Plakat zum Internationalen Menschenrechtstag

Plakat zum Internationalen Menschenrechtstag

„Im Grunde hatte ich gar keine Idee, was da draußen passierte“

Interview mit David Veloso aus Chile

Der jetzt vom Obersten Gerichtshof aus der Haft entlassene Soldat war 2017 ins Militär eingetreten. Er möchte nun eine Laufbahn im technischen Bergbau anstreben.

„Ich fing an darüber nachzudenken: Das musst du nicht tun, das bin nicht ich. Und daher traf ich meine Entscheidung. Ich dachte aber nicht daran, was danach passieren könnte und auch passiert ist.“

„Ich rufe die Jugendlichen zum Dialog und zu friedlichen Protesten auf. Rauszugehen und Menschen Unrecht anzutun, das kann nicht das Ziel sein, denn wir sind das gleiche Volk. Ich komme aus einfachen Verhältnissen und das macht mich aus.“

„Ich bin ganz ruhig und nutze die Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden. Auch die Nachbarn haben meine Entscheidung akzeptiert und gut aufgenommen.“

Man braucht Charakterstärke, um nach vorne zu treten und den Autoritäten zu sagen: ‚Ich komme nicht mit‘, sagt der 21-jährige David Veloso Codocedo. Der Soldat war 19 Tage in Untersuchungshaft, weil er sich dem Befehl zur Verlegung seiner Einheit nach Santiago widersetzte. Dieser Befehl wurde aufgrund des Ausnahmezustandes und der sozialen Proteste ausgesprochen. Die Proteste in Chile halten noch an.

Die Weigerung, den Anordnungen seiner Vorgesetzten Folge zu leisten, hatte ein Verfahren wegen Befehlsverweigerung nach Artikel 337 Abs. 3 des Militärstrafgesetzbuches zur Folge.

Auch wenn das Verfahren noch anhängig ist, so hat der Oberste Gerichtshof am Donnerstag dem Widerspruch zur Inhaftierung des Soldaten stattgegeben und dessen Freilassung angeordnet. Mit dieser Entscheidung wird aber nur der Beschluss des Militärgerichts vom 25. Oktober hinsichtlich der Haftanordnung widerrufen.

Am Morgen des 20. Oktober wurde aufgrund der Ausschreitungen in der Hauptstadt die erste Division des Heeres in Bereitschaft versetzt und eine Verlegung nach Santiago angeordnet, um dort die Sicherheit zu gewährleisten.

Zunächst hatte der Beschuldigte der Anordnung freiwillig Folge geleistet. Dann entschied er sich jedoch, seine Bereitschaft zu widerrufen.

Was bewegte ihn dazu, seine Meinung zu ändern?

„Es war der Moment, als ich die Munition sah und begann, darüber nachzudenken, was damit alles angerichtet werden kann, was passieren kann“, erklärt der nun aus der Haft entlassene Soldat in einem Rechtsanwaltsbüro, das seine Verteidigung übernahm. Dem Büro gehört auch der Anwalt Jaime Araya an. Einige Meter entfernt sind Unterstützer*innen zu hören, die ihn bei seinen ersten öffentlichen Auftritten begleiten, nachdem er am Donnerstagabend um 20.30 Uhr freigelassen wurde.

Was hat ihn veranlasst, sich der Anordnung zu widersetzen?

„Meine Familie, die auch an den Demonstrationen beteiligt war. So meine Großmutter, die nur eine Rente von 110.000 Peso erhält und von meiner Mutter und Tanten unterstützt werden muss. Es gibt eine große Ungerechtigkeit beim Gehalt, das mein Vater verdient. All diese sozialen Ungerechtigkeiten und die Werte, die mir meine Großeltern vermittelten, haben in mir eine innere Revolution ausgelöst und Gefühle hochkommen lassen, die mich dazu bewegten, NEIN zu sagen“, führt er aus.

Wie lange dauerte es, die Entscheidung zur Befehlsverweigerung zu treffen?

„Das war von einem Augenblick auf den anderen. Ich schaute nach oben, reflektierte, was noch geschehen könnte und traf meine Entscheidung.“

Veloso, Kind einer Mutter, die Hausbesitzerin ist, und eines Hafenarbeiters aus Antofagasta – er ist der Zweitgeborene von drei Brüdern – erscheint erwachsen und sehr ruhig angesichts der Szenarien, die sich aus seiner Handlung ergeben können.

Der ehemalige Schüler der Polytechnischen Schule A16 in Antofagasta kommentiert, dass er unter guten Haftbedingungen einsaß. „Im Grunde hatte ich keine Ahnung, was da draußen passierte. Am vierten Tag beantragte ich einen Fernseher, den ich auch bekam. Da konnte ich zum ersten Mal verfolgen, was draußen passierte. (…) Sie haben mich gut behandelt, das kann ich zu 100% sagten. Um was ich bitten durfte, habe ich erhalten. Mir wurden auch Besuche meiner Familie gestattet“, führt er aus.

„Jetzt bin ich ruhig und nutze die Zeit mit Freunden, Familie und Nachbarn, die mich und meine Entscheidung sehr gut aufgenommen haben“, sagt Veloso, der nunmehr nach den neuen Entwicklungen in seinem Leben eine Karriere im Bergbauinstitut der Stadt aufnehmen will.

Seit 2017 war er in der Armee. Innerhalb des Militärs konnte er seine Mittlere Reife abschließen. „Im Anschluss an meinen Militärdienst habe ich mich als Berufssoldat verpflichtet und diente bis zum 20. Oktober. (…) Ich bin zum Militär gegangen, weil es mir gefiel, draußen zu sein. Die Leute im Militär sind eigentlich ganz in Ordnung“, sagt er.

Veloso hielt sich aber auch nicht zurück. Er hat soziale Widersprüche angesprochen. Er versteht die Menschen, die auf die Straße gehen, um auf die sozialen Probleme aufmerksam zu machen. „Man muss friedliche Formen des Protestes suchen, ohne alles zu zerstören oder zu plündern. Angebracht sind Demonstrationen mit Musik, um zu protestieren und die Aufmerksamkeit der Regierung auf die Probleme des Volkes zu lenken.“

„Wenn wir rausgehen, alles zerstören und Menschen berauben, schaden wir den eigenen Leuten. Es geht nicht, dass Menschen, die einen kleinen Kiosk betreiben, beraubt werden. Denen geht es genauso wie uns. Damit schaden wir uns nur selbst“, ergänzt er.

Claudio Cerda Santander: Soldado objetor de Antofagasta: „Al principio no tenía idea de lo que estaba pasando afuera”. El Mercurio (Chile), 9. November 2019. Übersetzung: D. Gendera. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2020

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