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USA: "I Ain’t Marching Anymore"

Chroniken über 260 Jahre Kriegsdienstverweigerung und Widerstand gegen Krieg

von Frida Berrigan

(19.12.2020) Von der US-amerikanischen Revolution bis hin zum weltweiten Krieg gegen den Terror erzählt die Autorin Chris Lombardi die inspirierenden Geschichten von Menschen, die sich weigerten, zu töten.

Wo ich auch immer hinschaue, überall ist Gewalt die Antwort: bei Geo- und Außenpolitik, bei Strafjustiz und Inhaftierung, in der Bildungs- und Wohnungspolitik und ganz besonders bei der Unterhaltung. Die Waffen sind so verführerisch. Die Gewalt macht so süchtig, zumindest wenn sie hochauflösend und packend daher kommt. Es geht so einfach runter wie salzige Pommes.

Nachdem ich Chris Lombardis episches neues Buch “I Ain’t Marching Anymore’ (Ich marschiere nicht mehr) über Andersdenkende, Deserteur*innen und Verweiger*innen der US-amerikanischen Kriege gelesen habe, fühlte ich mich gezwungen, die Todesfälle zu zählen, die ich jeden Abend miterlebte. Mein Mann und ich hingen kürzlich in „Altered Carbon“ fest – einem verwirrenden, aber anschaubaren Science Fiction – und allein in diesem 40-minütigen Film sahen wir mehr als 100 Menschen sterben. Bis ich sie zählte, war ich mir nicht wirklich bewusst, wie sehr ich das Gemetzel genossen hatte. Dann fühlte ich mich krank und manipuliert und drückte die Pause-Taste.

Die Charaktere im wirklichen Leben, wie sie Lombardi in ihrem Buch vorstellt, sehen auch wie Menschen sterben. Aber sie tun es nicht zum Spaß. Sie stecken mitten in echten Kriegen und sind gezwungen, sich mit ihrer eigenen Menschlichkeit und der tiefsitzenden und unbestreitbaren Menschlichkeit der Personen auf der anderen Seite des Schlachtfelds auseinanderzusetzen. Auffällig und erhebend an diesem dicht recherchierten Buch ist, wie oft und wie natürlich Menschen ihre Menschlichkeit wiederentdecken oder aufdecken, indem sie sich weigern zu töten und sich gegen den Krieg organisieren. Zum Glück ist Lombardis körnige, auf Menschen fokussierte Geschichte bewaffneter Konflikte – und die Menschen, die ihre Waffen niederlegen – in dieser schwierigen und beängstigenden Zeit wirklich eine Wohltat für Herz und Seele.

Lombardi beginnt mit der US-amerikanischen Revolution. Von da aus geht sie chronologisch durch die Geschichte der USA. Sie erzählt über 260 Jahre Geschichten von Widerstand, Organisation und Kriegsdienstverweigerung von der US-amerikanischen Revolution bis hin zum weltweiten Krieg gegen den Terror. Eine flüchtige und oberflächliche Untersuchung der US-Kriegsgeschichte könnte hängen bleiben bei den Quäkern oder der Kriegsdienstverweigerung von Muhammed Ali, der statt nach Vietnam ins Gefängnis ging. Aber Lombardi bietet für jeden Krieg der USA eng geknüpfte Beispiele für Dissens, Widerstand und Gewissen.

Während ich das Buch las, versuchte ich mir immer wieder die Papierstapel auf Lombardis Schreibtisch vorzustellen. Ihre Fußnoten nehmen mehr als 30 Seiten ein. Sie verweist auf Hunderte von Berichten aus erster Hand – Tagebücher, Briefe, Zeitungsartikel und unveröffentlichte Memoiren, um sicherzustellen, dass die Geschichten von Krieg und Widerstand gegen Krieg in eigenen Worten erzählt werden. Darüber hinaus zeigt sie, wie ein Akt des Widerstands zusätzliche Handlungen auslöst – und wie eine Generation die nächste inspiriert. Das muss der Grund sein, warum wir diese Geschichte nicht in der Schule lernen.

Lombardis Buch wirft die Frage auf: Wer wird zum Held? Die Sieger und die Kriegstreiber stehen auf jedem Sockel und blicken uns von den Plätzen an. Hingegen sind Namen wie William Apess1 oder Susan Schnall2 kaum bekannt: Diese Menschen, die ausgebildet wurden um zu kämpfen aber an ihrer Menschlichkeit wie auch an ihren Überzeugungen festhielten, dass der einzige Weg zum Überleben darin besteht, sicherzustellen, dass niemand das sehen muss, was sie gesehen haben, niemand das riechen muss, was sie gerochen haben oder das verüben, was sie verüben mussten.

