Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Syrien: Rekrutierung von Minderjährigen

von Syrian Network for Human Rights

Im neunten Jahresbericht über die Situation von Kindern im Krieg in Syrien berichtet das Syrische Netzwerk für Menschenrechte (http://www.sn4hr.org) Ende 2020 auch über die Rekrutierung von Kindern und Minderjährigen für die Zeit von 2011-2020. Wir dokumentieren dies in Auszügen. (d. Red.)

Syrische Streitkräfte

Diese umfassen die Armee, Sicherheitskräfte, lokale Milizen und die ausländischen schiitischen Milizen. (…)

Die syrischen Streitkräfte haben routinemäßig Kinder rekrutiert und besondere Trainingslager für sie eingerichtet, gewöhnlich in Schulen, Sporthallen oder in Hauptquartieren irregulärer Kräfte und Milizen der Regierung, die an der Seite der Armee kämpfen. Die Kinder wurden dazu benutzt, bei Verlusten die Ränge der Erwachsenen aufzufüllen. Kinder finden sich bei irregulären Gruppen wie den Nationalen Verteidigungsstreitkräften1 oder auch Bataillonen und Brigaden ausländischer und lokaler Milizen, nachdem sie ein kurzes Training zum Tragen von Waffen absolviert haben. Manchmal werden sie auch direkt ohne Training eingezogen.

Nach der Einberufung sind Kinder in verschiedenen Tätigkeiten als Kämpfer oder Nicht-Kämpfer eingesetzt. Üblicherweise wird ihnen die Aufgabe zugeteilt, Munition zu transportieren, zu reinigen, Befestigungsanlagen zu bauen und Wache zu stehen. In Schlachten und bei Angriffen nehmen sie an der Seite der Erwachsenen an den Kämpfen teil. Die meisten rekrutierten Kinder, deren Tod wir aufzeichneten, befanden sich in den Rängen der syrischen Streitkräfte, die sie direkt im Krieg einsetzten.

Das syrische Regime hat die Einberufung von Kindern gefördert und keinerlei Untersuchungen durchgeführt oder Verantwortung zu irgendeinem Fall eines rekrutierten Kindes übernommen. Stattdessen hat das Regime bei Werbeanzeigen von ihnen nahestehenden lokalen Milizen weggeschaut, mit denen aufgerufen wurde, sich freiwillig zu melden und in ihren Rängen zu kämpfen. Diese Anzeigen haben oft Kinder angesprochen aufgrund der Mangelsituation der Kinder und ihrer Familien und dem Wunsch der Kinder rekrutiert zu werden und Waffen zu tragen, um damit mehr Autorität und eine höhere Stellung über die Gleichaltrigen zu erhalten. Auch die Medien des syrischen Regimes haben routinemäßig militaristische Propaganda ausgestrahlt und von Rache und Vergeltung gesprochen um Kinder zu indoktrinieren, ihre Überzeugungen zu beeinflussen und sie dazu zu bewegen, sich einberufen zu lassen um „ihr Heimatland zu verteidigen“ und „den Terrorismus zu bekämpfen“.

Die Einberufung von Kindern durch die Streitkräfte des Regimes führte zum Tod von zumindest 57 Kindern auf den Schlachtfeldern Syriens zwischen März 2011 und dem 20. November 2020.

Hay‘at Tahrir al Sham

Hay‘at Tahrir al Sham ist ein Zusammenschluss von Fateh al Sham, ehemals al Nusra Front, und Splittergruppen der Bewaffneten Opposition. (…)

Hay‘at Tahrir al Sham folgt der Strategie von ISIS zur Rekrutierung von Kindern. Sie richten Ausbildungslager für Kinder ein, werben sie in Scharia-Kursen an um Einfluss auf ihre Überzeugungen zu bekommen und sie dazu zu bringen, Waffen zu nehmen und zu kämpfen. Dann werden sie an die Front gebracht. In anderen Fällen weist Hay‘at Tahrir al Sham den Kindern Wachdienste oder Posten bei den Checkpoints zu, gibt ihnen eine erbärmliches Gehalt und beutet damit die große Armut aus, unter der die Bevölkerung in den Gebieten unter ihrer Kontrolle leidet.

