert, bis man es durch die Augen eines jungen Flüchtlings sieht, der darum kämpft, an den eritreischen Grenzwachen vorbeizukommen, die die strikte Anweisung haben, Todesschüsse abzugeben. Europa bietet afrikanischen „Strafverfolgungs- und Justizbehörden“ Schulungen zu neuen Ermittlungsmethoden und „Unterstützung bei der Einrichtung von Sondereinheiten der Polizei für die Bekämpfung von Menschenhandel und Schmuggel“ an. Die europäischen Polizeikräfte von Europol und die Grenzschutzagentur Frontex sollen in Zukunft afrikanische Sicherheitskräfte bei der Bekämpfung der „Produktion gefälschter und betrügerischer Dokumente“ unterstützen.
Am 11. Dezember 2015 folgte die Ankündigung einer EU-Hilfe in Höhe von 200 Millionen Euro für Eritrea.41 Der größte Anteil davon wurde dem Energiesektor zugeteilt sowie der Stärkung der Fähigkeit des Landes, „die öffentlichen Finanzen besser zu verwalten“. Bei der Bekanntgabe des Programms sagte Neven Mimica, EU-Kommissar für Internationale Zusammenarbeit und Entwicklung: „Die EU stellt Entwicklungshilfegelder bereit, wo es am nötigsten ist, um Armut zu reduzieren und die Bevölkerung zu unterstützen. In Eritrea haben wir zugesagt, Aktivitäten zu fördern, die konkrete Ergebnisse für die Bevölkerung bringen, wie die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Verbesserung der Lebensbedingungen. Zugleich bestehen wir im Rahmen unseres laufenden politischen Dialogs mit Eritrea auf der uneingeschränkten Achtung der Menschenrechte.“
Die Vorstellung, dass Eritrea die Menschenrechtsbedingungen der EU akzeptieren würde, lässt darauf schließen, dass die Europäer nichts aus der Vergangenheit gelernt haben. Es gibt keinen Beweis dafür, dass die eritreische Regierung jemals bereit war, irgendeine Bedingung für die Hilfe zu akzeptieren. Es scheint ein Dialog Schwerhöriger zu sein. Präsident Isayas wird vermutlich alle europäischen Forderungen ignorieren, sicher in dem Wissen, dass die Europäer keine andere Wahl haben, als unter seinen Bedingungen mit Eritrea zu verhandeln.
In der Zwischenzeit bildete sich unter europäischen Beamten ein Konsens darüber heraus, dass Menschenrechtsorganisationen die Ernsthaftigkeit der Lage in Eritrea übertrieben haben. Es sah so aus, als ob es nur noch eine Frage der Zeit wäre, bis Asylanträge von EritreerInnen in Europa abgelehnt werden und sie in einem Flugzeug nach Hause gebracht werden würden. Dies wurde gestärkt durch Andeutungen – seitens eritreischer Diplomaten und Beamten – dass es nur eine Frage der Zeit sei, bis alle Wehrpflichtigen nur noch 18 Monate Nationaldienst abzuleisten hätten. Im Februar 2016 veröffentlichte die Nachrichtenagentur Reuters einen Bericht und zitierte darin EU-DiplomatInnen.42 Unter Berufung auf die notwendige Anonymität „beschuldigten (sie) Eritrea, auf privater Ebene von einigen Beamten gemachte Zusagen aus dem letzten Jahr nicht einzuhalten, den Nationaldienst auf 18 Monate zu beschränken, ein Zeitraum, der vier Jahre nach der Unabhängigkeit von Äthiopien (1991) festgelegt worden war.“ Präsident Isayas hatte mal wieder das gemacht, was er in der Vergangenheit so oft getan hatte. Er erlaubte seinen Beamten, Zusicherungen in Verhandlungen mit einem internationalen Partner zu geben, wissend, dass diese Zusicherungen nicht eingehalten werden. Weniger als einen Monat zuvor hatte die EU eine Vereinbarung unterzeichnet, in der 200 Millionen Euro Hilfe für Eritrea zugesagt worden waren.43
Europas Priorität: Migration
Die politischen Führer der EU standen in den letzten Jahren unter enormen Druck, die Zuwanderung zu begrenzen – insbesondere nach der Entscheidung der deutschen Kanzlerin Angela Merkel, ihr Land 2015 für eine Million Flüchtlinge vor allem aus dem Konflikt in Syrien zu öffnen.44 Obwohl Frau Merkel zu ihrer früheren Entscheidung steht, hat sie zugestimmt, die Zahl der Flüchtlinge zu begrenzen, die Deutschland aufnehmen will.45 In der Zwischenzeit hat der Rest der EU versucht, die Migration mit fast allen zur Verfügung stehenden Mitteln einzuschränken. Es wurde eine Vereinbarung mit der Türkei getroffen, um den Zustrom nach Europa zu stoppen. Die Migration über Afrika ist aber weiterhin vorhanden. Dieses Thema steht jetzt im Mittelpunkt des europäischen Interesses. In einer Verlautbarung vom Juni 2016 heißt es: „Europa erlebt derzeit beispiellose Migrationsströme, angetrieben von geopolitischen und wirtschaftlichen Faktoren, die weiter bestehen oder sich sogar noch verstärken werden…“46 Die EU-Staats- und Regierungschefs beschreiben ihr Bemühen (um die Begrenzung der Migration) als „... an der Spitze stehende Priorität der Außenbeziehungen der EU“.