In ihrem Buch webt Lombardi einen Wandteppich aus Verbindungen, gegenseitiger Inspiration und Motivation. Sie konzentriert sich darauf, die Stimmen und Erfahrungen von Frauen, Afroamerikaner*innen, Ureinwohner*innen Amerikas und jüngeren Einwander*innen in den Vordergrund zu stellen. Immer wieder erlebten diese marginalisierten Menschen Kriege, litten und kümmerten sich um die Verwundeten und begruben die Toten. Sie wurden für immer durch ihre erschütternden Erfahrungen verändert. Und so widersetzten sie sich Krieg und Gewalt und setzten sich dafür ein, dass die für die Kriege der Nation zwangsweise Einberufenen in der Folgezeit versorgt wurden.

Während ich das Buch las, habe ich mir jeden mir unbekannten Namen markiert. Hier nur einige von ihnen, die mir aufgefallen sind:

  • Jacob Ritter3, ein Soldat des Revolutionskrieges, stammte aus einer lutherischen Familie. Er feuerte seine Muskete in der Schlacht von Brandwyne nicht ab. Stattdessen betete er, dass Gott ihn davor bewahren möge, „das Blut meiner Mitmenschen an diesem Tag zu vergießen. Dann würde ich nie wieder kämpfen.“ Er hielt sein Versprechen, floh vom Schlachtfeld und versteckte sich, bis er von den Briten verhaftet und in deren Gefängnis nach Philadelphia gebracht wurde. Nach seiner Gefängnistortur schloss er sich den Quäkern an und arbeitete für den Rest des Krieges gegen den Krieg.
  • William Apess4, ein Native American, Pequot aus Massachusetts, wurde von Rekrutierern des Militärs mit Alkohol abgefüllt und trotz seiner Minderjährigkeit und eines bestehenden Vertrages als Angestellter mit 15 Jahren in die Armee aufgenommen. Apess erlebte die Brutalität des Krieges von 1812 und setzte sich später als Methodistenprediger, Organisator und gefragter Redner für die Rechte der amerikanischen Ureinwohner ein. Er sagte: „Ist es nicht offensichtlich, dass die Ursache aller Kriege war und ist, dass die Weißen immer die Aggressoren waren und die Kriege, Grausamkeiten und das Blutvergießen von ihnen selbst verursacht wurden und nicht von den Indianern.“
  • Jackie Robinson, der später den Baseball in der Major League zusammenführte, wurde als junger Leutnant vor ein Militärgericht gestellt,5 als er sich 1944 weigerte, hinten in einem Interstate-Bus Platz zu nehmen.
  • Clarence Adams6, ein 18-jähriger Afroamerikaner, der Boxer werden wollte, meldete sich in Memphis zur Armee. Er wurde nach Korea geschickt. Bis auf zehn Männer wurden alle aus seiner Einheit getötet, bevor er von den Nordkoreanern gefangen genommen und in den Norden gebracht wurde. Nachdem er drei Jahre später befreit worden war, entschied er sich in China zu bleiben statt in den Jim-Crow-Süden7 zurückzukehren. Adams ließ sich in China nieder, ging zur Universität, gründete eine Familie, war Gastgeber der W.E.B. Du Bois8 und arbeitete für Radio Hanoi. In einer Sendung wandte er sich an die schwarzen Soldaten und sagte: „Ihr kämpft angeblich für die Freiheit der Vietnamesen, aber was für eine Freiheit habt ihr zu Hause… Geht nach Hause und kämpft für Gleichheit in Amerika.“ Adams lebte 14 Jahre in China, bis ihm die Kulturrevolution das Leben schwer machte und er mit seiner Familie nach Memphis zurückkehrte.
  • Susan Schnall, eine Krankenschwester der Navy, warf aus einem gemieteten Flugzeug Antikriegsplakate über der gesamten Westküste ab, um für den ersten GI- und Veteranenmarsch für den Frieden9 im Oktober 1968 in San Francisco zu werben. Vierhundert Soldaten und 10.000 Zivilpersonen marschierten hinter Schnall und ihren Freunden, die sie über ihre Aktion erreicht hatte. Sie wurde wegen „unwürdigen Verhaltens gegenüber einem Offizier“ verurteilt und verbrachte vier Monate im Gefängnis in Oakland.

Ich habe so viel von meiner – von unserer – Geschichte gelernt, als ich das Buch las. Ich vermisste nur eine Geschichte, die hätte aufgenommen werden können: Der Verweigerer des I. Weltkrieges Ben Salmon.10 Dieser katholische Bauer mit acht Jahren Schulbildung wurde zu lebenslanger Haft verurteilt, nachdem er aufgrund seines Glaubens die Einberufung verweigerte. Er blieb drei Jahre im Gefängnis, ein Großteil davon in Einzelhaft, weil er sich weigerte im Gefängnis zu arbeiten. Nach Kriegsende war Salmon noch immer in einer Irrenanstalt, wo er eine 229-seitige Begründung11 für seine Verweigerung schrieb, sich am Krieg zu beteiligen. Darin merkt er an: „Entweder war Jesus ein Lügner oder Krieg ist niemals notwendig.“

Er war einer von vier katholischen Kriegsdienstverweigerern des I. Weltkrieges, die alle unverhältnismäßig unter dem Segen des Vatikans für "gerechte Kriege" litten. Ben Salmon starb im Alter von 43 Jahren, seine Gesundheit zerstört durch seine Zeit im Gefängnis. Aber sein Andenken lebt weiter. Zwei seiner drei Kinder traten in das Ordensleben ein, und es gibt eine Bewegung, die mehr Licht auf seine Schriften, sein Beispiel und seinen gelebten Glauben werfen will.

