An der Grenze nach Syrien

An der Grenze nach Syrien

Wahlen in der Türkei

Erdoğan: “In der Türkei des Jahres 2018 existiert keine Kurdenfrage mehr”

von Memo Şahin

(06.07.2018) Ich war sehr naiv zu hoffen, dass ein Diktator durch von ihm um anderthalb Jahre vorgezogene Wahlen einfach seinen Hut nehmen und gehen würde. Nicht nur ich, Tausende und Hunderttausende, ja sogar Millionen haben darauf gehofft, dass Erdoğan diesmal “verlieren” und sich von der politischen Bühne verabschieden würde.

Wir alle wussten, dass er dies nicht machen würde, da er selber genau wusste, dass er danach zumindest wegen Korruption angeklagt werden würde. Nur wussten wir nicht, ob dazu auch die Machenschaften in Kurdistan, die Zerstörung von über zehn kurdischen Städten in den Jahren 2015 und 2016 wie Sur/Diyarbakır, Cizre und Nusaybin, die Vertreibung Hunderttausender kurdischer ZivilistInnen, die Ermordung Hunderter KurdInnen innerhalb von zwei Jahren oder die völkerrechtswidrige Besatzung von Afrin/Nordsyrien herangezogen würden.

Wir wussten auch, dass er die Wahlmanipulationen beim Verfassungsreferendum im April 2017 noch intensivieren und verfeinern sowie all seine Macht für den eigenen Wahlsieg einsetzen würde. Um dies zu verhindern, mobilisierten Zivilgesellschaft, Gewerkschaften, Menschenrechtsgruppen und die Oppositionsparteien in der Türkei, um hiergegen einen Schutzwall zu bilden.

Alle Vorzeichen, alle Umfragen auch AKP-naher Institute, deuteten darauf hin, dass Erdoğan und seine AKP die Präsidentschaftswahlen nicht gewinnen würden und eine Stichwahl nötig würde. Doch es kam bekanntlich anders; Erdoğan erreichte mit 52% die absolute Mehrheit.

Die Auslandsschulden der Türkei liegen aktuell bei über 450 Milliarden Dollar, die Jugendarbeitslosigkeit bei 25 Prozent. Die türkische Währung hat massiv an Wert verloren - ein Dollar kostet 4,60 TL, ein Kilo Zwiebel 7,00 TL, ein Kilo Kartoffel um 6,00 TL. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung und die Konkursmeldungen der kleinen und mittleren Betriebe stehen auf höchstem Niveau. Und trotzdem hat Erdoğan „gewonnen”!

Freie und faire Wahlen?

Nicht nur ich behaupte es, sondern auch die OSZE bescheinigt, dass die Wahlen weder frei noch fair waren. Das Land steht seit zwei Jahren unter Ausnahmezustand und die Gewaltenteilung ist aufgehoben: Die Legislative, die Exekutive und die Judikative sind schon längst Erdogan alleine unterstellt.

Während Erdoğan und seine Partei, die AKP, alle Vorzüge der Medien, die sich zu 95 Prozent der AKP verbunden fühlten, genießen, wurden die anderen Präsidentschaftskandidaten und Parteien einfach ignoriert. Ein Präsidentschaftskandidat, Selahattin Demirtaş von der HDP (Partei des Demokratischen Volkes), musste seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus führen. 22 Abgeordnete der HDP wurde ihr Mandat aberkannt und neun befinden sich im Gefängnis. Demirtas und die HDP wurden von Erdoğan und anderen AKP-Oberen mehrmals öffentlich als terroristisch abgestempelt und kriminalisiert. Selbst über die Wahlkampfveranstaltungen des Präsidentschaftskandidaten der CHP, Muharrem İnce, an denen sich in Izmir etwa 3 Millionen und in Istanbul 5 Millionen Menschen beteiligten, wurde von den Medien einfach nicht berichtet.

Tätliche Angriffe auf HDP-Veranstaltungen begleiteten den Wahlkampf der AKP. Über 100 Angriffe wurden gezählt. Hunderte HDP-WahlhelferInnen wurden während des Wahlkampfes festgenommen. Drei HDP-Unterstützer aus einer Familie in Suruc wurden von AKP’lern ermordet: Zwei von ihnen mit Schusswaffen. Der Vater, der seine zwei ermordeten Söhne im Krankenhaus sehen wollte, wurde dort von Schergen der AKP vor den Augen von Polizei und Krankenhauspersonal gelyncht.

