Netiwit Chotiphatphaisal

Netiwit Chotiphatphaisal

Kriegsdienstverweigerung in Thailand

von Adam Bemma

(06.07.2019) Jedes Jahr im April startet Thailand seine Einberufungslotterie, um thailändische Männer ab 21 Jahren zum Militärdienst einzuziehen. Die jungen Männer stellen sich an, um einen Streifen Papier zu ziehen; ein roter Streifen bedeutet zwei Jahre Dienst ableisten zu müssen, ein schwarzer Streifen zeigt eine Befreiung an. Wer sich schon vorab freiwillig meldet, bleibt bei diesem Ritual außen vor und muss nur einen sechsmonatigen Dienst ableisten.

Obwohl laut Militärgesetz von 1954 alle thailändischen Männer im Alter von 21 Jahren zum Militärdienst verpflichtet sind, gibt es Ausnahmen. Die Ausnahmeregelungen haben Vorwürfe der Privilegierung und Ungerechtigkeit ausgelöst. Einige bringen vor, dass die Zeit des Militärdienstes entweder drastisch gesenkt oder die Wehrpflicht ganz abgeschafft werden sollte.

Pflicht gegenüber Nation, Religion und König

Einer kürzlich durchgeführten Umfrage zufolge glauben viele Thailänder, dass sie immer noch verpflichtet sind, im Militär zu dienen für die Nation, Religion und den König. Militärische Parolen sind in Schulbüchern präsent. Im Fernsehen oder Kino werden Soldaten oft positiv gezeichnet. Aber diese zutiefst konservative Institution sieht sich politischen Herausforderungen ausgesetzt, da sich die politische Szene verändert und entwickelt. Zum ersten Mal brachten verschiedene politische Parteien im Wahlkampf im März 2019 das Ende der Wehrpflicht ein. „Unser wichtigstes Ziel ist es, die Armee so klein wie möglich zu halten, dabei aber effektiv und effizient. Wir haben sie mit Armeen der Nachbarstaaten verglichen und fanden heraus, dass die thailändische Armee im Vergleich zu den anderen die größte ist“, sagt Sunisa Diwakorndamrong, ehemalige Offizierin der Königlichen Streitkräfte und Sekretärin des Militärreformausschusses der Partei Pheu Thai.

Angesichts dessen, dass das thailändische Militär seit Beginn der konstitutionellen Monarchie 1932 in zwölf Staatsstreichen die Macht ergriffen hat, ist die Ablehnung der Wehrpflicht alles andere als unpolitisch. Vor der Wahl legte General Prayuth Chan-ocha – der als Premierminister für die Regierung der Militärjunta gedient hatte – seine Streifen ab, um sich unter dem Banner der Partei Phalang Prachrarath zur Wahl zu stellen. Die Partei gewann, so dass Prayouth Premierminister bleibt. Es ist daher im Interesse aller anderen Parteien, Reformen einzufordern, die die Macht des Militärs kontrollieren können.

Ein Beispiel dafür ist die Partei Pheu Thai, die bei der Wahl 2019 die meisten Sitze gewonnen hat. Sie wird unterstützt von dem im Exil lebenden und doch einflussreichen ehemaligen Premierminister Thaksin Shinawatra. „Das von der Partei Pheu Thai unterstützte Konzept sieht vor, dass die Größe der thailändischen Armee neu gefasst wird“, sagt Sunisa. Das wird wahrscheinlich nicht sehr bald passieren. Die neue thailändische Regierung wird weiterhin von Mitgliedern der Militärjunta geführt, die in das Unterhaus gewählt wurden, während die 250 Senator*innen gemäß der Verfassung von 2017 von der Junta ausgesucht werden. Vorschläge wie die von der Partei Pheu Thai bedeuten jedoch, dass das Thema der Wehrpflicht nun Teil der öffentlichen Debatte ist.

