Abschiebeschutz für Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei

von Verwaltungsgericht Dresden

Im Folgenden dokumentieren wir eine Entscheidung des VG Dresden, das im Falle eines Kriegsdienstverweigerers aus der Türkei einen Abschiebeschutz wegen drohender Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention gesehen hat.

Aufgrund der Ernsthaftigkeit der Gewissensentscheidung des Klägers bezüglich seiner Kriegsdienstverweigerung drohe ihm eine "endlose Serie von Anklagen und Verurteilungen wegen ’Befehlsverweigerung’", was vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verurteilt worden war (Anm. d. Red.)

Tatbestand

Der Kläger ist türkischer Staatsangehöriger und stellte am 16.9.2004 einen Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter. Bei der Anhörung gab der Kläger im Wesentlichen an, er habe 1997 in der Türkei Abitur gemacht und anschließend von 1998 bis 2000 Betriebswirtschaftslehre studiert. Im Jahr 2000 sei er zum Sprachstudium nach Deutschland gekommen. 2002 sei er durch die Prüfung gefallen. Nachdem sein Visum nicht verlängert worden sei. habe er sich illegal in Deutschland aufgehalten. In der Türkei habe er einen Einberufungsbefehl erhalten. Diesen habe er jedoch nicht befolgt. Im Personenstandsregister sei vermerkt, dass er gesucht werde, weil er den Wehrdienst nicht angetreten habe. Er sei antimilitärisch eingestellt und wolle nicht Soldat werden. Er sei seit 4 Jahren in Deutschland und habe sich der türkischen Gesellschaft entfremdet. Müsse er in die Türkei zurückkehren, nähme man ihn fest. In der Türkei gebe es keinen Zivildienst. Es sei seine größte Angst, eventuell noch zum Wehrdienst eingezogen zu werden. Aus Angst habe er auch seine Freistellung vom Wehrdienst nicht verlängern lassen. Damals sei die Situation so gewesen, das wegen des Irak-Krieges noch nicht klar gewesen sei, ob nicht auch die Wehrdienstleistenden dort hingeschickt würden. Es sei nicht sicher gewesen, dass die Türkei nicht doch Soldaten in diesen Krieg schicke.

Mit Bescheid vom 21.2.2005 lehnte das Bundesamt den Antrag des Klägers auf Anerkennung als Asylberechtigter ab. Zur Begründung führte das Bundesamt im Wesentlichen aus, die Wehrpflicht als solche und die Wehrpflichtpraxis der Türkei stellten grundsätzlich keine politische Verfolgung im Sinne des § 60 Abs. a Abs. 1 Satz 4 Buchst. a) AufenthG dar. Aus diesem Grund bestehe auch kein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 1 AufenthG. Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen ebenfalls nicht vor, denn es stehe eindeutig fest, dass der Kläger im Hinblick auf das Kriegsgeschehen keine besonderen Gefahren bei der Rückkehr in die Türkei zu erwarten habe.

Der Kläger hat am 10.3.2005 Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt, dass er als Kriegsdienstverweigerer, der jede Art des Kriegsdienstes ablehne und jede Kooperation mit den türkischen Streitkräften verweigern werde, im Falle der Rückkehr in die Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung ausgesetzt sein werde und damit jedenfalls ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG bestehe. Ihm drohe die konkrete Gefahr, unmittelbar bei der Einreise am Flughafen oder zumindest innerhalb weniger Tage danach von den türkischen Sicherheitskräften wegen Wehrdienstentziehung belangt und in Haft genommen zu werden. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes hätten Wehrdienstflüchtlinge schon bei der Einreise damit zu rechnen sofort gemustert und einberufen zu werden. Da er den Wehrdienst aus Gewissensgründen verweigern werde, sehe er sich aufgrund der geltenden Rechtslage in der Türkei einer endlosen Serie von Anklagen und Verurteilungen wegen Befehlsverweigerung ausgesetzt, die letztlich nur darauf abzielten, seinen Widerstand und seinen Willen zu brechen. Eine solche Behandlung sei unmenschlich und erniedrigend i.S.v. Art. 3 EMRK. Als Kriegsdienstverweigerer müsse er unmittelbar nach der Zuführung zu den Streitkräften mit Inhaftierung, Schlägen und unmenschlicher und erniedrigender Behandlung durch die militärischen Vorgesetzten und weitere Angehörige der Streitkräfte rechnen, schon wenn er sich weigere, die Uniform anzuziehen und sich die Haare schneiden zu lassen, was er tun werde. Aufgrund der seit dem 6.12.2007 groß angelegten Offensive der türkischen Streitkräfte im Südosten des Landes und im Staatsgebiet des Irak sei zu befürchten, dass insbesondere auch "widerspenstige? Wehrdienstleistende - wie er - in vorderster Front als sogenanntes "Kanonenfutter? eingesetzt würden. Die Möglichkeit, sich vom Wehrdienst auch nur teilweise freizukaufen, bestehe nur für Personen, die im Besitz eines Aufenthaltstitels seien.