Verschärfung des Wahlsystems

Trotz der antidemokratischen Wahl-Hürde von 10% wurde das Wahlgesetz weiter verschärft: Beim Verfassungsreferendum im April 2017 wurden nicht von der Wahlbehörde gestempelte Wahlzettel nachträglich für gültig erklärt - für diese Wahlen wurden sie schon vorher für gültig erklärt. Nach einer weiteren Änderung des Wahlgesetzes mussten nicht in jedem Dorf oder Viertel Wahlurnen aufgestellt werden. So mussten über Hunderttausend kurdische WählerInnen in bis zu 40 km entfernten und von Dorfschützern und Armeeeinheiten besetzten Ortschaften wählen gehen. Menschen selbst aus einem Haus wurden verschiedenen Wahllokalen zugewiesen.

Nach der Verschärfung des Wahlgesetzes wurde die Kontrolle über den Wahlgang von kommunalen Funktionsträgern übernommen, nicht mehr wie bisher von VertreterInnen der Parteien. Wenn man bedenkt, dass die Wahlkommissionen und der Justizapparat fest in Hand der Regierungspartei sind, ist damit der Rechtsweg versperrt, um gegen Wahlmanipulationen zu protestieren.

Wahlbündnisse

Das neue Wahlgesetz erlaubt es den Parteien, Wahlbündnisse zu bilden, um die bestehende 10%-Hürde zu umgehen und so kleinere Parteien ins Parlament zu holen. Bei dieser Änderung hat die AKP vor allem die ultranationalistischen MHP im Sinne gehabt, da diese sich gespalten hat und laut allen Umfragen maximal bei sieben Prozent lag.

An den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen am 24. Juni nahmen also zwei Wahlbündnisse und die HDP sowie einige kleinere Parteien teil. Die AKP hat mit der MHP (Nationalistische Bewegungspartei) ein islamo-faschistisches Wahlbündnis “Cumhur Ittifaki” (Volksallianz oder -bündnis) geschmiedet. Gleich danach ging die CHP (Republikanische Volkspartei) auf die Partnersuche und hat mit der ultranationalistischen İYİ-Parti (Gute Partei), einer Abspaltung der MHP, sowie mit der Mutterpartei der AKP, der Saadet-Partei und der rechtskonservativen Demokrat-Partei ein Bündnis. Da die CHP die HDP von diesem Wahlbündnis ausgeschlossen hatte, musste diese alleine die 10%-Hürde schaffen. Trotzdem erreichte sie 11,7 Prozent!

Demokratisierung des Landes und die Lösung der Kurdenfrage

Am 3. Juni behauptete Erdoğanauf einer Wahlkampfveranstaltung in Diyarbakır, einer Stadt, die als Hochburg der kurdischen Bewegung gilt, es gebe in der Türkei des Jahres 2018 keine Kurdenfrage mehr. (DHA, 04.06.2018)

Da er daran glaubt, hat er angefangen, die Kurdenfragen auch jenseits der Grenzen der Türkei zu “lösen”! Er machte gegen das Unabhängigkeitsreferendum in Irakisch-Kurdistan mobil, obwohl er sich mit der dortigen kurdischen Führung sehr gut verstand. Er besetzte mit djihadistischen Gruppen die kurdische Enklave Afrin in Nordsyrien und begann, dort die demografische Struktur zu verändern, indem er über Hunderttausend kurdische ZivilistInnen vertreiben ließ und an ihrer Stelle Islamisten aus Idlib, Ost-Ghuta usw. angesiedelt wurden. Und er drohte vor den Wahlen an, nach Afrin auch die anderen kurdischen Ortschaften entlang der Grenze in Syrien bis nach Kandil in Irakisch-Kurdistan anzugreifen.

