Nagorny-Karabach, Foto: Timo Vogt

Nagorny-Karabach, Foto: Timo Vogt

Aserbaidschan: “Mit unseren Vorstellungen haben wir gezeigt, dass wir eine echte Opposition sind“

Interview mit einem Antikriegsaktivisten

(08.10.2020)  - Während der Krieg um Nagornij-Karabach weitergeht, ist die Zahl der Aserbaidschaner, die Frieden einfordern, sehr gering. Thomas Rowley sprach mit einem von ihnen, Bahruz Samadov.

In Aserbaidschan gibt es nur wenige Stimmen, die zum Frieden aufrufen. Seit Beginn der Kämpfe um Nagorny-Karabach am 27. September 2020 haben Beobachter*innen von Anbeginn eine große Unterstützung der aserbaidschanischen Gesellschaft für den Krieg gegen Armenien festgestellt. Die Verluste auf beiden Seiten waren hoch, auch wenn die Zahl der Soldaten und Zivilpersonen schwer zu überprüfen sind. UNICEF hat auf die Zahl der im Krieg verwundeten und getöteten Kinder aufmerksam gemacht und erklärt, dass eine „sofortige Einstellung der Kämpfe im höchsten Interesse jedes Kindes“ ist.

Am 30. September 2020 veröffentlichten 17 linke aserbaidschanische Aktivist*innen eine Antikriegserklärung, in der sie ein Ende des Krieges und die Wiederherstellung des Dialogs einforderten: „Wir verurteilen auf das Schärfste sämtliche Schritte, die den Konflikt verlängern und den Hass zwischen Armenier*innen und Aserbaidschaner*innen schüren. Wir wollen zurückblicken und die notwendigen Schritte unternehmen, um das Vertrauen zwischen unseren Gesellschaften und der Jugend wiederherzustellen. Wir weisen jede nationalistische und kriegsbefürwortende Erzählung zurück, weil sie verunmöglichen, dass wir auf diesem Boden wieder miteinander leben können. Wir rufen zu friedensfördernden und solidarischen Initiativen auf. Wir sind überzeugt, dass es einen anderen Ausweg aus dieser Pattsituation geben muss − einen, der auf gegenseitigem Respekt, der Orientierung auf Frieden und Zusammenarbeit basiert.“

Der Aktivist und Forscher Bahruz Samadov war einer der Unterzeichnenden. „Eine zersplitterte und gespaltene Gesellschaft wurde plötzlich durch die Macht militärischer Aktionen zusammengebracht“, schrieb er kürzlich in einer Kolumne in OC Media. „Die Regierung, die Opposition und die entpolitisierte Mehrheit vertreten jetzt dieselbe Herrschaftsauffassung, dass es eine nationale Pflicht sei, das verlorene Land zurückzuholen.“ Als Aktivist der Bürgerbewegung NIDA untersucht er derzeit an der Karls-Universität in Prag die autoritäre Verfassung und Entpolitisierung der Gesellschaft in Aserbaidschan.

openDemocracy sprach mit Samadov über die Antikriegsstimmen im Land, wie Karabach zum Hauptthema der Politisierung in Aserbaidschan wurde und über die Rolle der aserbaidschanischen Linken.

Drei Tage nach Kriegsbeginn veröffentlichten aserbaidschanische Linke eine Antikriegserklärung. Aserbaidschans wirklicher Feind seien „jene Menschen an der Macht, die seit mehr als zwei Jahrzehnten für ihren eigenen Vorteil die Ressourcen und die Bevölkerung unseres Landes ausgeplündert und in Armut zurückgelassen haben“. Welche Reaktionen erhieltet Ihr darauf, in Aserbaidschan, Armenien oder anderswo?

Dies war die erste Antikriegserklärung nach Kriegsbeginn. Sie wurde auf LeftEast veröffentlicht. Zwei Tage nach Kriegsbeginn hatten wir ein Gespräch mit linken Aktivist*innen, die sowohl in Aserbaidschan als auch im Ausland leben. Wir kamen sofort zu dem Schluss, dass wir uns gegen den Krieg aussprechen, das Bewusstsein dafür schärfen müssen, was dort passiert – nicht nur für die interne Öffentlichkeit im Kaukasus, sondern auch für alle anderen, die sich für die Region interessieren.