Dies bedeutet, so eng wie möglich mit den Flüchtlingsexportländern (wie Eritrea) zusammenzuarbeiten, die Transitländer (wie Sudan) zu unterstützen und direkt in Ländern einzugreifen, in denen sich Flüchtlinge einschiffen (wie Libyen). Libyen wird in der EU-Verlautbarung vom Juni 2016 als besonders wichtig bezeichnet. „Berichten zufolge gibt es heute in Libyen Zehntausende von MigrantInnen, die nach Möglichkeiten suchen, in die EU einzureisen. Die Zahl steigt täglich …. Mehr als 230.000 MigrantInnen wurden in Libyen gezählt.“47 Die Verlautbarung verweist auch auf zukünftige Möglichkeiten der EU-Politik: „Eine mögliche zivile Mission der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik, die auf bestehende Missionen zur Unterstützung des Grenzschutzes sowie anderen EU-finanzierten Programmen zur Verbesserung von Kapazitäten aufbaut, könnte auf Ersuchen der libyschen Regierung, einen Beitrag für den Kapazitätsausbau und für Unterstützung zu erhalten, eingerichtet werden, auch im Bereich Grenzmanagement und Migration. Dies könnte Ausbildungsprogramme für die libysche Küstenwache und Marine ergänzen.“
Dieser Ansatz ist aber nicht auf Libyen begrenzt. Die EU betrachtet die gesamte Sahel-Zone als Migrationsgebiet und ist entschlossen, in der gesamten Region gegen die Flüchtlingsströme vorzugehen:
„Die EU hat ihren Dialog und ihre Zusammenarbeit in den Bereichen Migration, Sicherheit und Entwicklung mit den Ländern der G5 Sahel48 aufgewertet und erweitert. In diesem Rahmen wurde nun das Verbindungsbüro der EUCAP49-Sahel-Mission in Agadez (Niger) eröffnet und ein gemeinsames Ermittlungsteam mit Niger ins Leben gerufen. Ergänzend zu den derzeitigen Aktivitäten könnte erwogen werden, dass die in der Region bestehenden drei gemeinsamen Missionen für Sicherheits- und Verteidigungspolitik auf Ersuchen der jeweiligen Regierungen ihre Ausbildungsprogramme für andere G5 Sahel-Streitkräfte öffnen. Dies könnte dazu beitragen, die Interaktion zu fördern und grenzüberschreitende gemeinsame Patrouillenoperationen entlang der Grenzen zu erleichtern. Die Unterstützung bei der Einrichtung einer operativen grenzüberschreitenden Zusammenarbeit könnte ebenfalls in Erwägung gezogen werden. Eine enge Koordination der Aktivitäten zur Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik in Mali und Niger mit Entwicklungsprojekten, auch den Projekten, die vom Nothilfe Treuhandfonds für Afrika der Europäischen Union unterstützt werden, wird weiterhin von entscheidender Bedeutung sein.“50
Aber die Zusammenarbeit mit Libyen und südlicher gelegenen Ländern wird von der EU nicht als ausreichend angesehen. Zwei weitere Handlungsfelder wurden beschlossen: der Angriff auf die Seenotrettungseinsätze verschiedener nichtstaatlicher Organisationen, die den Flüchtlingen Hilfe leisten, und die Zusammenarbeit mit den Sicherheitskräften von Transitländern auf europäischem Boden.