Kurdisch-geführte Syrische Demokratische Kräfte

Die Syrischen Demokratischen Kräfte (Syrian Democratic Forces - SDF) haben in allen unter ihrer Kontrolle stehenden Gebieten in weitverbreiteter Art und Weise Kinder eingezogen, freiwillig oder aber auch zwangsweise. Sie haben sie ermutigt, sich ihren Streitkräften anzuschließen, indem sie entweder die Kinder gelockt haben oder ihnen Anreize versprachen oder indem sie Kinder entführt haben während sie in der Schule waren oder sich einfach auf den Straßen und in der Nachbarschaft aufgehalten haben. Es wurden Ausbildungslager für Kinder eingerichtet in Gebieten, die weit entfernt von ihrer Herkunftsregion liegen, um die Kinder daran zu hindern, mit ihren Familien zu kommunizieren und sie von der Außenwelt zu isolieren bis die Ausbildung abgeschlossen war. Damit sollen sie indoktriniert und ihre Überzeugungen manipuliert werden, um absolute Loyalität zur Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) sicherzustellen.

Die Organisation Ciwanên Oreger (Revolutionäre Jugend)2 und die Women‘s Protection Units (Frauenverteidigungseinheiten) sind führende Kriegsparteien, verantwortlich für die Rekrutierung von Kindern und für die Aufnahme von Kindern in die Trainingslager der Kampfeinheiten der SDF. Wir haben eine zunehmende Zahl von Fällen seit Anfang 2020 festgestellt. Viele der Familien, deren Kinder eingezogen wurden, berichteten uns, dass sie nach ihren Kindern gesucht und bei den Hauptquartieren der SDF nachgefragt hätten. Sie hätten jedoch keine Antworten erhalten. Einigen der verzweifelten Eltern wurde sogar mit Gewalt gedroht, wenn sie darüber berichten, dass ihr Kind einberufen wurde.

Obwohl die kurdische Selbstverwaltung im Juni 2019 einen Gemeinsamen Aktionsplan mit den Vereinten Nationen3 unterzeichnete, um die Rekrutierung von Kindern in ihre Reihen zu beenden, die bereits Rekrutierten zu demobilisieren und die People‘s Protection Units (Volksverteidigungseinheiten) sowie die Frauenverteidigungsheiten im Juni 2014 eine Vereinbarung im Geneva Call unterzeichneten, mit der der Einsatz von Kindern in Kämpfen untersagt wurde, wurde die Rekrutierung von Kindern nicht beendet; im Gegenteil; sie hat in den letzten Jahren gravierend zugenommen seit der Eröffnung eines Büro zum Schutz von Kindern in Bewaffneten Konflikten4 durch die SDF am 30. August 2020. Das Büro sollte dazu dienen, Beschwerden über die Rekrutierung von Kindern in den von ihnen kontrollierten Gebieten entgegenzunehmen. Viele Familien der rekrutierten Kinder haben dennoch keine Antwort oder Information zum Schicksal ihrer Kinder erhalten. Der Bericht des UN-Generalsekretärs über „Kinder und Bewaffnete Konflikte“5 für das Jahr 2019, veröffentlicht im Juni 2020, bestätigte, dass die SDF mit zu den schlimmsten Tätern unter den Kriegsparteien6 bezüglich der Rekrutierung von Kindern gehört.

Das Team vom Syrischen Netzwerk für Menschenrechte hat seit dem Bestehen mindestens 113 Fälle von Rekrutierung von Kindern durch die SDF dokumentiert, etwa 29 von ihnen wurden auf dem Schlachtfeld getötet.

