Buchtitel von Hannah Brinkmann

Buchtitel von Hannah Brinkmann

Gesucht: Erfahrungsberichte von Kriegsdienstverweigerern in der Bundesrepublik bis Mitte der 80er Jahre

von Katrin Warnatzsch und Michael Schmid

(10.03.2021) „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.“ So steht es in Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland, das am 23. Mai 1949 in Kraft trat. Dass Kriegsdienstverweigerung als Grundrecht ins Grundgesetz aufgenommen wurde, war eine der Antworten auf den verbrecherischen Angriffskrieg Nazi-Deutschlands und der Barbarei, mit der im „Dritten Reich“ über 30.000 Deserteure und Kriegsdienstverweigerer staatlicherseits zum Tode verurteilt und davon rund 22.000 hingerichtet wurden.

Doch Generationen von jungen Männern wurde es dann ziemlich schwer gemacht, ihr Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung nach Artikel 4,3 GG in Anspruch zu nehmen. Es war von Anfang an ein Skandal, dass das Grundrecht auf Kriegsdienstverweigerung nur auf Antrag und nach staatlicher Überprüfung verliehen oder verwehrt wurde. Dabei kann es Grundrechte mit Überprüfungsvorbehalt gar nicht geben. Grundrechte gelten unmittelbar und für jede und jeden gleichermaßen.

Jeder Wehrpflichtige, der sich jedoch weigerte, die Waffe in die Hand zu nehmen und sich zum Töten ausbilden zu lassen, musste den Ernst seiner Gewissensentscheidung sowohl in schriftlicher Begründung als auch in mündlicher Anhörung und Befragung glaubhaft machen. Dafür etablierte die Bundesregierung ein dreistufiges Prüfungsverfahren, das jedem Kriegsdienstverweigerer ein richtiges oder falsches Gewissen attestieren konnte. Die erste Instanz für den Kriegsdienstverweigerer war ein „Prüfungsausschuss“ im Kreiswehrersatzamt. Vorsitzender war ein zum Richteramt befähigter Jurist der Bundeswehrverwaltung. Das Prüfungsverfahren unterlag also dem Militär. Ebenfalls die „Prüfungskammer“ als zweite Instanz, vor die man bei Ablehnung gehen konnte. Wenn Kriegsdienstverweigerer auch im zweiten Verfahren abgelehnt wurden, blieb noch das Rechtsmittel der Klage vor dem Verwaltungsgericht. Trotzdem mussten sie dann aber bereits zum Militär gehen, obwohl das dritte Verfahren vor einem Zivilgericht noch bevorstand. Wer auch vor dem Verwaltungsgericht abgelehnt wurde, konnte einen zweiten KVD-Antrag mit neuen Gründen stellen. Dann ging das Verfahren wieder von vorne los.

Dass die Gewissensprüfung von Gremien wahrgenommen wurde, die der Bundeswehr unterstanden, hatte natürlich Auswirkungen auf den Ablauf der Verfahren und auf die Anerkennungsquote. Ein Kriegsdienstverweigerer war oft Menschen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert, die ihn mit unberechtigten Konfliktfragen („Fangfragen“) konfrontierten und ihr Amt missbrauchten. Mit dem Begriff „Gewissensinquisition“ sind diese Verfahren treffend charakterisiert.

Weithin galten Kriegsdienstverweigerer als „Drückeberger“, „Faulenzer“ und „Vaterlandsverräter“, ihre Verweigerung als „systemzersetzend“. Politik und Militär sahen darin eine Bedrohung und gingen restriktiv mit Verweigerern um. 1961 war dann erstmals ein Wehrersatzdienst eingeführt worden, doch dieser galt als „Abschreckungs-Dienst“. Dieser Wehrersatzdienst wurde ab 1973 zum Zivildienst umbenannt und dauerte fortan immer einige Monate länger als der Grundwehrdienst bei der Bundeswehr - eine weitere „Bestrafung“ der Kriegsdienstverweigerer. Die Verwaltung unterstand dem Verteidigungsministerium. Zivildienstleistende berichteten von autoritären Strukturen, Ressentiments und Schikane.

Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer blieb bis Mitte der 60er Jahre gering. Waren es im Jahr 1966 noch 4.431 junge Männer, die einen Antrag auf Anerkennung als Kriegsdienstverweigerer stellten, stiegen danach die Zahlen sprunghaft an, so dass es zehn Jahre später bereits 40.618 waren. Die Studentenbewegung und die Proteste gegen den Vietnamkrieg waren ab 1967 wesentliche Gründe für viele junge Männer, nun ihre Kriegsdienstverweigerung zu erklären.

Die Zahl der Anerkennungen verlief allerdings keineswegs parallel entsprechend den Antragszahlen. Im Jahr 1963 etwa wurden noch 90 % aller Antragssteller anerkannt, 1968 weniger als zwei Drittel, im Jahr 1970 erstmals weniger als die Hälfte. Bei dieser Relation verblieb die (Gesamt-)Anerkennungsquote (Prüfungsausschuss, Prüfungskammer, Verwaltungsgericht zusammengefasst) bis etwa 1983. Ab 1984 wurde das Prüfverfahren für „ungediente Wehrpflichtige“ durch ein vereinfachtes Anerkennungsverfahren ersetzt. Die Anerkennungsquote im schriftlichen Verfahren beim Bundesamt für den Zivildienst (BAZ) stieg auf über 90%. Bei den „Zweifelsfällen“, die weiterhin vor den Ausschüssen und Kammern für Kriegsdienstverweigerung und Gerichten entschieden wurden, gab es jährlich zwischen 2.000 bis 4.000 bestandskräftige Ablehnungen.