Nichtstaatliche Organisationen beschuldigt
Wie ausführlich berichtet wurde, waren die EU-PolitikerInnen zunehmend verärgert über das Verhalten der Organisationen, die an den Rettungseinsätzen beteiligt waren und beschuldigten sie, ein „Antriebsfaktor“ zu sein und Flüchtlinge dazu zu verleiten, ihr Leben bei der Überquerung des Mittelmeeres zu riskieren. Im Dezember 2016 gingen sie noch weiter. Ein Bericht der Grenzschutzagentur Frontex bezichtigte die Organisationen, mit Schmugglern unter einer Decke zu stecken.51
„Es ist hervorzuheben, dass sich im Berichtszeitraum nach Angaben der italienischen Behörden während einer SAR-Operation (Such- und Rettungsoperation), die von zwei Schiffen nichtstaatlicher Organisationen, Minden und Topaz Responder, durchgeführt wurden, in dem Gebiet ein kleines Fiberglasboot mit einer libyschen Flagge zeigte, mit Personen, die vorgaben, Fischer zu sein. Zu einem bestimmten Zeitpunkt näherte sich dieses Fiberglasboot einem der Schiffe, Minden, und übergab zwei libysche Bürger mit der Begründung, sie seien Flüchtlinge. Das Schiff der Organisation übernahm die Personen und ließ das libysche Boot gewähren, um das Gebiet zu verlassen. Nach den beschriebenen Aktivitäten erklärten die MigrantInnen, dass die Crew auf dem kleinen libyschen Boot aus Menschenschmugglern bestanden habe. Das ist der erste gemeldete Fall, in dem sich die kriminellen Netzwerke direkt an ein EU-Schiff gewandt und MigrantInnen über das Schiff der nichtstaatlichen Organisation direkt nach Europa geschmuggelt haben.“
Im Februar 2017 kündigte ein Staatsanwalt in der Hafenstadt Catania, Carmelo Zuccaro, eine Task Force an, um zu prüfen, ob Menschenschmuggler die Rettungsboote der nichtstaatlichen Organisationen finanzieren. Er fragte: „Haben diese nichtstaatlichen Organisationen alle die gleiche Motivation? Und wer finanziert sie?“52 Erst im Mai gab der Staatsanwalt schließlich zu, dass er keinerlei Anhaltspunkt für die Ermittlungen habe: Er war lediglich einer Hypothese gefolgt. Aber der Schaden war bereits angerichtet. Unter dem Druck rechtsextremer europäischer Parteien (unter ihnen Italiens populistische 5-Sterne-Bewegung und die gegen Einwanderung eingestellte Lega Nord, die die Schiffe der nichtstaatlichen Organisationen als „Meerestaxi“ bezeichnet hatte) unterwanderte der italienische Geheimdienst die Besatzung eines Rettungsbootes.53
Italien versuchte, den nichtstaatlichen Organisationen auf einem Treffen am 2. Juli 2017 einen Verhaltenskodex aufzuerlegen, mit der Drohung, ihre Häfen für die Rettungsschiffe zu schließen, wenn sie nicht zustimmten. Der Kodex enthielt eine Bestimmung, die den Transfer geretteter Flüchtlinge von einem Boot auf ein anderes untersagte – eine Maßnahme, die sich stark auf die kleineren Boote der Organisationen ausgewirkt hätte. Einige Organisationen stimmten zu, andere – darunter Sea Watch, Proactiva und Ärzte ohne Grenzen – lehnten ab. Am 10. August erschwerte die libysche Marine die Rettungsbemühungen zusätzlich, als sie behauptete, ihre Such- und Rettungszone wieder geltend machen zu wollen und die ausländischen Organisationen davor warnte, in die nicht näher definierte Zone ohne Erlaubnis einzudringen. Am nächsten Tag kündigte Ärzte ohne Grenzen an, die Rettungseinsätze nach „glaubwürdigen Drohungen“ der libyschen Küstenwache einzustellen. Inzwischen wurden diese Einsätze wiederaufgenommen. Aber die Organisationen sehen für ihre Arbeit jetzt zunehmend schwierigere Zustände: Sie werden mit Argwohn von den EU-Institutionen betrachtet und kommen in Kontakt mit der von der EU bewaffneten und ausgebildeten libyschen Küstenwache. Nichts davon macht ihre Rettungsarbeit einfacher.