Am 8. Oktober 2020 wurde das 2004 geborene Mädchen Rawan Omran al Aliou aus al Derbasiya, einer Stadt im Bezirk Hasaka, durch die SDF entführt und zwangsweise rekrutiert. Das geschah in der Stadt Qameshli. Sie wurde an einen unbekannten Ort gebracht. Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte sprach mit ihrem Vater Rawan al Sayyed Omran7. Er berichtete, dass Rawan, Schülerin der 11. Klasse, täglich zu ihrer Schule in der Stadt Qameshli gegangen sei. Am 6. Oktober war sie nicht zur üblichen Zeit zurückgekommen. Er erläuterte: „Ich rief sie an und sie sagte mir, dass sie im Fußballtraining sei. Sie sei müde und könnte nicht nach Hause kommen. Also rief ich ihren Trainer an, der mir berichtete, dass sie sicher sei. Ich könnte sie am nächsten Tag abholen. Am nächsten Tag kam ich um 12 Uhr in Qameshli an. Da rief mich der Trainer an und sagte mir, dass ein Mädchen namens Sahar al Husseini Rawan gesagt habe, dass sie sich noch vor der Rückkehr nach Hause treffen sollten.“ Dann habe er seine Tochter angerufen, aber sie sagte ihm, dass sie nicht sprechen könne. Dann sei ihr Telefon abgestellt worden. „Am nächsten Tag, einem Donnerstag, konnte ich die Telefonnummer von Sahar herausfinden und rief sie an. Sie bestritt ihre Beziehung zu Rawan. Nach mehreren Nachfragen sagte sie mir: ‚Onkel, Rawan war bei mir zu Hause und meine Mutter nahm sie mit zum Asayish Center.‘ Ich fragte Sahar, was ihre Mutter arbeite. Sie sagte mir, dass sie ein Mitglied des Frauenzentrums Asayish in der Provinz al Jazira sei. Sie gab mir ihre Adresse. Sahar sagte mir: ‚Geh hin, bevor sie Rawan an einen anderen Ort bringen.‘ Ich ging und fragte nach meiner Tochter Rawan, aber sie stritten ihre Anwesenheit ab. Seitdem habe ich keine Information mehr über meine Tochter erhalten.“

Am 23. Mai 2020 wurde ein 17-jähriges Mädchen, Sabah Bashir Hesso, aus dem Ort Kafr Safra, verwaltet als Teil der Stadt Afrin, einer im Norden von Aleppo gelegenen Vorstadt von Angehörigen der SDF im Flüchtlingslager Fifin in al Shahbaa zur zwangsweisen Rekrutierung entführt. Sie wurde in eines der Ausbildungslager der SDF im Stadtteil Sheikh Maqsoud in Aleppo gebracht.

Am 25. Mai 2020 wurde ein 15-jähriger Junge, Samir Abdul Rahman Zinki aus dem Ort Ma‘mal Oshaghi, verwaltet als Teil der Stadt Afrin, einer im Norden von Aleppo gelegenen Vorstadt, von Angehörigen der Demokratischen Kräften Syriens (SDF) in der Nähe der al Isteqama Moschee in dem Stadtteil al Ashrafiya in Aleppo zur zwangsweisen Rekrutierung entführt. Er wurde in eines der Ausbildungslager der SDF im Stadtteil Sheikh Maqsoud in Aleppo gebracht.

Am 5. Juni 2020 wurde das 2004 geborene Mädchen Jihan Sheikh Muhammad Suleiman aus Afrin von Bewaffneten der SDF im Viertel Ashrafiya in Aleppo entführt. Sie wurde zu einem Haftzentrum der SDF im Viertel Sheikh Maqsoud in Aleppo überstellt. Nach mehrmaligen Aufforderungen der Familie des Mädchens, ihre Tochter wiederzubekommen, schlug die SDF ein Treffen vor und nannte dafür einen Platz im Park Serok Apo im Viertel Sheikh Maqsoud. Drei Angehörige der SDF kamen zu dem Treffen, daneben eine Reihe von Wachposten. Acht von ihnen beobachteten das Treffen aus der Ferne. Das Treffen des Mädchens mit ihrer Familie dauerte nur wenige Minuten, bevor die SDF das Kind vor den Augen ihres Vaters erneut entführte und sie in einem Auto der SDF an einen unbekannten Ort brachte.

Am 2. Juli 2020 wurde das 2005 geborene Mädchen Lina Abdul Baqi Khalaf aus dem Ort Tal Karam im Bezirk al Derbasiya in Tal Karam von den SDF entführt und zwangsweise rekrutiert. Sie wurde an einen unbekannten Ort gebracht.

Am 15. September 2020 wurde das 2003 geborene Mädchen Sarab Abshir Muhammad aus al Derbasiya durch Angehörige der Syrischen Demokratischen Kräfte in al Derbasiya entführt und an einen unbekannten Ort gebracht.