Für mich war es überraschend, wie viele Reaktionen wir erhielten, aus Armenien, Aserbaidschan und anderen Ländern. Vielleicht, weil es das erste Mal war? Danach gab es zwei weitere Erklärungen, nicht von Linken, sondern von einer Friedensinitiative.

Mit unseren Vorstellungen haben wir gezeigt, dass wir eine echte Opposition sind. Ich würde sogar sagen, wir sind im positiven Sinne eine radikale Opposition. Es ist eine Zeit, in der die aserbaidschanische Gesellschaft sich zusammenschließt. Die Regierung und die Opposition vertreten dieselbe Herrschaftsauffassung, und die Opposition unterstützt den Präsidenten und drückt ihre Bewunderung für ihn aus. In dieser Erklärung haben wir gezeigt, wer der wahre Feind ist: Die Menschen an der Macht und die Eliten, die seit Jahrzehnten die gleiche Legende benutzen und darüber die Bevölkerung entpolitisieren.

Kannst Du uns ein Beispiel der Reaktionen auf die Antikriegserklärung geben?

Sie wurde sowohl ins Türkische als auch ins Armenische übersetzt. Mich hat es erstaunt, auch die türkische Linke kommentierte sie trotz der Tatsache, dass es dort sehr unterschiedliche Positionen gibt. Aber das Interessanteste sah ich vor ein paar Tagen auf Twitter: „Schau, wie immer sind es die Linken, die uns verraten und nicht unser Volk repräsentieren“.

Gab es Unterstützung von Menschen aus Aserbaidschan?

Ich bekam viele Nachrichten von Freund*innen, die ihre Unterstützung zum Ausdruck brachten, dass sie sich auch der Erklärung anschließen und sie unterzeichnen möchten. Aber sie gehören dem gleichen Kreis von Menschen an, sie teilen progressive Werte, und es sind nur wenige, die ich alle persönlich kenne. Ich kann nicht sagen, dass wir Unterstützung von anderen Menschen erhalten haben. Wie Sie wissen, vertritt die Bevölkerung vor allem im Moment eine nationalistische Haltung. Wir haben deshalb keine Unterstützung innerhalb des Landes erwartet.

Du erwähnst andere Erklärungen, vor allem die Friedenserklärung der Caucasus Talks. Sie berichteten selbst, dass mehrere Personen aus Aserbaidschan, die diese Erklärung unterzeichnet haben, auf Facebook Drohungen erhalten haben.

Leider erhielten auch wir Drohungen auf Facebook. Jemand veröffentlichte unsere Namen und sagte, dass „wir sie finden müssen um sie zur Rechenschaft zu ziehen“. Das wird nicht vom Staat gefördert. Ich würde nicht sagen, dass der Staat derzeit daran interessiert ist, uns derzeit zur verfolgen. Aber in Aserbaidschan ist der extreme Nationalismus beherrschend, auch wenn ich nicht behaupten würde, dass alle Menschen ideologisch Extremist*innen sind. Sie haben einfach keinen Zugang zu Alternativen.

Zum jetzigen Zeitpunkt würde ich dies nicht als gefährlich einstufen, aber wir wissen nicht, was in zwei oder drei Tagen passieren wird.

Wie hat die aserbaidschanische Zivilgesellschaft Ihrer Meinung nach auf den Krieg reagiert?

Zwei Punkte. Zunächst kann ich wirklich nicht behaupten, dass es in der aserbaidschanischen Zivilgesellschaft eine Antikriegsstimmung gäbe. Gleichzeitig gibt es immer weniger nicht feindselig eingestellte Menschen, die unsere Sichtweise und unsere Erklärung tolerieren. Nur von diesen haben wir Unterstützung erhalten. Einige von ihnen haben öffentlich bekundet, dass sie wissen, dass es Menschen gibt, die gegen den Krieg sind und dass ihr Standpunkt respektiert werden sollte.

Aber die Menschen, die jetzt gegen den Krieg sind, werden in fünf oder zehn Jahren Verantwortung übernehmen. Sie sind sehr aktiv und sichtbar. Es gab mehr als zehn Unterzeichner*innen aus Aserbaidschan für den Friedensaufruf der Caucasus Talks. Es gibt also Hoffnung auf Veränderung der Zivilgesellschaft, weil diese Personen, die sich radikal gegen den Krieg aussprechen und die sich zu Wort melden genug Motivation haben, auch weiter in Baku zu bleiben.