Afrikanische Sicherheitsbeamte auf europäischem Boden
Die italienische Regierung hat mit dem Sudan ein Abkommen getroffen, um sudanesischen Beamten die Stationierung in Italien zu ermöglichen. Ihre Aufgabe sei es, italienische Behörden bei der Ausweisung sudanesischer Asylbewerber zu unterstützen. Der Einsatz sudanesischer Beamter bei der Befragung von MigrantInnen und Asylsuchenden in Italien ist ebenfalls Gegenstand einer Vereinbarung zwischen der italienischen und der sudanesischen Regierung. Unterzeichnet am 3. August 2016, ist vorgesehen, „kriminelle Aktivitäten zu bekämpfen“, die im Rahmen der „Flut“ von Migranten nach Italien an der Grenze bestehen.54
Die Beamten werden laut Protokoll in italienischen Polizeiunterkünften leben, drei Mahlzeiten und ein Tagesgeld von 40 Euro erhalten, zudem Reisekosten und Gesundheitsversorgung. Das geheime Protokoll (es wurde kurz nach der Unterzeichnung öffentlich gemacht) wurde von einer Reihe von nichtstaatlichen Organisationen wie Amnesty International, Oxfam Italia, Ärzte ohne Grenzen und Save the Children angeprangert. In einer Pressemitteilung vom 27. September 2016 erklärten die NGO-Gruppen, dass die zwangsweise Rückführung von MigrantInnen nach Darfur die Verpflichtung der italienischen Regierung verletze, Menschen nicht in Länder zurückzuführen, in denen sie einem „realen Risiko von Menschenrechtsverletzungen“ unterliegen.55
Die Vereinbarungen wurden bald umgesetzt. Sudanesische Beamte (wahrscheinlich Sicherheitskräfte) wurden eingesetzt, um sudanesische MigrantInnen und Flüchtlinge in Italien zu befragen. Amnesty International berichtete: „Auf Anfrage der italienischen Polizei sind sudanesische Behörden in Italien nicht nur in konsularischen Vertretungen tätig, sondern auch in Häfen, Polizeistationen und Haftzentren, unverzüglich hinzugezogen zur Identifikation über ein Interview, wobei eine weitere Ermittlung zur Person ausdrücklich ausgeschlossen wird.“ Amnesty geht davon aus, dass eine Gruppe von Sudanesen, die am 24. August 2016 von Italien nach Khartum abgeschoben wurde, durch sudanesische Konsularbeamte vor ihrer Rückkehr nach Sudan befragt und registriert wurde.
Die Zusammenarbeit zwischen den italienischen und sudanesischen Behörden ist Teil eines Kooperationsprogramms zwischen der Europäischen Union und afrikanischen Staaten, die auf dem Gipfeltreffen in der maltesischen Hauptstadt im November 2015 beschlossen wurde. Die Staats- und Regierungschefs einigten sich dort auf einen Aktionsplan, der genau solche Vereinbarungen vorsieht.56 Der Aktionsplan von Valletta fasst ein umfassendes Maßnahmenpaket ins Auge, das den Austausch von Informationen, Zusammenarbeit von Geheimdiensten und Ausbildung mit afrikanischen Staaten vorsieht, darunter auch mit dem Sudan. Der Plan fordert die Partnerstaaten auf, „die operative polizeiliche Zusammenarbeit und den Informationsaustausch zwischen den Herkunfts-, Transit- und Zielländern der Migration zu verbessern, gegebenenfalls einschließlich gemeinsamer Ermittlungsteams mit Zustimmung der betroffenen Länder.“
Die italienische Vereinbarung fällt in den Anwendungsbereich des Aktionsplans. Die Zusammenarbeit zwischen Italien und Sudan findet statt, obwohl der sudanesische Präsident Omar al-Bashir vom Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit gesucht wird. Die Anklage vor dem IStGH listet die Verbrechen detailliert auf, darunter Völkermord, vermutlich begangen in Darfur.57 Wenn diese Art von Vereinbarung nun in Italien akzeptabel ist, wie lange wird es noch dauern, bis so etwas EU-weit verabschiedet wird?