In der mündlichen Verhandlung hat der Kläger ergänzend ausgeführt: Er sei bereits 1998 gemustert worden. Die Einziehung zum Militär sei wegen seines Studiums ausgesetzt worden. In der Türkei habe er nicht erklärt, den Wehrdienst verweigern zu wollen. Dies habe er erst bei der Botschaft in Berlin getan, als er seinen Pass habe verlängern lassen wollen. Die Wehrdienstverweigerung entspreche seiner Persönlichkeit. Er wolle nicht töten und nicht getötet werden. Er wolle nie eine Waffe anfassen. Selbst wenn er die Möglichkeit hätte, sich vom Wehrdienst freikaufen zu können, würde er dies nicht tun, da mit seinem Geld nur Waffen gekauft würden. Er könne niemanden töten, nur weil er eine andere Nationalität habe oder Kurde sei. Er sei gegen jede Form des Rassismus und religiösen Fundamentalismus und die Militärdiktatur. Müsse er zum Militär, werde er sich massiv entgegenstellen, auch wenn er dafür durch Schläge bestraft werden sollte. Er werde keine Befehle befolgen. Dies sei seine Grundeinstellung, die er verfolgen werde, solange er am Leben sei.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist zulässig, aber nur zum Teil begründet. Der Kläger hat weder Anspruch auf Gewährung politischen Asyls noch kann das Vorliegen der Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG festgestellt werden. Zur Überzeugung des Gerichts steht fest, dass der Kläger vor seiner Ausreise aus der Türkei nicht von politischer Verfolgung bedroht war und eine solche auch bei einer Rückkehr in die Türkei zu erwarten hat. Dies gilt, obwohl er ausweislich des Fahndungsvermerks im Personenstandsregister in der Türkei wegen Wehrdienstentziehung gesucht wird und mit einer Bestrafung und seiner Einberufung rechnen muss. Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts stellen auch die zwangsweise Heranziehung zum Wehrdienst und die damit im Zusammenhang stehenden Sanktionen wegen Kriegsdienstverweigerung oder Desertion, selbst wenn sie von weltanschaulich totalitären Staaten ausgehen, nicht schon für sich allein eine politische Verfolgung dar. In eine solche schlagen derartige Maßnahmen erst dann um, wenn sie zielgerichtet gegenüber bestimmten Personen eingesetzt werden, um diese wegen ihrer Religionszugehörigkeit, politischen Überzeugung oder eines sonstigen asylrelevanten Merkmals zu sanktionieren oder einzuschüchtern. Die Strafverfolgung von Wehrdienstflüchtigen und Wehrdienstverweigerern in der Türkei dient allein der Ahndung eines Verstoßes gegen eine allgemeine bürgerliche Pflicht.

Auch unter Berücksichtigung des weiten Schutzbereichs des § 60 Abs. 1 AufenthG droht dem Kläger bei einer Rückkehr in die Türkei keine Verfolgung im Sinne der genannten Vorschrift. Ob die Entscheidung, den Wehrdienst oder Kriegsdienst zu verweigern, für die Würde des Menschen so grundlegend ist, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf die damit verbundene Überzeugung zu verzichten, kann dahinstehen. Insofern wäre zu berücksichtigen, dass der Schutz der Gewissensfreiheit in Art. 9 EMRK das Recht auf Wehrdienstverweigerung nicht umfasst.