In der Antikriegserklärung heißt es, dass die Unterzeichner*innen keine weitere Mobilisierung unterstützen und dass ihr Hauptziel darin besteht, den Dialog wiederherzustellen. Die Kämpfe gehen eindeutig weiter. Zivilpersonen und Soldaten sterben nach wie vor. In ihrem jüngsten Artikel für OC Media haben Sie geschrieben, dass die vorherigen Aufrufe zum Frieden aus den Jahren 2014 und 2019 „wenig erreicht haben und dies auch niemand überraschen sollte“. Sie kritisierten weiterhin die Tatsache, dass Friedensinitiativen in Aserbaidschan noch nie ein breites Publikum erreicht haben und dass sie unwirksam sind, weil sie dazu neigen, Menschen mit bestimmten Privilegien anzuziehen, aber auch in einem autoritären Umfeld agieren müssen. Was sehen Sie vor diesem Hintergrund als erste realistische Schritte an, um einen Dialog wiederherzustellen?

Frühere Friedenserklärungen erreichten die Gesellschaft nicht wirklich. Aber im Unterschied zu den früheren Erklärungen haben die beiden jüngsten – trotz der Feindseligkeit und der negativen Kommentare – wirklich Sinn gemacht. Jetzt wissen alle, zumindest die Menschen in den sozialen Medien, dass einige Leute gegen Krieg sind. Profilbilder wurden geändert und die Erklärung unterschrieben. Trotz aller Feindseligkeiten denke ich, dass das Hauptziel darin bestehen sollte, die Menschen auf eine Art und Weise zu erreichen, die deutlich macht, dass es zumindest auch einen anderen Standpunkt gibt.

Wie kann der Friedensprozess wiederhergestellt werden? Selbstverständlich ist das Problem, wie in der Antikriegserklärung dargelegt, der staatszentrierte Ansatz. Der Staat hat den Prozess des Dialoges und der Interpretation des Konfliktes monopolisiert. Das letzte Mal, so erinnere ich mich, gab es 1999-2000 einen Dialog, als es in Aserbaidschan eine kurze Periode der Demokratisierung gab. Es war eine Zeit des echten Dialogs. Danach sahen wir einen echten Friedensprozess, bis beide Staaten den Prozess monopolisierten. Wie Sie wissen, stand die Zivilgesellschaft in Aserbaidschan immer unter Druck und litt unter Repressionen. Es ist der Mangel an demokratischer Kultur in Aserbaidschan, der einen umfassenderen Prozess von Friedensverhandlungen zwischen den beiden Ländern über Nagorny-Karabach verhindert hat.

Das Problem ist die staatliche Monopolisierung und das Fehlen von Initiativen aus der Zivilgesellschaft heraus. Und natürlich die Tatsache, dass selbst Angehörige der Zivilgesellschaft die autoritären Werte und die Dämonisierung des Feindes teilen und nicht für einen Dialog eintreten. Wenn wir den Dialogprozess wiederherstellen wollen, brauchen wir zuerst einmal eine Demokratisierung und dann sollte der Prozess nicht durch den Staat organisiert werden. Ich glaube jedoch nicht, dass das autoritäre Regime in Aserbaidschan dies zulassen wird.

Wir wissen nicht, wie dieser Krieg enden wird. Wenn Aliyev keinen Sieg erringt, besteht möglicherweise ein gewisses Zeitfenster für eine Demokratisierung. Aliyev könnte aber auch einen Sieg erringen. In diesem Fall wären die Chancen für eine Demokratisierung ziemlich begrenzt. Wie sehen Sie das?

Ich glaube, es wird eine Art „kleinen” Sieg geben, wie es im April 2016 geschah. Nagorny-Karabach wird nicht mit Gewalt genommen. Einem begrenzten Sieg werden aber Friedensverhandlungen folgen. Im Moment ist das wirklich schwer vorherzusagen. Wir wissen aber, wenn es wirklich Friedensverhandlungen gibt, werden sie schnell gehen. Zugleich denke ich nicht, dass diese Friedensverhandlungen zu Fortschritten in Aserbaidschan führen werden. Und ich glaube auch nicht, dass wir diese Prozesse irgendwie beeinflussen oder daran teilhaben können. Was mich beunruhigt ist die Tatsache, dass Aliyev sehr hohe Zustimmungsraten hat. Wenn bald Wahlen abgehalten würden, würde er bis zu 100% erhalten, ohne die Ergebnisse fälschen zu müssen.