Über die Zerstörung von zehn kurdischen Städten in den Jahren 2015 und 2016 wurde breit berichtet, auch über die Verfolgung der legalen FunktionärInnen, ParlamentarierInnen und BürgermeisterInnen der HDP. Nicht berichtet wurde aber, dass Erdoğan mit den Hardlinern der 1990er Jahre, mit der ehemaligen Premierministerin Tansu Ciller und dem Ex-Polizeichef, Innen- und Justizminister Mehmet Ağar kurz vor den Wahlen einen Pakt geschlossen hat. Diese beiden Namen rufen bei den Kurden Erinnerungen an Unheil, Ermordung, Vertreibung und Zerstörung hervor: an die “Endlösung der Kurdenfrage” (Ciller) und an die extralegalen Hinrichtungen nach vorgefertigten Listen beim Nationalen Sicherheitsrat durch Killerkommandos (Ciller und Ağar)…

Gleich nach den Wahlen hat der geschäftsführende Innenminister Süleyman Soylu gegen HDP und CHP mobil gemacht. Er bedrohte telefonisch die Co-Vorsitzende der HDP, Pervin Buldan. ”Ihr habt das Recht auf Leben verwirkt. Ihr müsst aus diesem Land verschwinden”, so Soylu. (Birgün, Cumhuriyet sowie Sputnik, 28.06.2018)

Auch gegen die CHP ging der allmächtige Innenminister vor. Er hat von Provinzgouverneuren verlangt, PolitikerInnen der CHP von Begräbnissen für “Märtyrer” (von der PKK getöteten Soldaten) auszuschließen. Daraufhin sagte der Chef der CHP Kilicdaroglu, dass Soylu den Weg für Bürgerkrieg und Chaos bereite. (SZ, 02.07.2018)

Der Vorsitzende der MHP hat zwei Tage nach den Wahlen durch ganzseitige Anzeigen in mehreren Zeitungen 59 JournalistInnen namentlich als “Verleumder” denunziert, die man ”nicht vergessen” werde. Auch sein Freund, der Mafia-Boss Alaattin Cakici meldete sich aus dem Gefängnis und bedrohte sechs Journalisten der Zeitung Karar (die dem ehemaligen Premier Ahmet Davutoglu von der AKP nahesteht) und fügte hinzu, dies sei ein “Aufruf an alle, die mich lieben. Tut Eure Pflicht”. Daraufhin haben die namentlich aufgeführten JournalistInnen ihre Arbeit bei Karar gekündigt. (SZ, 02.07.2018)

Wenn man bedenkt, dass die militärischen Operationen diesseits und jenseits der Grenzen zugenommen und die Verfolgung der demokratischen Kräfte neue Dimensionen angenommen haben, ist es nicht schwer, sich vorzustellen, dass dunkle Tage bevorstehen. Neben den Kurden und der HDP sowie linken demokratischen Kräften werden nun auch die CHP und weitere Teile der Gesellschaft kriminalisiert und bedroht. Auch sie werden einer “Unterstützung des Terrorismus” bezichtigt.

Der politische Islam hat gewonnen, die Demokratie hat verloren” war der Tenor der AKP-kritischen Tageszeitung Cumhuriyet anlässlich der Wahlen. İnce und seine CHP warnen vor dem neuen Regime. “Eine einzelne Person ist Staat, Exekutive, Legislative und Justiz geworden. Im System gibt es keinen Mechanismus, der der Willkür und Grobheit im Wege steht. Die Türkei hat ihre Bindung zu den demokratischen Werten gelöst” so İnce. (SZ, 26.6.2018)

Ein Bild aus der Küstenstadt Antalya verdeutlicht diese neue Richtung in der Türkei. Die Polizei geht wie in den 1990er Jahren gegen Tücher und Schals vor, die die kurdischen Farben Rot-Gelb-Grün haben!

Es gibt ein Sprichwort im Orient, das besagt: “Am Mittwoch weiß man Bescheid, wie der Donnerstag sein wird.” Mehr braucht man nichts hinzufügen!

Memo Şahin: Wahlen in der Türkei - Erdoğan: “In der Türkei des Jahres 2018 existiert keine Kurdenfrage mehr". 6. Juli 2018

Memo Şahin ist Geschäftsführer des Dialog-Kreises “Die Zeit ist reif für eine politische Lösung im Konflikt zwischen Türken und Kurden”

Stichworte:    ⇒ Menschenrechte   ⇒ Türkei