Europa und Eritrea heute
Die europäischen Staats- und Regierungschefs sind sich sehr wohl bewusst, dass ihre Politik der „Wiederbelebung“ gegen die Grundprinzipien der EU in Bezug auf die Menschenrechte verstößt. Ein großer Teil der Arbeit wird nun verdeckt durchgeführt, mit dem ausdrücklichen Versuch, der Öffentlichkeit nicht gewahr werden zu lassen, was geplant ist. Das wurde durch zwei deutsche Medien aufgedeckt: Der Spiegel58 und das Fernsehmagazin Report Mainz59. Ziel der verdeckten Verhandlungen war es, die Massenflucht von AfrikanerInnen zu verhindern, deren Ankunft in Europa ein höchstbrisantes Thema ist. Der Spiegel berichtete, Deutschland führe diese Strategie an. Die Europäische Kommission habe darauf hingewiesen, dass die Öffentlichkeit „unter keinen Umständen“ erfahren solle, was in den Gesprächen am 23. März 2016 vereinbart worden ist. Ein Mitarbeiter von Federica Mogherini, EU-Außenbeauftragte, warnte, dass der Ruf Europas auf dem Spiel stehe. Die Europäische Union ist sich sehr bewusst, wie gefährlich diese Vorschläge wirklich sind. Unter der Überschrift „Risiken und Annahmen“ heißt es in dem Dokument:
„Zweckentfremdung von Ausrüstung und Schulungen [sic] für sensible nationale Behörden (wie Sicherheitsdienst oder Grenzbehörden) für repressive Zwecke; Kritik von nichtstaatlichen Organisationen und der Zivilgesellschaft, die sich bezüglich repressiver Regierungen zu Migration engagieren (insbesondere Eritrea und Sudan).“60
Den Eritreern werden Schulungen für das Justizwesen versprochen und für einen Bereich, der als „Hilfe bei der Entwicklung oder Umsetzung von Regelungen zum Menschenhandel“ bezeichnet wird. Da die eritreischen Grenzpatrouillen den Befehl haben, auf jeden Flüchtling, der die Grenze zu übertreten sucht, Todesschüsse abzufeuern, besteht ein reales Risiko, dass die EU Hilfe für dieses Ziel gibt. Diese Entwicklungen gibt es trotz der klaren Forderungen des europäischen Parlamentes, für jede Hilfe von Eritrea ausdrücklich menschenrechtliche Verpflichtungen zu verlangen.61
Die oben genannten Risiken sind in den Augen europäischer Beamter, die den Bericht erstellt haben, nur hypothetischer Natur. Sie werden benannt, damit diese Risiken minimiert oder vermieden werden können. Die allererste vom Dokument benannte „mildernde Maßnahme“ wird so beschrieben:
„Unterstützung durch politischen Dialog auf hochrangiger Ebene (insbesondere durch den Khartum-Prozess und Dialog über Migration auf hochrangiger Ebene), um die Akzeptanz von neuen Methoden und Praktiken sicherzustellen, einschließlich der Bereitschaft, gegen Korruption an den Grenz- und Transitstellen vorzugehen; Follow-ups bei der Ausbildung, um die Akzeptanz und Übernahme sicherzustellen, Vertrauen auf erfahrene Partner zur Umsetzung, die gute politische Beziehungen zu den Zielländern haben.“62
Doch die Anzeichen zeigen genau in die andere Richtung. Es gibt allen Grund zu der Annahme, dass hochrangige Beamte keine Unterstützung darstellen. Vielmehr sind sie in den Menschenhandel verwickelt, der mit diesen Maßnahmen gestoppt werden soll.
Die eritreische Regierung kontrolliert rigoros ihre Grenzen, einschließlich der Umsetzung des Schießbefehls gegenüber allen, die unerlaubt die Grenze zu übertreten suchen.63 Zugleich gibt es immer mehr Indizien dafür, dass die gleiche Regierung nicht nur die illegale Flucht ihrer eigenen Bürger kontrolliert, sondern auch davon profitiert. Wie ist es möglich, dass beide Aussagen zutreffen können?
Der erste Punkt ist, dass die eritreische Regierung über formelle und informelle Systeme zur Regierungsausübung verfügt. Während formell die Politik die Flucht ins Exil verhindern soll, gilt das nur für diejenigen, die es sich nicht leisten können, hochrangige Beamte zu bezahlen, um ihre Reise zu ermöglichen. Mit ausreichenden Mitteln kann die Grenze zum Sudan relativ bequem überschritten werden: „… eine Fluchtmöglichkeit aus Eritrea ist, mit einem luxuriösen SUV-Fahrzeug von Asmara nach Kassala transportiert zu werden. Das kostet aber 8.000 bis 10.000 US-Dollar. Es wird vom Militär organisiert. In dem Fahrzeug sitzen 10-12 Personen. Es ist ein Regierungs- oder Militärfahrzeug und die gesamte Reise dauert etwa acht Stunden.“64
Die Regierung hat eine informelle Wirtschaft etabliert und kontrolliert diese. Sie erleichtert die finanziellen Transfers. Diese informelle Wirtschaft, die inoffiziell von höherrangigen Beamten und Offizieren getragen wird, ist in der Tat ein System, das offiziell von der Regierungspartei, der PFDJ, gebilligt wird. Dies wurde von der vom Sicherheitsrat eingesetzten UN-Beobachtungsgruppe in ihrem Bericht 2011 dargelegt. Es gibt, so die Beobachter: „…eine riesige und komplexe informelle Wirtschaft, in der hochrangige Beamte der Regierung und der PFDJ jedes Jahr hunderte Millionen Dollar inoffizieller Einnahmen erzielen und kontrollieren, vor allem bei der Besteuerung von EritreerInnen in der Diaspora und privaten Geschäftsvereinbarungen unter Beteiligung von durch die PFDJ geführte Unternehmen sowie Geschäftspartnerschaften im Ausland.“ Das wird betrieben „…hauptsächlich über den umfangreichen, im Ausland angesiedelten und weitgehend illegalen Finanzapparat, der von Geheimdienst, Militär und ParteifunktionärInnen kontrolliert und verwaltet wird, von denen viele ‚inoffiziell‘ tätig sind.“65
Dieses System wird durch das Büro von Präsident Afewerki kontrolliert, dem Herzstück der Operation. Der dafür offiziell verantwortliche wichtigste Wirtschaftsberater des Präsidenten, Hagos Gebrehiwot Maesho (auch bekannt als Hagos „Kisha“) ist Leiter der Wirtschaftsabteilung der PFDJ.66 Ohne diese informelle Wirtschaft wären die an Menschenhändler geleisteten Lösegelder und sonstigen Zahlungen Straftaten von Einzelpersonen. Da sie aber durch ein offiziell gebilligtes System geschleust werden, können sie stattdessen als Finanzierungsmethode angesehen werden, die die regierende Partei im Namen des Präsidenten und der mit ihm verbundenen TeilhaberInnen (unter den schlimmsten Umständen) unterhält.