Thailands militärische Macht – und wie man ihr entgeht

Thailands Armee hat eine Personalstärke von etwa 440.000. Im Vergleich zu europäischen Ländern mit ähnlicher Bevölkerungszahl, wie Großbritannien und Frankreich, scheint das Militär in Thailand unverhältnismäßig groß zu sein, zumal die einzige Bedrohung ein Aufstand in den „tief im Süden“ gelegenen Staaten Pattani, Yala und Narathiwat ist. Nach Angaben von Global Firepower lag Thailand bezüglich der Personalstärke 2019 weltweit auf Platz 26.

Sunisa möchte, dass Wehrpflichtige durch Freiwillige ersetzt werden. Da thailändische Frauen nicht wehrpflichtig sind, meldete sie sich freiwillig zum Militär und blieb zehn Jahre im Dienst. Sie erreichte den Rang eines Leutnants, bevor sie in den Ruhestand ging und der Partei Pheu Thai beitrat. „Gegenwärtig berufen die thailändischen Streitkräfte jedes Jahr etwa 104.000 Wehrpflichtige ein. Wenn die Größe der Armee um 50% reduziert werden würde, entspräche die Zahl der Einzuberufenen der Zahl der Freiwilligen, die sich jedes Jahr melden“, sagt Sunisa.

Es gibt bereits verschiedene Möglichkeiten, sich der Einberufung zu entziehen. Klar, es gibt die Möglichkeit, bei der Lotterie einen schwarzen Streifen zu ziehen, aber da gibt es noch mehr.

Wer noch in der Ausbildung ist, kann sich bis zum Alter von 26 Jahren zurückstellen lassen. Dann muss ein Dienst abgeleistet werden oder es droht Gefängnis.

Eine Zurückstellung ist auch möglich, wenn man als Novize in ein Kloster eintritt. Eine vollständige Befreiung erfolgt jedoch nur dann, wenn man tatsächlich Mitglied des buddhistischen Ordens wird. Es wird angenommen, so das Dokument The Military Draft in Thailand, eine politikwissenschaftliche Untersuchung aus einer gewaltfreien globalen Perspektive, dass viele thailändische Männer im Kloster Zuflucht gesucht hätten, um dem Militär zu entkommen.

Es hilft auch reich zu sein. Nach Angaben der Untersuchung gibt es etwa 30.000 Militärdienstentzieher in Thailand, die meisten von ihnen sind Söhne wohlhabender Familien.

Laut CJ Hinke, einem der Autoren der Untersuchung, hat die thailändische Elite seit Beginn der Wehrpflicht im 18. Jahrhundert Schlupflöcher ausgenutzt, um sich ihr zu entziehen. Es ist üblich, einen Offizier zu bestechen, damit der Name des Wehrpflichtigen von der Liste gestrichen und mit einem anderen Namen ersetzt wird. Das ist illegal, aber es passiert.

Diese Praxis steht unter Beschuss. „Das ist korrupt, also muss ich dagegen protestieren“, sagt der Studentenführer Netiwit Chotiphatphaisal. „Wenn ich unter der Hand zahlen kann – mein Vater und viele andere haben das in der Vergangenheit so gemacht – ist das Korruption.“

Entmilitarisierung der thailändischen Gesellschaft

In den letzten drei Jahren hat sich der 23-jährige Netiwit zurückstellen lassen. Er ist Autor von I Can Love My Country Without Having to be Drafted, einem 88-seitigen Manifest, das von dem selben Herausgeber publiziert wurde, der auch die Werke des chinesischen Dissidenten Liu Xiaobo und das Traktat gegen Autoritarismus von Timothy Snyders in thailändischer Übersetzung hat drucken lassen. „Es gibt einen Überblick über die Geschichte der Wehrpflicht (in Thailand), sagte Netiwit zu seinem Buch. „Es beleuchtet das Thema aus kritischer feministischer und gewaltfreier Perspektive.“

Netiwit dokumentiert die Geschichte der Wehrpflicht in Thailand, beginnend mit dem Wehrpflichtgesetz von 1905. Dieses Edikt sollte die militärische Macht Thailands auf eine Höhe bringen mit den westlichen Nationen. Das System der Wehrpflicht wurde erst 1954 mit der Einführung der Einberufungslotterie modifiziert.