Am 7. November 2020 wurde der 2005 geborene Junge Salar Khleif al Khalifah durch Angehörige der SDF aus dem Ort Seiha zwangsweise rekrutiert und an ein militärisches Ausbildungslager der SDF in der Stadt al Rmeilan überstellt. Das Syrische Netzwerk für Menschenrechte sprach mit Yaser al Khalifah8, dem Onkel von Salar, der uns berichtete, dass sein Neffe in die Stadt al Qameshli gegangen sei, um Lebensmittel einzukaufen. Er sei aber nicht nach Hause zurückgekehrt und habe auch nicht auf wiederholte Anrufe der Familie geantwortet. Daraufhin hätten sein Eltern begonnen, ihn im Ort zu suchen. Yaser sagte: „Die Einwohner sagten uns, dass Salar auf einem Motorrad weggefahren sei, begleitet durch eine Person mit Namen Eyad Abeid, der den SDF angehöre. Später wurde klar, dass Eyad das mit der Organisation Ciwanên Oreger koordiniert hatte. Sie warteten in der Stadt Qahtaniya an einem Checkpoint auf Salar. Dann wurde er in ein Rekrutierungszentrum in der Stadt Rmeilan gebracht. Wir hatten schon gesehen, dass Salar sich ihnen schon lange anschließen wollte.“ Yaser ergänzte, dass die Familie über einen Vermittler am Checkpoint erfuhr, dass die Überwachungskameras am Kontrollpunkt zeigten, dass Salar freiwillig mit Ciwanên Oreger mitgegangen war. Er ergänzte: „Nach dem Medienecho und den vielen Fragen zu Salar, kontaktierte ein Angehöriger der SDF die Familie und gab zu, dass er bei ihnen sei und sie ihn besuchen könnten. Zwei Tage später reiste die Familie nach Rmeilan, aber sie konnten ihn nicht sehen, ihn nicht am Telefon sprechen und sie erhielten keinerlei Information über ihn. Stattdessen trafen sie einen Angehörigen der SDF, der sagte, zuerst müsse das Medienecho zu Salar und dem Koordinator Eyad Abeid aufhören.“ Salars Schicksal blieb unbekannt bis zum 14. November 2020, als seine Familie einen Anruf der SDF erhielt, um das Kind zurück zur Familie zu bringen. Das geschah an der Straße al Qameshli-Amouda.

Splittergruppen der bewaffneten Opposition - Syrische Nationalarmee

Splittergruppen der Bewaffneten Opposition haben die mangelhaften Lebensbedingungen ausgenutzt, unter denen die Kinder leben, darunter auch in Fällen, in denen die Familie den Ernährer verlor, um sie in die Streitkräfte zu rekrutieren, sie mit Wachdiensten zu beauftragen, für den Transport von Munition, Reinigungsarbeiten, Wachdiensten an den Checkpoints und Einbeziehung in die Kämpfe. Wir haben den Tod von fünf Kindern dokumentiert, die an der Seite der Bewaffneten Opposition an Kämpfen teilnahmen.

Aquil al Salloum aus der Stadt Qebbasin wurde mit 15 Jahren von der Splittergruppe Sultan Murad rekrutiert, die Teil der Bewaffneten Opposition ist. Am 21. April 2020 fanden Menschen seinen Körper, der in einen Steinbruch an der Olshali Straße geworfen worden war. Das geschah offensichtlich, nachdem er von Unbekannten erschossen worden war. Das Gebiet steht unter der Kontrolle der Syrischen Nationalarmee.

Fußnoten

1 Die National Defense Forces sind irreguläre Einheiten, die an der Seite der Streitkräfte des syrischen Regimes kämpfen. Sie wurden 2013 gegründet und umfassen viele zusätzliche Gruppen und Brigaden in allen syrischen Bezirken. Dazu zählen auch die Volkskomitees, die Freiwillige verschiedenen Alters einberufen haben, darunter auch Kinder und junge Männer.

2 Die Organisation Ciwanên Oreger ist eine bewaffnete Gruppe die innerhalb der von der SDF kontrollierten Gebiete operiert. Sie steht unter der Schirmherrschaft der PKK und erhält von ihr Anweisungen.

3 https://news.un.org/en/story/2019/07/1041672

4 https://www.facebook.com/smensyria/posts/1406258492897417

5 https://undocs.org/S/2020/525

6 https://sn4hr.org/?p=55283

7 am 9. Oktober 2020 über WhatsApp

8 am 10. November 2020 über Facebook Messenger

Syrian Network for Human Rights: Ninth Annual Report on Violations against Children in Syria. 20. November 2020. Auszüge. Übersetzung: rf. https://sn4hr.org/blog/2020/11/20/55655/. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Februar 2021

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