Da viele EritreerInnen ins Exil in den Sudan fliehen, ist die westliche Grenze Eritreas eine der Schlüsselregionen, die es zu kontrollieren gilt. Diese Aufgabe wurde dem General Teklai Kifle, bekannt als „Manjus“, übertragen. Seine Rolle als Organisator aller illegalen grenzüberschreitenden Aktivitäten wurde 2011 erneut im Bericht des UN-Beobachters unterstrichen: „Der Waffenhandel aus West-Eritrea ist nur ein Teil eines viel breiteren, höchst profitablen, Schmuggels, der unter Aufsicht des Generals Teklai Kifle ‚Manjus‘ steht, dem Kommandeur der westlichen Zone.“67 Der Bericht beschuldigt General Manjus, in Zusammenarbeit mit einer Reihe von sudanesischen Beamten, unter ihnen auch Mabrouk Mubarak Salim, damals sudanesischer Staatsminister für das Transportwesen, mit allem zu handeln, von Schusswaffen bis zu Menschen.68 Die Grenze ist für das eritreische Militär kein Hindernis. Das US-Außenministerium kam zu dem Schluss, dass „manchmal eritreische Militärs in Sudan operieren, um Flüchtlinge aus den Lagern zu entführen, insbesondere diejenigen, die sich kritisch über die eritreische Regierung äußerten oder politisch oder militärisch wichtige Posten inne hatten.“69
Die sudanesischen Behörden sind Teil des Menschenhandels, der Eritrea mit der Außenwelt verbindet. Wie eng diese Beziehung ist, lässt sich aus dem Menschenrechtsbericht über die Situation in der im Sudan an der Grenze zu Eritrea gelegenen Stadt Kassala ersehen. Human Rights Watch stellte fest, dass die sudanesische Polizei EritreerInnen verhaftete, bevor sie den Menschenhändlern übergeben wurden.70
Die Schlüsselfiguren des Menschenhandels sind eritreische Staatsbürger.71 Sie wurden von vielen erkannt und benannt, die sie transportiert haben. Sie leben im Sudan, in Ägypten und Libyen und haben Verbindung zu einem breiteren Netzwerk, das zurück bis nach Asmara und weiter nach Israel, Schweden, Italien und anderwärts reicht. Sie handeln ungestraft im Sudan und in Ägypten und werden bezahlt mit den Erlösen aus dem Menschenhandel. Ein Zeuge berichtet folgendes über einen Schleuser: „Er ist ein Eritreer. Aber er lebt im Sudan. Er arbeitet eng mit der sudanesischen Regierung zusammen und erhält volle Unterstützung. Alle arbeiten, um viele, viele Dollar zu erhalten.“72 Diese Behauptungen werden durch zahlreiche Zeugenaussagen bestätigt.
Es ist auch nicht nur eine Frage des Menschenhandels. EritreerInnen waren auch direkt an der Überwachung und Folter ihrer Landsleute beteiligt, die auf dem Sinai gefangen gehalten wurden.73 Sie nahmen die höchsten Lösegelder und wandten einige der grausamsten Foltermethoden an.
Die vielleicht beunruhigendste Behauptung ist, dass einige Opfer des Menschenhandels tatsächlich aus Eritrea selbst entführt werden – auch auf den Straßen Asmaras. Besonders belastend ist das Zeugnis einer Mutter von drei Kindern, die aus der Hauptstadt entführt wurde.
