Ukraine: Aktuelles zu Wehrpflicht und Rekrutierung
(14.02.2020) Im September 2019 übergaben die Militärkommissariate von Kiew der Polizei 34.930 Fälle von Militärdienstentziehern. Das Militärkommissariat des Bezirks Lviv berichtete, dass sich zwei Drittel der Wehrpflichtigen nicht bei den Einberufungsbehörden gemeldet hätten, so dass die Polizei beauftragt worden sei, nach ihnen zu suchen. In den Zeiten der Einberufungskampagnen ist es üblich (und teilweise auch legal), dass die Polizei auf den Straßen Jagd nach Wehrpflichtigen macht, um sie zu entführen und gegen ihren Willen zu Sammelpunkten des Militärs zu bringen. Beamte der Militärkommissariate, die die Einberufungen durchführen, erhalten oft Bestechungsgelder. Manchmal waren sie auch mit aufgebrachten Zivilpersonen konfrontiert.
Die UN-Human Rights Monitoring Mission in Ukraine (UN-Mission zur Überwachung der Menschenrechte in der Ukraine) dokumentierte zwischen Mai und August 2019 elf Fälle willkürlicher Inhaftierung von Wehrpflichtigen durch Vertreter der Militärkommissariate, die nicht das Recht haben, Personen festzunehmen.1 Zum Beispiel wurde Yehor Patamanov von Polizei und Militärkommissariat bei einer Razzia auf einer Straße seiner Stadt entführt. Er war dabei, gemeinsam mit seinem Bruder, seinen kranken Vater ins Krankenhaus zu bringen. Yehor Potamanov protestierte gegen die Entführung, trat in einen einwöchigen Hungerstreik und weigerte sich, den militärischen Eid zu leisten.
Nach Angaben von Lmytro Tyshchenko, dem Bruder von Yehor Potamanov, wurden in diesem Sommer Hunderte von Wehrpflichtigen auf die gleiche Art und Weise in den Straßen von Charkiw entführt. Drei von ihnen schnitten sich ihre Pulsadern auf und einer erhängte sich in dem verzweifelten Versuch, aus psychischen Gründen ausgemustert zu werden. Aufforderungen von Wehrpflichtigen, ihre Verwandten treffen zu können, wurden verweigert, da die Behörden versuchten, Blutergüsse und Verletzungen zu verheimlichen, die durch gewaltsame Transporte zum Militärkommissariat verursacht worden sind. Die Polizei versäumte es, eine wirksame strafrechtliche Untersuchung der Entführungen, unmenschlichen Behandlungen und des Machtmissbrauchs bei der sogenannten „Jagd auf Wehrpflichtige“ durchzuführen.
Nach offiziellen Statistiken wurden 2018 insgesamt 228 Militärdienstentzieher durch Gerichte verurteilt. Zwölf von ihnen wurden inhaftiert, 207 wurden zu Bewährungsstrafen verurteilt, zumeist mit einer Freiheitsstrafe von ein oder zwei Jahren. Gegen 108 Personen, die sich der Meldung oder Einbestellung entzogen hatten, wurden Geldstrafen ausgesprochen.
Soldaten, die eine Kriegsdienstverweigerung entwickeln, haben keine rechtliche Möglichkeit zur Anerkennung der Verweigerung. Eine von ihnen gewünschte Entlassung aus dem Militärdienst ist in aller Regel nicht möglich. Dies gilt auch für Wehrpflichtige, die gegen ihren Willen zum Militär überstellt werden. Im Jahr 2018 gab es 2.490 Verurteilungen wegen unbefugten Verlassens der Militäreinheit oder Desertion, die normalerweise mit zwei bis fünf Jahren Haft bei Entlassung auf Bewährung geahndet werden. 193 Personen kamen jedoch ins Gefängnis, 128 wurden verhaftet und elf Personen wurden in ein Bewährungsbataillon überstellt. Außerdem wurde eine Person verhaftet und zwei erhielten Bewährungsstrafen wegen Selbstverstümmelung zur Vermeidung der Ableistung des Militärdienstes. In den ukrainischen Streitkräften haben seit Beginn des Krieges im Donbass wöchentlich zwei bis drei Soldaten Selbstmord begangen. Die Medien berichteten von mehreren Selbstmordfällen. In Kiew und Ternopil töteten sich Wehrpflichtige, indem sie aus den Fenstern des Militärkommissariats sprangen.
Insbesondere während der Einberufungskampagnen im Frühjahr und Herbst 2019 gab es viele Anzeichen von Machtmissbrauch durch die Militärkommissariate, wie die UN-Human Rights Monitoring Mission feststellte. Über den Fall Potamanov in Charkiw, die Inhaftierung von Wehrpflichtigen im Bezirk Rivne und die Jagd auf Wehrpflichtige auf den Straßen wurde ausführlich in den Medien berichtet.
Verteidigungsminister Andriy Zahorodniuk erklärte, die Aufhebung der Wehrpflicht sei Politik des Staates und sein persönliches Ziel. Dies werde aber nicht schnell geschehen.
Am 29. August 2019 protestierte die Ukrainische Pazifistische Bewegung vor dem Werchowna Rada (Parlament) und dem Präsidialamt in Kiew und forderte ein Ende der grausamen „Jagd auf Wehrpflichtige“ und die Abschaffung der Wehrpflicht. Eine Petition an den Präsidenten Zelenskij, mit dem die Abschaffung der Wehrpflicht gefordert wird, erhielt 10.000 Unterschriften.
1 Human Rights Council: Report on the human rights situation in Ukraine, 16 May to 15 August 2019. A/HRC/42/CRP.7. 24. September 2019
European Bureau of Conscientious Objection: Annual Report - Conscientious Objection to Military Service in Europe 2019. 14. Februar 2020. Auszüge zur Ukraine. Übersetzung: rf. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2020
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