"Jeder Soldat hat die Möglichkeit, seine Waffe niederzulegen"
Redebeitrag aus Anlass der Verleihung des Friedrich-Siegmund-Schultze Förderpreises an MCN
(24.09.2008) Sehr geehrte Damen und Herren,
Liebe Freundinnen und Freunde,
es ist für mich eine Ehre heute im Namen des Military Counseling Network den Friedrich-Siegmund-Schultze-Förderpreis für gewaltfreies Handeln anzunehmen.
Unsere Friedensarbeit besteht darin, amerikanischen Soldaten zu helfen. Manche finden das seltsam. Ja, nicht wenige friedensbewegte Menschen sehen Soldaten und gar tatsächlich in einem Krieg kämpfende Soldaten als ihre natürlichen Feinde an. Sie machen Krieg; wir machen Frieden. Was sollen wir überhaupt mit ihnen zu tun haben? Diese Vorstellung ist zwar verständlich, aber: Muss das so sein? Ist es richtig so?
Als christliche Friedensmenschen folgen wir dem Beispiel Jesu. Er lehrte und lebte eine revolutionäre Idee. Kein Mensch ist so weit weg, dass er uns nicht nahe bleibt. Er bleibt unser Nächster. Weil Gott ihm nahe bleibt. Weil Gott Mensch geworden ist. Kein Mensch ist so entstellt, dass er nicht eine Verwandlung erfahren könnte. Jeder kann sich zum Guten wenden. Denn in jedem ist noch ein Funke Gottes vorhanden, der ihn nach seinem Bild geschaffen hat. Für Jesus war es egal, ob Menschen Prostituierte, Diebe oder römische Soldaten waren.
Kann das auch heute noch geschehen? Geschieht es heute noch? US-Soldaten sind Berufssoldaten. Sie haben sich freiwillig gemeldet. Können wir uns vorstellen, dass solche Soldaten ihre Waffen niederlegen?
Im Frühjahr 2003, also vor etwas mehr als fünf Jahren und kurz vor dem Einmarsch der USA samt ihrer Koalition der Willigen trafen sich Vertreter von vier Organisationen. Sie konnten und wollten sich vorstellen, dass GIs umkehren und die Waffen niederlegen. Sie hatten das im Golfkrieg 1990/91 schon erlebt und damals schon die Beratung von US-Soldaten unterstützt. In Erwartung des kommenden Krieges, und als Antwort darauf, gründeten sie das Military Counseling Network (MCN). Federführend wurde dann das Deutsche Mennonitische Friedenskomitee, in dessen Büroräumen dann auch MCN Raum fand.
Wie gesagt, es gab schon Erfahrungen mit der Beratung von Soldaten, auch aus dem Vietnamkrieg. Und es gab eine friedenskirchlich mennonitische Tradition des Einsatzes für das Recht auf Kriegsdienstverweigerung. Und so wurden einige junge amerikanische Mennoniten, die keine Ahnung hatten von militärischen Strukturen, zu Experten in militärischem Recht und Kasernenkultur. Sie wurden Zeugen, wie Soldaten sich verwandeln. Sie lernten GIs kennen, die nichts mehr mit dem Militär zu tun haben wollen; die sich weigern weiter mitzumachen und lieber ins Gefängnis gehen, als weiter Krieg zu führen. Es waren die Erfahrungen im Kriegsgebiet, durch die sie sich veränderten. Tote Zivilisten zu sehen, selbst angeschossen zu werden oder jemand anderen zu erschießen, einen guten Freund sterben zu sehen: Das verändert einen Mensch.
Einer der Soldaten, mit dem wir arbeiteten, war Clif Hicks. Er war 2003 ins Militär eingetreten. Er hielt das für richtig. Er wollte sein Land verteidigen. Er wollte Geld verdienen und sein Leben verbessern. Er wollte unbedingt im Irak kämpfen. Für ihn gab es eine klare Verbindung zwischen zwei Dingen. Er wollte Gott dienen und er wollte seinem Land dienen. Es gab aber drei Ereignisse im Irak, die ihn verwandelten.
Der erste Anlass kam eines Tages, als seine Panzereinheit aus der Basis herausfuhr. Er sah einen toten Zivilisten, der von einem Panzer überfahren worden war. Es war unmittelbar außerhalb der Basis geschehen. Es hatte in letzter Zeit keinen Anschlag gegeben. Clif traf die Erkenntnis, jemand - ein anderer Soldat - habe diesen Menschen einfach so überfahren.
Der zweite Anlass ereignete sich, als Clifs Einheit nach einem US-Bombardement in ein Dorf reinfuhr. Viele waren schon tot, aber Clif fand die, die noch lebten, viel schwieriger anzusehen. Ein schreiendes Mädchen berührte Clif am meisten. Sie war nur am Bein verletzt, und Clif wusste, dass sie überleben würde, aber er konnte ihre Stimme nicht mehr aus seinem Kopf wegkriegen.
Ein paar Wochen danach erschoss Clif einen irakischen Gegner. Der schoss zuerst auf ihn. Als Soldat reagierte Clif genau richtig. Er tat genau das, was ihm beigebracht wurde, aber er wusste sofort, dass er damit nicht mehr weiter machen konnte.
Damals wusste er nicht, dass es die Möglichkeit gab, legal aus dem Militär auszusteigen. Er wusste nur, dass er nicht mehr mitmachen konnte. Er weigerte sich einfach aus der Basis rauszugehen und nahm kurz danach mit MCN Kontakt auf. Wir erzählten ihm, was er für Möglichkeiten hatte, und er entschloss sich, einen Antrag zur Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen zu stellen. Ein amerikanischer Soldat, der freiwillig in den Irak gegangen war, wurde Kriegsdienstverweigerer.
Seit 2003, als MCN gegründet wurde, haben sich viele in dieser Beratungsarbeit eingesetzt und solche Verwandlungserfahrungen verfolgen können. David Stutzman, Reuben Miller, Jared Diener, Dominique Burgunder-Johnson, Tim Huber, Daniel Hershberger und in den letzten drei Jahren auch ich. Wir beraten etwa 100 Soldaten im Jahr. Clif ist nur ein Beispiel. Alle möglichen Leute treten in die Armee ein, aus allen möglichen Gründen. Einige wollen ihr Land verteidigen, andere wollen nur einen festen Arbeitsplatz oder brauchen Geld fürs College. Einige wollen den Terrorismus bekämpfen und für einige gehört das Militär einfach zur Familientradition. Aber aus welchem Grund auch immer sie ins Militär eintreten, viele merken irgendwann, sie haben eine falsche Entscheidung getroffen.
Aus unserer Arbeit wissen wir, dass jeder Soldat, ob er sich freiwillig gemeldet hat oder nicht, die Möglichkeit hat, seine Waffe niederzulegen. Wir sind Zeugen solcher Verwandlungen. In unserer Arbeit wollen wir ihnen helfen, dass ihre innere Verwandlung auch äußerlich sichtbar und lebbar werden kann. Sie haben es verdient.
Michael J. Sharp: Redebeitrag zur Verleihung des Friedrich-Siegmund-Schultze-Förderpreises für gewaltfreies Handeln an das Military Counseling Network und das Dorf der Freundschaft e.V.. 24 September 2008. Der Beitrag erschien im Rundbrief »KDV im Krieg«, November 2008.
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