Jedenfalls ist aber der zur Auslegung des § 60 Abs. 1 AufenthG heranzuziehenden Qualifikationsrichtlinie zu entnehmen, dass die Kriegsdienstverweigerung als solche nicht zur Anerkennung als Flüchtling führt. Denn Art. 9 Abs. 2 Buchst. e) der Richtlinie bestimmt, dass als "Verfolgungshandlung" i.S.d. Richtlinie unter Umständen zwar auch die Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt anzusehen ist; allerdings gilt dies nur, "wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter die Ausschlussklauseln des Art. 12 Abs. 2 fallen?. Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie wiederum erfasst Verbrechen gegen den Frieden und gegen die Menschlichkeit, schwere nicht politische Straftaten sowie Handlungen, die den Grundsätzen der Vereinten Nationalen zuwiderlaufen. Anhaltspunkte dafür, dass bei Ableistung des Wehrdienstes in der Türkei derartige Handlungen vom Kläger verlangt würden, sind nicht ersichtlich.

Der Kläger hat Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 5 AufenthG, weil er als Kriegsdienstverweigerer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt wäre.

Das Gericht ist nach dem Eindruck, den es in der mündlichen Verhandlung von dem Kläger gewonnen hat und angesichts seines Vorbringens davon überzeugt, dass der Kläger aufgrund seiner familiären Erziehung und persönlichen Überzeugung den Wehr- bzw. Kriegsdienst, der von ihm verlangen könnte, in einer Kriegshandlung einen anderen Menschen zu töten, mit seinem Gewissen nicht vereinbaren kann. Das Gericht hat im Laufe der mündlichen Verhandlung durch das Auftreten und die Schilderungen des Klägers den Eindruck einer zutiefst pazifistischen Einstellung des Klägers gewonnen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass der Kläger im Fall seiner tatsächlichen Einberufung zum Wehrdienst seiner Überzeugung treu bleiben und sich den daraus resultierenden Konsequenzen stellen wird.

Es besteht die konkrete Gefahr, dass der Kläger unmittelbar bei seiner Einreise am Flughafen oder zumindest innerhalb weniger Tage danach von den türkischen Sicherheitskräften wegen Wehrdienstentziehung belangt und in Haft genommen wird. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes haben Wehrdienstflüchtige schon bei der Einreise damit zu rechnen, gemustert und ggf. einberufen zu werden. Da der Kläger zur Überzeugung des Gerichts bei seiner drohenden Einberufung aus Gewissensgründen den Wehrdienst verweigern wird, sieht er sich aufgrund der geltenden Rechtslage in der Türkei einer endlosen Serie von Anklagen und Verurteilungen wegen "Befehlsverweigerung" ausgesetzt, die letztlich nur dazu führen sollen, seinen Widerstand und seinen Willen zu brechen (vgl. EGMR, Urt. v. 24.1.2006 [Ülke gegen Türkei] 39437/98, al. 60/61). Insoweit berichtet Oberdiek in seinem Gutachten für die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Türkei - zur aktuellen Situation - Okt. 2007) von mehreren inhaftierten Kriegsdienstverweigerern in der Türkei, die wiederholt wegen Befehlsverweigerung verhaftet und verurteilt wurden. Danach hat der militärische Kassationsgerichtshof wiederholt entschieden, dass Mehrfach-Bestrafungen im Einklang mit der Verfassung stehen. Vor demselben Hintergrund hat der EGMR im Fall Ülke ausgesprochen, dass die ständige Bedrohung mit weiterer Haft und der Zwang, versteckt leben zu müssen ("Ziviler Tod"), als eine erniedrigende Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK zu bewerten sei. Zudem ist es trotz der Reformbestrebungen in der Türkei auch nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes nicht gelungen Folter und Misshandlung vollständig zu unterbinden, was auf eine nicht ausreichend effiziente Strafverfolgung der Täter zurückgeführt wird. Auch wurden die Hälfte aller Foltervorwürfe im Jahr 2006 in türkischen Haftanstalten aus Militärhaftanstalten berichtet. Dies bestätigen auch die vom Kläger vorgelegten Presseberichte über Folter und mysteriöse Todesfälle von Soldaten beim türkischen Militär in den Jahren von 2004 bis 2007.

Urteil des VG Dresden vom 5. Mai 2008, AZ A 4 K 36065/05. Auszüge. Das Urteil ist rechtskräftig. Übermittelt von Rechtsanwalt Thomas Moritz. Der Beitrag erschien in: Connection e.V. und AG "KDV im Krieg" (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Juli 2008.

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