Beste Gelegenheit zum Sterben
Bericht über die Szenische Lesung zu Militärstreik und Desertion im I. Weltkrieg
(26.10.2018) Kriegsdienstverweigerung war jahrzehntelang ein zentrales Thema der DFG-VK, trat aber spätestens nach der Aussetzung der Wehrpflicht 2011 in den Hintergrund. Seit in diesem Sommer nicht nur von CDU-Politikern eine Wiedereinführung der Wehrpflicht gefordert wurde, ist es notwendig, dass wir Kriegsdienstverweigerung wieder verstärkt ins öffentliche Bewusstsein rücken. Hilfreich kann dabei auch ein Blick zurück sein. Mit ihrem Programm „Krieg? Ohne Uns! - Szenische Lesung zu Desertion und Militärstreik im Ersten Weltkrieg“ rufen Rudi Friedrich und der Gitarrist Talib Richard Vogl sehr eindringlich anhand von vier Einzelschicksalen Desertion und Verweigerung am Ende des I. Weltkriegs in Erinnerung.
Von ihnen heute sicher noch am Bekanntesten: Ernst Toller, nach dem Krieg ein führender Kopf der Münchner Räterepublik. Vor dem Krieg studierte er in Frankreich und ging trotzdem als Freiwilliger zur Artillerie, wurde später ausgemustert, aber wegen seiner Antikriegsaktivitäten erneut einberufen. Endgültig aus dem Militär entlassen wurde er nach der Einweisung in die Psychiatrie. Verarbeitet hat Toller seine Erlebnisse in dem Buch „Eine Jugend in Deutschland“, immer noch ein sehr fesselnder und lesenswerter autobiografischer Bericht mit dem Fazit: „Der Krieg ließ mich zum Kriegsgegner werden“ (S. 74).
Dominik Richert, Landwirt aus dem Elsass, war Frontsoldat während des gesamten Krieges. Er desertierte im Juli 1918 an der Westfront. Seine Kriegserinnerungen wurden erst Mitte der 80er Jahre entdeckt und 1989 unter dem Titel „Beste Gelegenheit zum Sterben“ veröffentlicht. Er beschreibt in seinen Aufzeichnungen ungeschönt die Kriegsgräuel, den massenhaften, sinnlosen Tod, den Hunger und die Entbehrungen. Die von Talib Richard Vogl vorgetragenen Passagen gehören zu den eindringlichsten des Abends.1
Richard Stumpf, Zinngießer aus Nürnberg, war Marinesoldat und beteiligt an den Aufständen in Wilhelmshaven im Jahr 1918. Seine Tagebucherinnerungen erschienen gekürzt in den 1920er Jahren, eine ungekürzte Fassung nur auf englisch 1969 in den USA.
Letzter Protagonist in der Lesung ist der Schriftsteller, Lehrer und Naturliebhaber Wilhelm Lehmann. Er desertierte bereits beim ersten Fronteinsatz. Seine Kriegserlebnisse schilderte er in dem Roman „Der Überläufer“, der wohl ersten positiven Schilderung einer Desertion in der deutschen Literatur. Eine gekürzte Fassung ist 2014 im Donat-Verlag erschienen und noch lieferbar.
Die sehr gelungene Textauswahl und die sparsamen, aber wirkungsvollen, Requisiten machen das brutale, stumpfsinnige und gänzlich unheorische Soldatenleben im ersten Weltkrieg sehr lebendig. Rudi Friedrich und Talib Richard Vogl gelingt es mit ihrer hervorragenden Interpretation der Texte, den eindringlichen lautpoetischen Klangexperimenten und der musikalischen Unterstreichung mit Trompete, Gitarre und Trommel eine beeindruckende Inszenierung. Nicht zu vergessen die zeitgenössischen Lieder, Märsche und Gedichte, die außerdem zu dem aufschlussreichen Blick auf die damalige Zeit beitrugen. Sehr gelungen auch die Auswahl und verdichtete Bearbeitung der vorgestellten Texte und der verzweifelt schwarze Humor („Beste Gelegenheit zum Sterben“). Die Erfahrungen des Ersten Weltkrieges zeigen, dass Kriegsdienstverweigerer und Deserteure Unterstützung und Schutz vor dem Zugriff der kriegführenden Parteien brauchen: eine Verpflichtung für uns bis heute. Das Programm regt unweigerlich zur Weiterbeschäftigung mit den vorgestellten Schicksalen, Kriegsdienstverweigerung und Desertion an.
Rudi Friedrich ist Mitarbeiter von Connection e.V. in Offenbach, einem Verein, der seit Jahren Kriegsdienstverweigerer und Deserteuren weltweit unterstützt. Mit diesem Programm zeigt er seine künstlerische Begabung zum ersten Mal einem größeren Publikum. Talib Richard Vogl hat Gitarre studiert und eine Ausbildung zur Sprecherziehung und Stimmbildung. Rollenpräsenz und der für die jeweilige Rolle charakteristische Vortragstil trugen zu der rundum gelungenen Premiere in Karlsruhe bei, der eine hoffentlich noch erfolgreiche Tournee mit vielen weiteren Auftritten folgt.
1 Der Bayerische Rundfunk produzierte 1992 einen Film über das Schicksal von Dominik Richert: https://www.youtube.com/watch?v=82jYf9WgfJw&feature=youtu.be
Stefan Lau: Beste Gelegenheit zum Sterben. 26. Oktober 2018. Der Text erscheint in der ZivilCourage 6/2018, Das Magazin für Pazifismus und Antimilitarismus
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