Lombardis Buch beginnt mit Jacob Ritter auf einem blutgetränkten Feld bei der Schlacht von Brandywine, nicht allzu weit von Philadelphia entfernt. Es endet mit Berichten von jungen Menschen, die sich nach dem 11. September innerhalb des Militärs gegen den Militarismus wehren. Jennifer Hoag, eine Nationalgardistin, die nach dem 11. September zum aktiven Dienst einberufen wurde, erinnert sich, dass sie sich nicht wohl dabei fühlte, ihre Freundin zum Abschied zu umarmen oder zu küssen. Dieses Unbehagen führte zu weiteren Fragen: "Welche Freiheit können wir der Welt bieten, wenn wir uns so einschränken bei der Frage, welche Person wir lieben?" In den ersten Tagen des von der Bush-Regierung geführten Irak-Kriegs im Jahr 2003 fühlte sie, dass sie sich den Anti-Kriegs-Aktionen anschließen müsse. „Ich wusste, dass an dieser sich ausbreitenden Zerstörungswut irgendwas nicht richtig war… Ich stellte mich gegen den Irak-Krieg, dabei war er noch nicht einmal 24 Stunden alt.“ Die Kriege in Afghanistan und im Irak wurden zum weltweiten Krieg gegen den Terror und fast zwei Jahrzehnte später sind sie immer noch im Gange. Die Kriegstechnologie hat sich in den letzten zweieinhalb Jahrhunderten weiterentwickelt, während Kriegsplaner versuchen, Gewissensbisse zu verhindern. Aber die Soldat*innen werden immer wieder gepackt von ihrem Gewissen, wie Jacob Ritter im Jahr 1777.

Lombardis Buch in diesen letzten Tagen eines so brutalen Jahres zu lesen, war wie Balsam. Ihre Geschichte12 bringt mich erneut zurück zu dem mächtigen Geist des Dissens, des Widerstand, der Organisation, die es immer in unserer Geschichte gegeben hat, aber die so selten im Fernsehen oder Netflix zu sehen ist. Ihr Buch erinnert mich an diesen Geist, der Ritter, Apess, Schnall und ihre jüngeren Nachfolger beseelt, der immer noch pulsiert und stark ist. Was für eine Erleichterung – denn wir brauchen es jetzt mehr denn je!

Fußnoten

1 https://uncpress.org/book/9781469642284/the-life-of-william-apess-pequot/

2 https://aintmarching.net/2017/08/27/some-loose-thoughts-about-jacob-ritter-1757-1841/

3 https://aintmarching.net/2017/08/27/some-loose-thoughts-about-jacob-ritter-1757-1841/

4 https://babel.hathitrust.org/cgi/pt?id=ucw.ark:/13960/t85h7n50g&view=1up&seq=9

5 https://www.pbs.org/wnet/african-americans-many-rivers-to-cross/history/was-jackie-robinson-court-martialed/

6 https://www.umasspress.com/9781558495951/an-american-dream/

7 Der Ausdruck Jim Crow („Jim, [die] Krähe“) war in den USA im 19. Jahrhundert die Bezeichnung für das Stereotyp eines tanzenden, singenden Schwarzen, der vor allem in den Minstrel Shows ein beliebtes Thema war. Quelle: Wikipedia. (d. Red.)

7 http://bostonreview.net/race-politics/andrew-lanham-when-w-e-b-du-bois-was-un-american

8 https://www.theguardian.com/world/2018/mar/19/waging-peace-vietnam-anti-war-exhibition-gi-viet-cong

9 https://www.bensalmon.org/

10 https://www.bensalmon.org/bens-magnum-opus.html

11 https://thenewpress.com/events/chris-lombardi-politics-prose-live

Frida Berrigan ist Kolumnistin für Waging Nonviolence und Autorin von "It Runs in the Family: On Being Raised by Radicals and Growing into Rebellious Motherhood." Sie lebt in New London, Connecticut zusammen mit ihrem Ehemann Patrick und ihren drei Kindern.

Chris Lombardi: I Ain’t Marching Anymore – Dissenters, Deserters and Objectors to America’s Wars, The New Press 2020. EAN 9781620973172, https://aintmarching.net/

Frida Berrigan: ‘I Ain’t Marching Anymore’ chronicles 260 years of war resistance and conscientious objection. 19. Dezember 2020. https://wagingnonviolence.org/2020/12/i-aint-marching-anymore-260-years-war-resistance-conscientious-objection/. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2021

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