In den letzten zwei Jahren hat Netiwit mehr als die militärische Tradition Thailands in Frage gestellt. Als Präsident des Chulalongkorn-Studierendenrates weigerte er sich, vor der Statue des Königs Rama V. einen Kotau zu machen. Daraufhin wurde er aus dem Rat entfernt und öffentlich von Premierminister Prayuth gedemütigt.

Nach den Wahlergebnissen, die für das Lager der Demokratie in Thailand ungünstig waren, konzentriert sich Netiwit nun darauf, die Wehrpflicht zu überwinden. Er hofft, dass dies zur „Entmilitarisierung“ der thailändischen Gesellschaft beiträgt. „Ich werde ins Gefängnis gehen, wenn ich 26 Jahre alt werde, weil ich mich der Einberufung verweigern werde. Mir ist klar, dass dieses Land wie ein Gefängnis geworden ist, besonders für arme Menschen, die keine Möglichkeit haben, (vom Militärdienst) wegzulaufen“, sagt Netiwit gegenüber New Naratif. „Viele in der Regierung sind ehemalige Offiziere und setzen auf die Wehrpflicht. Ich muss da etwas tun.“

Ablehnung der Wehrpflicht

Netiwit ist einer von nur zwei thailändischen Kriegsdienstverweigerern, Personen, die den Militärdienst aus der Gedanken-, Gewissens- oder Religionsfreiheit heraus ablehnen. Innerhalb von Thailand ist seine Stimme die einzige, die die Wehrpflicht öffentlich ablehnt.

Puey Ungphakorn, thailändischer Ökonom und ehemaliger Leiter der Bank von Thailand, legte 1974 als erster dem thailändischen Parlament einen Vorschlag für die Kriegsdienstverweigerung vor. Er schlug auch einen nicht-militärischen Dienst als Ersatz für die Wehrpflicht vor. Beides wurde abgelehnt. „Als Parlamentarier brachte (Puey) die Idee der Kriegsdienstverweigerung auf. Er war nicht unbedingt gegen die Wehrpflicht, aber er hat die Kriegsdienstverweigerung als grundlegendes Menschenrecht gesehen“, sagt CJ Hinke, der auch das Buch Free Radicals: War Resisters in Prison schrieb.

Thailand hat das Internationale Abkommen über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) ratifiziert. Das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit und die Freiheit des Glaubens sind darin umrissen. Aber es bezieht sich nicht ausdrücklich auf die Kriegsdienstverweigerung.

2002 enthielt sich Thailand bei einer Abstimmung im Sicherheitsrat bei diesem Thema und unterzeichnete einen gemeinsamen Brief, in dem es erklärte, „die allgemeine Anwendbarkeit der Kriegsdienstverweigerung abzulehnen“. Nach Angaben von Amnesty International ist Thailand einer von 30 Mitgliedsstaaten der Vereinten Nationen, die trotz einer Wehrpflicht die Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennen.

Netiwits jüngster Neuzugang in seiner Anti-Wehrpflicht-Bewegung ist der 16-jährige Rew Worachit. Rew ist derzeit im Studienfach für territoriale Verteidigung eingeschrieben. Es ist ein Programm, das als Alternative zur Wehrpflicht abgeleistet werden kann, da diejenigen, die es abschließen, mit 21 Jahren von der Ableistung des Militärdienstes ausgenommen werden. Aber es umfasst Feld- und Waffenübungen und dauert fünf Jahre – drei davon sind im Ausbildungskorps für Reserveoffiziere abzuleisten. „Ich bin in der Schule im Militärprogramm. Ich muss nicht einberufen werden. Das ist eine Alternative für Schüler, die nicht den zweiten Bildungsgrad erreichen können“, sagt Rew.

Netiwit unterstützt dieses Programm nicht und sieht es als Versuch an, thailändischen Teenagern eine Karriere im Militär zu ermöglichen, ohne dass sie Angst vor der Wehrpflicht haben müssen.