„Sie sagte, sie habe niemals die Absicht gehabt, das Land zu verlassen, sondern sei nur zu einem Treffen mit ihrem Geschäftspartner nach Asmara gekommen. Bei dem Treffen waren drei Männer, die sie nicht kannte. Das nächste, woran sie sich erinnert, ist, in Kassala (Sudan) neben den drei Männern aufzuwachen. Ihr Geschäftspartner war nicht dabei ... Die drei anderen erinnerten sich ebenfalls nicht, wie sie dort hingekommen waren. Sie wurden aufgefordert, innerhalb weniger Tage 10.000 US-Dollar zu zahlen. Wenn sie es nicht täten, würden sie an die Beduinen im Sinai verkauft werden.“74
Die Beweise deuten auf ein bestens organisiertes Netzwerk von hochrangigen Offizieren und Beamten hin, die gemeinsam mit im Ausland lebenden eritreischen Staatsangehörigen den Menschenhandel mit EritreerInnen für den eigenen Profit kontrollieren. Wie oben angedeutet, können solche Aktionen dem Präsidenten nicht entgehen, der nicht nur Männer wie General Manjus ernannte, sondern sich auch auf sie verlässt, wenn es um seine eigene Sicherheit geht. In einer Gesellschaft, die so kontrolliert und überwacht wird wie die in Eritrea, wo ein ganzes Netzwerk von Spionen über das Land verteilt ist, können solch wichtige und ausgedehnte Aktionen nicht ohne offizielle Billigung durchgeführt werden.
In ihrem Bericht zur Menschenrechtslage schrieben die USA 2016: „Eritrea ist ein stark zentralisiertes Land unter einem durch den Präsident Isayas Afewerki kontrollierten autoritären Regime.“ Nach Auflistung zahlreicher Menschenrechtsverletzungen stellen die Autoren fest: „Die Regierung verfolgt und bestraft im Allgemeinen Beamte nicht, die Straftaten begangen haben, weder im Sicherheitsdienst noch irgendwo anders in der Regierung. Straflosigkeit ist der Normalfall.“ Die Anzeichen weisen auf einen Einzelnen hin, der kontrolliert, der einen schädlichen Einfluss auf EritreerInnen im eigenen Land und im Ausland ausübt. Es ist schwierig, nicht die Schlussfolgerung zu treffen, dass der Präsident selbst diese bösartige Macht ist, die versucht, das Leben von EritreerInnen zu bestimmen und zu kontrollieren, wo auch immer sie leben. Selbst wenn sie ins Ausland fliehen, laufen sie Gefahr, von EritreerInnen gefangen genommen, gefoltert und ausgelöscht zu werden, die direkt oder indirekt für die Regierung arbeiten.
All diese Fakten sind öffentlich und den europäischen BeamtInnen, die sich mit dem Horn von Afrika befassen, sehr wohl bekannt. Doch der Druck auf die EU, die Zahl der MigrantInnen und Flüchtlinge zu reduzieren, die die europäischen Küsten erreichen, ist so hoch, dass sie bereit sind, weiter ihren Strategien zu folgen, obwohl sie wissen, dass sie im besten Falle den Exodus nicht stoppen werden. Im schlimmsten Falle überlassen sie hilflose und schutzbedürftige Personen in den Transitländern der Gewalt, sexuellem Missbrauch und Versklavung.
Hin zu einer alternativen europäischen Strategie
Eine alternative Strategie erfordert, dass die Europäische Union erkennt, dass die eritreische Regierung kein akzeptabler Partner ist. Es würde bedeuten, die gegenwärtigen, über den Khartum-Prozess aufgebauten Beziehungen mit der Regierung des Präsidenten Isayas zu beenden. Europäische Politiker würden anerkennen (wie sie es auch bezüglich der Apartheid-Regierung in Südafrika taten), dass Eritrea ein geächteter Staat ist. Formelle diplomatische Beziehungen würden beibehalten. Diese sollten sich aber nicht auf irgendeine Form der Hilfe oder Zusammenarbeit erstrecken. Es würde bedeuten, die Unterstützung für laufende Programme zurückzunehmen, soweit sie nicht dazu bestimmt sind, Soforthilfe zur Bekämpfung der Auswirkungen von Naturkatastrophen zu leisten. Der Entzug dieser (begrenzten) Hilfsprogramme würde zu Lasten der eritreischen Bevölkerung gehen. Die Beendigung des gegenwärtig geringen Engagements würde aber nur geringe Auswirkungen auf das Leben der meisten Menschen haben.
Stattdessen sollte die EU in der Stunde der Not an der Seite der eritreischen Menschen stehen. Das würde eine Strategie verlangen, die sich für sie einsetzt und zugleich den Strom der Ressourcen an das Regime einschränkt.