Das beunruhigt selbstverständlich progressiv denkende Menschen. Es sollte auch die nationalistische Opposition beunruhigen. Aber leider haben ihre nationalistischen Positionen Vorrang vor ihrer oppositionellen Haltung, obwohl sie immer Ziel von Repressionen waren. Es ist paradox. Aber dies ist die Logik eines Krieges: Politische Inhalte werden durch eine nationale Identität und nationalistische Gefühle ersetzt. Wenn wir die Frage stellen: Warum gibt es in Aserbaidschan keine demokratische Mobilisierung? – findet sich die Antwort in der nationalen Identität, die um den Verlust von Nagorny-Karabach herum aufgebaut ist.

Sie haben viel über den Umfang gesprochen, den der Verlust von Karabach für die Politik und die Politisierung in Aserbaidschan einnimmt. Können Sie uns das näher ausführen?

Wenn wir uns mit Politisierung / Entpolitisierung in Aserbaidschan beschäftigen, sollten wir zunächst festhalten, dass die Gesellschaft immer von Entpolitisierung geprägt war. Wir können nicht sagen, dass es der Opposition gelungen ist, Menschen für bestimmte Forderungen zu mobilisieren. Die Opposition hat immer wieder Forderungen nach sozialen und wirtschaftlichen Rechten erhoben, aber damit nie Erfolg gehabt. Sie formuliert auch Forderungen rund um Nagorny-Karabach und behauptet, dass der Präsident bei diesem Thema nicht stark genug sei. Aber weder die Forderungen zu Karabach noch die Forderungen zu den sozialen Rechten hatten die Kraft, die Menschen zu mobilisieren. Das ist eine Tatsache. Das Problem der Entpolitisierung ist, dass die Opposition nie etwas Neues präsentiert hat, etwas, das die alten Legenden bricht. Ich kann nicht behaupten, dass sich die Mainstream-Opposition wirklich von der Regierungspartei unterscheidet. Viele Beobachter*innen würden sagen, dass es selbst innerhalb dieser Parteien an Demokratie mangelt, da seit Jahrzehnten dieselbe politische Führung an der Macht ist und sie immer schwach waren.

Es gab aber auch erfolgreiche Mobilisierungen. Im Jahr 2013 forderten junge Menschen, dass es Verbesserungen im Militär geben sollte, nachdem eine Reihe von Soldaten außerhalb der Kämpfe ums Leben gekommen waren. Diese Forderungen entfalteten Kraft. Aber wenn wir uns das genauer anschauen, sind auch diese Forderungen nationalistischer Natur: Unsere Armee ist schwach und wir sollten sie verbessern, um unsere äußeren Feinde zu besiegen. Jede Forderung hatte Bezug genommen auf den äußeren Feind.

Können Sie näher ausführen, was Sie unter Entpolitisierung verstehen? Wie funktioniert es aus ihrer Sicht? Wird es von oben erzwungen oder entsteht es aufgrund verschiedener Faktoren?

In Europa ist die Situation völlig anders. Es besteht ein Konsens über bestimmte Ideen, wo sich Mitte-Rechts und Mitte-Links an der Macht abwechseln. Aber in Aserbaidschan herrscht ein autoritärer Konsens vor, in dem das Regime unter Aliyev Hegemonie genießt und die Menschen dieser Realität passiv zustimmen. Die Gesellschaft will einfach nicht in die politischen Kämpfe verwickelt sein.

Dies ist Ergebnis der Präsenz eines äußeren Feindes, der die inneren Gegensätze ersetzt hat. Die Tatsache, dass alle zwei oder drei Jahre eine Eskalation um Nagorny-Karabach zu beobachten ist, dass jeden Monat einige Soldaten sterben, hält das Trauma lebendig. Die Menschen wollen es nicht vergessen.

Es gab mehrere Beispiele sozialer Mobilisierungen: die Fälle von Tofiq Yaqublu oder Mehman Huseynov, politische Gefangene, die in Hungerstreik traten. Die Leute unterstützten sie, hielten Kundgebungen für sie ab. Gleichzeitig waren diese Mobilisierungen nicht politisch genug. Die Menschen unterstützten Huseynov und Yaqublu, weil sie „welche von uns waren“. Diese Kampagnen stellten niemals die Grundfeste des Regimes in Frage. Die positive Seite dieser Kampagnen ist jedoch, dass die aserbaidschanische Linke aktiv an beiden teilnahm und Solidarität zeigte, auch wenn ideologisch weder Mehman noch Tofiq links stehen.