Über Veränderungen nachdenken

Seit dem gescheiterten Versuch von Puey Ungphakorn im Parlament wurden keine konkreten Schritte mehr unternommen, um das System der Wehrpflicht zu reformieren, weder zur Reduzierung der Zahl der Einzuberufenden noch zur Einführung einer anderen Form eines Nationaldienstes neben dem Militärdienst. Aber thailändische Akademiker*innen diskutieren Alternativen.

Auch der Tod von Wehrpflichtigen hat weitere Überlegungen hervorgebracht. Nachdem der Soldat Worakitpan im Jahr 2017 aufgrund eines Herz-Kreislauf-Versagens zusammengebrochen ist, was eine polizeiliche Untersuchung zur Folge hatte, schrieben Siwach Sripokangkul und John Draper, Wissenschaftler an der Khon-Kaen Universität, die zum thailändischen Militär forschen, in einer Stellungnahme in der Bangkok Post, dass die Wehrpflicht geändert werden müsse, dass andere nicht-militärische Möglichkeiten untersucht werden müssen, um dem Land zu dienen. Sie argumentierten, dass ein „allgemeiner nationaler Dienst die Wirtschaft revolutionieren würde. Es würde auch die zivile Regierung fördern, die über dem Militär steht, ein Grundprinzip zur Entmilitarisierung Thailands und zur Festigung der thailändischen Demokratie.“

Der Tod eines 22-jährigen Freiwilligen im Mai 2019, der im Hauptquartier der Königlichen Streitkräfte in Bangkok diente, hat auch Sunisa dazu angeregt, sich für ein Ende der Wehrpflicht auszusprechen. Berichten zufolge wurde ein Militärgremium eingesetzt, das den Tod untersuchen soll. Aber Sunisa glaubt, dass das Militär, wie in der Vergangenheit, der Familie des verstorbenen Wehrpflichtigen keine Antworten geben wird, weil es den Tod als innere Angelegenheit ansieht. „Es ist schwer zu sagen, ob das ein allgegenwärtiges Problem ist oder nicht. Aber es geschieht immer wieder und wir müssen Untersuchungen darüber einfordern“, sagt Sunisa.

Netiwit hat sich mit dem vor 45 Jahren von Puey Ungphakorn gestarteten Versuch beschäftigt, die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung zu erreichen und eine Alternative zum Militärdienst vorzusehen. „Ich denke, dass Thailänder dem Land dienen sollten. Aber sie sollten die Wahl haben, wie sie es am Besten tun“, sagt Netiwit und schlägt daher einen Nationaldienst als bessere Option vor.

CJ Hinke ist hingegen mit einem Nationaldienst nicht einverstanden. „Ich denke, dass ein Ersatzdienst das Militär nur stärkt. Nur weil du nicht im Militär Dienst ableistest, heißt das in einem historischen Kontext nicht, dass nicht jemand anderes an deine Stelle tritt.“ Hinke argumentiert, dass dies nur funktioniert, wenn die Anerkennung der Kriegsdienstverweigerung begleitet ist von einem alternativen Dienst, gefolgt von der Abschaffung der Wehrpflicht. „Der springende Punkt bei der Kriegsdienstverweigerung ist das Gewissen. Jeder zieht an einem bestimmten Punkt die Grenze“, sagt Hinke. Er ergänzt mit Blick auf die Bewegung von Netiwit: „Du musst wählen, welche Kämpfe du aufnimmst und wissen, welche du gewinnen kannst. Wir können das gewinnen. Wir können die Wehrpflicht in Thailand beenden.“

Adam Bemma ist kanadischer Journalist und Berater für Medienentwicklung in Bangkok, Thailand

Adam Bemma in New Naratif: The Conscientious Objectors of Thailand, 6. Juli 2019. Übersetzung: rf. Quelle: https://newnaratif.com/journalism/the-conscientious-objectors-of-thailand/share/xuna/642f0ffa02e1a52c66e09344421903ff

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