Alternative Handlungsmöglichkeiten
Es würde damit beginnen, zu akzeptieren, dass frühere Versuche der „Wiederbelebung“ der Beziehungen mit dem eritreischen Regime wenige, wenn überhaupt irgendwelche, Früchte getragen hat. Es ist offensichtlich, dass Präsident Isayas und seine engsten Mitarbeiter diese Initiativen verachten und sie als Zeichen der Schwäche betrachtet haben. Das Regime reagiert nur auf entschlossene Maßnahmen. Die können folgendes einschließen:
- Ausweitung der legalen Migration. Die EU hat das bereits als Grundsatz akzeptiert. Die jüngste Erklärung besagt, dass mindestens 50.000 Menschen eine legale Möglichkeit der Umsiedlung erhalten sollen. Aufgrund der außergewöhnlichen Situation sollte ein beträchtlicher Anteil davon für Eritrea vorgesehen werden.75
- Direkte Zusammenarbeit mit den Nachbarstaaten (insbesondere mit Äthiopien und dem Sudan) um die Ausbildung und Umsiedlung von eritreischen Flüchtlingen zu unterstützen, die über die Grenze kommen.
- Finanzielle Unterstützung der eritreischen Organisationen, die gegenwärtig Informationen und Unterstützung aus dem Ausland liefern, wie das in Paris arbeitende Radio Erena.76
- Nutzung der Stärke der EU-Diplomatie, um derzeitige und zukünftige Investoren von einer Beteiligung in Bergwerken abzuhalten, darunter auch Nevsun, eine kanadische Firma, die beschuldigt wird, zum Abbau der Mine bei Bisha Sklavenarbeit genutzt zu haben.77
- Zusammenarbeit mit arabischen Staaten und Israel, um sie davon abzuhalten, Militärstützpunkte und Horchposten in Eritrea einzurichten und zu entwickeln.78
- Dem Beispiel der Niederlande zu folgen, um der Erhebung der 2%-Steuer durch die eritreischen Behörden Einhalt zu gebieten, die sie von der eritreischen Diaspora im Ausland einfordern.79
- Beobachtung der Aktivitäten der eritreischen Regierung im Ausland, einschließlich der Rolle der regierenden Partei, sowie Eingreifen bei Einschüchterung und Missbrauch von sich in der Diaspora befindlichen Bürgern.
- Ausweitung der UN-Sanktionen auf die Beschlagnahme ausländischer Vermögenswerte eritreischer Regierungsbeamter, wie es von den UN-BeobachterInnen in ihrem Bericht an den Sicherheitsrat benannt wurde.
- Beschluss von weiteren Willkommensmaßnahmen gegenüber EritreerInnen, die den mühsamen und gefährlichen Weg eingeschlagen haben, um die europäischen Küsten zu erreichen.
Zusammengenommen würden diese Maßnahmen den Druck auf das eritreische Regime erhöhen, ohne die Bevölkerung Eritreas wesentlich zu beeinträchtigen. Zugleich wäre es wichtig, Druck auf Äthiopien auszuüben, das Urteil der Grenzkommission, die die Grenze mit Eritrea festgelegt hat, anzuerkennen. Die Weigerung Äthiopiens, dem Urteil nachzukommen, erlaubt es dem gegenwärtigen Regime, zu behaupten, dass sein Territorium von einer ausländischen Macht besetzt gehalten wird. Die Einhaltung des Urteils würde eine wesentliche Hürde für die Normalisierung des politischen Lebens in Eritrea beseitigen.
Solch eine Strategie muss nicht zwangsläufig erfolgreich sein, aber sie wäre zumindest neu und könnte dazu beitragen, ein repressives Regime zu verändern. Die derzeitige EU-Strategie hat nicht nur keinen wesentlichen Nutzen gebracht, sie ist auch wiederholt gescheitert. Ganz sicher ist die Zeit gekommen, aus den Fehlern der Vergangenheit zu lernen und gegenüber Eritrea und seiner Bevölkerung einen neuen Ansatz zu wählen.
Link zu den Fußnoten
Martin Plaut: The European Union and Eritrea. Hintergrundbeitrag für die Konferenz „Eritrea and the Ongoing Refugee Crisis“, 19. Oktober 2017 in Brüssel. Übersetzung: rf, pg. Martin Plaut arbeitete als Journalist für BBC World Service News mit dem Schwerpunkt auf das Horn von Afrika und das südliche Afrika. Zuletzt veröffentlichte er das Buch „Understanding Eritrea“, Hurst Publisher 2016.. Der Beitrag wurde veröffentlicht in der Broschüre „Eritrea: Ein Land im Griff einer Diktatur – Desertion, Flucht & Asyl“, 3. Mai 2018. Herausgegeben von Förderverein PRO ASYL e.V. und Connection e.V.
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