Tofiq Yaqublu ist ein Kriegsveteran mit einem guten Ruf. Wir haben eine Protestkundgebung für ihn organisiert trotz unserer unterschiedlichen ideologischen Haltung. Es war die erste derartige Kundgebung, die ausdrücklich von den Linken organisiert wurde. Und auch Feministinnen und andere Progressive unterstützten unsere Aktionen. Wichtig ist, dass wir uns mit der unterdrückten Oppositionsfigur solidarisch gezeigt haben. Wenn ein Kampf eine fortschrittliche, demokratische Agenda beinhaltet, sind wir bereit für ein breites anti-autoritäres Bündnis.

Sie sagen hier, dass nie eine Verbindung hergestellt wurde zwischen dem Regime unter Aliyev und der sozioökonomischen Frage. In der Antikriegserklärung heißt es, dass das Regime „Mittel aus dem Bildungsbereich, der Gesundheitsversorgung und der Sozialfürsorge in das Militär umgeleitet hat, zum Profit unserer kapitalistischen Nachbarn mit imperialistischen Ambitionen – Russland und der Türkei. Merkwürdigerweise ist sich jede*r Einzelne dieser Tatsache bewusst, aber eine plötzliche Amnesie scheint jede*n zu befallen, sobald die erste Kugel auf die Grenzlinie zwischen Armenien und Aserbaidschan geschossen wird.“ Wie sollte eine linke Position zu dem Trauma und der traumatischen Legende rund um den Verlust von Nagorny-Karabach aussehen?

Eine linke Position sollte akzeptieren, dass dieses Trauma existiert. Wir sollten nicht die Menschen beschuldigen, die Vertriebenen, die in ihr Land zurückkehren wollen. Sie lebten dort jahrzehntelang und davor ihre Vorfahren. Das Problem liegt in der Tatsache, dass sie nicht vollständig integriert sind und mit dem Wunsch leben, nach Nagorny-Karabach oder in die sogenannte „Pufferzone“ zurückzukehren. Die Linke sollte sich auf die Position konzentrieren, eine Entmilitarisierung der Region zu erreichen. Und Vertriebene sollten das Recht haben, zurückzukehren und dort zu leben, wo sie wollen. Ich würde hier nicht den Staat beschuldigen. Nach zwei Jahrzehnten leben Vertriebene mehr oder weniger unter normalen Bedingungen, auch wenn einige Menschen immer noch leiden. Manchmal werden sie von denen diskriminiert, die glauben, dass sie irgendeine Art von Vorteil genießen – wenn sie beispielsweise nicht für Strom bezahlten oder wenn ihre Kinder Universitäten besuchen.

In Bezug auf Nagorny-Karabach sollte sich die Gesellschaft auf eine Entmilitarisierung konzentrieren, nicht auf den Status. Es ist nicht klar, ob sie unabhängig oder Teil von Armenien sein wollen. Pashinyan erklärte im Sommer, Karabach sei Teil Armeniens. Dieser Staatszentrismus auf beiden Seiten verhindert eine Entmilitarisierung der Region. Die Linke sollte beide Seiten kritisieren und objektiv gegenüber den Vertriebenen und ihren Rechten sein.

Ich sollte erwähnen, dass wir jetzt marginalisiert sind. Wie sollen wir damit umgehen? Meine Freunde, die in Aserbaidschan leben, sind durch die Ereignisse psychisch sehr stark belastet. Sie werden von beiden Seiten unter Druck gesetzt. Selbst in unseren Familien ist es nicht einfach, damit umzugehen. Progressive müssen sich gegenseitig unterstützen, sich auf die Marginalisierung vorbereiten und vermeiden, Menschen für ihre Überzeugungen zu verachten. Wir müssen ihr Trauma verstehen. Wir sollten uns gegen den Krieg stellen, aber die Linke sollte nicht so provozieren, dass es die Bevölkerung gegen uns aufbringt.

Ich glaube, dass diese Marginalisierung nicht von langer Dauer ist. Wir sollten Geduld haben. Ich sehe bereits, dass die Antikriegsposition in den letzten Tagen weniger Aggressionen hervorruft, als zu Beginn.

Interview with Azerbaijani anti-war activist: “Prepare to be marginalised”, 8. Oktober 2020. Aus: opendemocracy.net. https://www.opendemocracy.net/en/odr/prepare-to-be-marginalised-interview-with-azerbaijani-anti-war-activist/

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