Ulrich Finckh, drei Jahrzehnte lang Vorsitzender der „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienstverweigerer aus Gewissensgründen e.V.“, zog 2007 folgendes Fazit:

„Die Bilanz der Prüfungsverfahren war verheerend. Mit Sicherheit kamen weit über eine Million Kriegsdienstverweigerer zunächst nicht zu ihrem Recht und Hunderttausende überhaupt nicht. Der Staat organisierte Unrecht und junge Menschen wurden durch die Rechtsprechung hoffnungslos überfordert. Zahllose Verweigerer wurden letztlich nicht anerkannt. Auch wenn viele über erneute Anträge, andere Dienste oder Dienstausnahmen doch noch dem Wehrdienst entkamen, war das katastrophal. Über 100.000 flohen nach Berlin, Tausende ins Ausland, Ungezählte wurden krank, Einzelne nahmen sich aus Verzweiflung das Leben, Hunderte verweigerten den Militärdienst auch ohne Anerkennung trotz Schikanen und Freiheitsstrafen. Begleitet war die Missachtung des Grundrechtes von ständigen Diffamierungen, Vorwürfen der Drückebergerei und Angriffen auf Beratungsstellen unter Berufung auf das Rechtsberatungsmissbrauchsgesetz aus der NS-Zeit.“

Persönliche Erfahrungsberichte von Kriegsdienstverweigerern

Wir wollen auf der Website „Kriegsdienstverweigerer. Unsere Geschichten“ (www.kriegsdienstverweigerer-geschichten.de/ ) sichtbar machen, welchen Schwierigkeiten und Schikanen wehrpflichtige junge Männer insbesondere bis 1983 ausgesetzt waren, wenn sie in der Bundesrepublik Deutschland den Kriegsdienst verweigern wollten. Oder welchen Sanktionen sie ausgesetzt waren, wenn sie den Kriegsdienst gar total verweigert haben. Eine Minderheit musste sich auch in späteren Jahren dem Gewissens-TÜV vor Prüfungsausschuss und Prüfungskammer unterwerfen.

Wir wollen Betroffenen die Möglichkeit bieten, ihre Erfahrungen im Zusammenhang mit der eigenen Kriegsdienstverweigerung aufzuarbeiten und diese auch öffentlich zu machen. Wir hoffen, dass die Erinnerung zur Ermutigung sowohl von Betroffenen wie auch von Außenstehenden beitragen kann. Erinnern kann uns Kraft geben für unser gemeinsames Engagement für eine gerechtere, friedvollere, bessere Welt.

Wir wollen damit außerdem den wichtigen Beitrag der Kriegsdienstverweigerung zu einem zivilisatorischen Fortschritt würdigen, indem sich über drei Millionen junge Männer geweigert haben, sich an der Waffe zum Töten ausbilden zu lassen. Sie haben zudem häufig Zivilcourage bewiesen, d.h. den Mut aufgebracht, unter teilweise schwierigen Umständen ihre Meinung offen zu äußern, zu vertreten, durchzufechten und damit persönliche Bereitschaft zur Verantwortung zu übernehmen.

Am 1. Juli 2011 wurde die Wehrpflicht in Deutschland ausgesetzt, seither hat die Kriegsdienstverweigerung hierzulande nur noch für aktive Soldaten und Reservisten eine Bedeutung. Mit unserer Seite soll auch verdeutlicht werden, dass das ein wichtiger Fortschritt ist. Dies ist gerade im Hinblick darauf von Bedeutung, dass einige Politiker*innen wieder eine Wehrpflicht einführen wollen.

Auf unserer Website geht es schwerpunktmäßig um Kriegsdienstverweigerer aus der alten Bundesrepublik Deutschland. Aber Kriegsdienstverweigerer aus der früheren DDR, mit ihren völlig anderen Voraussetzungen, sollen ebenfalls zu Wort kommen.

Schreibt eure Erfahrungen auf!

Wir laden Betroffene dazu ein, uns Berichte über eigene biografische Erfahrungen im Zusammenhang mit der eigenen Kriegsdienstverweigerung zukommen zu lassen. Wir erhoffen uns, dass dadurch ein buntes Bild ganz verschiedenartiger Erfahrungen und Wege zusammenkommt.

Kontakt: Lebenshaus Schwäbische Alb e.V., Bubenhofenstr. 3, 72501 Gammertingen, Tel. 07574 2862, eMail info(at)lebenshaus-alb.de, Website: www.lebenshaus-alb.de und www.kriegsdienstverweigerer-geschichten.de/

Katrin Warnatzsch und Michael Schmid: Persönliche Erfahrungsberichte von Kriegsdienstverweigerern in der Bundesrepublik bis Mitte der achtziger Jahre. 15. Februar 2021. Der Beitrag wurde in Auszügen veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2021.

Stichworte:    ⇒ Deutschland   ⇒ Kriegsdienstverweigerer berichten   ⇒ Kriegsdienstverweigerung