Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

Syrien: In Deir ez-Zor zerstört die Wehrpflicht der SDF Lebensgrundlagen

von Dan Wilkofsky

(22.02.2021) Die jüngste Kampagne der Syrischen Demokratischen Kräfte zur Einberufung von Jugendlichen verschärft die wirtschaftliche Not in der Provinz Deir ez-Zor, einer der ärmsten Regionen Syriens. In den Dörfern, in denen die Kampagne am stärksten umgesetzt wird, bleiben junge Männer aus Angst vor Verhaftung zu Hause. Sie verzichten auf ihren Tageslohn und verschieben ihre Einkäufe, um keine Checkpoints passieren zu müssen.

Junge Männer in der Provinz Deir ez-Zor, einer der ärmsten und unbeständigsten Gegenden Syriens, sehen sich zusätzlich zur weitverbreiteten Arbeitslosigkeit, Inflation und Gewalt mit einer neuen Herausforderung für ihre Lebensgrundlagen konfrontiert: Der Einberufung in Einheiten der durch die USA unterstützten Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF).

In WhatsApp-Interviews beschrieben acht Bewohner von Deir ez-Zor, Tagelöhner wie Angestellte, in den letzten drei Wochen gegenüber Al-Monitor, wie die Gefahr der Rekrutierung ihr Einkommen bedroht, reduziert oder beschneidet. Sie sagen, dass die Wehrpflicht für junge Menschen eine unzumutbare Belastung ist. Sie können in vielen Fällen kaum ihre Familien über Wasser halten. Der mickrige Sold, der den Wehrpflichtigen angeboten wird, ist nur ein Bruchteil dessen, was Berufssoldaten erhalten. Das hat Unmut geschürt.

„Wir können keine Arbeit finden oder unsere Familien ernähren. Und jetzt verlangen sie, dass wir uns verpflichten. Wenn ich beim Militär hätte bleiben wollen, wäre ich beim Assad-Regime geblieben“, sagte ein übergelaufener syrischer Regierungssoldat im Osten von Deir ez-Zor am 3. Februar gegenüber Al-Monitor.

Deir ez-Zor hat große Ölreserven1, aber die einfachen Bewohner*in­nen profitieren nicht von diesen natürlichen Reichtümern. Proteste wegen der schlechten kommunalen Versorgung2 und der Armut3 sind häufig. Jahr für Jahr sorgen Treibstoffengpässe4 dafür, dass die Menschen in den Wintermonaten in der Wüste frieren, da Schmuggler das Öl aus der Provinz heraus exportieren5.

„Die Wehrpflicht löst Existenzen auf und hält die Menschen nachts wach“, sagt Amer, Pseudonym eines Bürgerjournalisten mittleren Alters aus dem Dorf Izba. Wie die anderen Bewohner, die für diesen Artikel interviewt wurden, wollte er nicht, dass sein richtiger Name gedruckt wird, damit er sich frei zu dem sensiblen Thema äußern kann. „Die meisten Jugendlichen, die zum Militärdienst eingezogen werden, sind 18 bis 30 Jahre alt“, sagte er. „Und viele von ihnen sind verheiratet.“

Die kurdisch geführten Behörden im Nordosten Syriens haben Mitte 2014 ihr erstes Wehrpflichtgesetz6 verabschiedet. Zu dieser Zeit kämpften die kurdischen Volks- und Frauenschutzeinheiten, die später den Kern der SDF bildeten, gegen den Islamischen Staat (IS) auf dem Höhepunkt der Macht dieser extremistischen Organisation.7 Als die SDF in den nächsten fünf Jahren mit Unterstützung der USA den IS aus dem Nordosten vertrieben hatte, kam die Wehrpflicht auch in die neuen, mehrheitlich arabischen Gebiete,8 darunter Teile der Provinzen von Aleppo, Raqqa und Deir ez-Zor. Nach einer dreimonatigen Pause9 aufgrund der Corona-Pandemie nahmen Checkpoints und Patrouillen im letzten Sommer die Rekrutierung junger Männer wieder auf.

Das Büro, das für den sogenannten Selbstverteidigungsdienst verantwortlich ist, ist Teil der SDF-nahen Autonomieverwaltung und nicht der SDF selbst. Doch mehrere Bewohner, mit denen Al-Monitor sprach, ignorierten diese Unterscheidung. Sie sind nicht die einzigen: Offizielle SDF-Medien werben für die Selbstverteidigung10 und Abschlussklassen von Wehrpflichtigen11 marschieren unter der Flagge der SDF12 in Anwesenheit von Führern der SDF13. Truppen beider Gruppen kämpfen manchmal an den gleichen Fronten.14

Abhängig vom Tag passiert Ahmed auf seinem Weg innerhalb der Provinz Deir ez-Zor von Kasrah nach Zughayir drei Checkpoints. Dort arbeitet er für eine lokale humanitäre Organisationen. Wenn die Checkpoints von Militärpolizisten besetzt sind, die ihn festhalten könnten, dreht er um und verliert damit seinen Tageslohn. Das berichtete er Al-Monitor am 10. Februar. „Manchmal verpasse ich zwei Tage in der Woche die Arbeit; manchmal sogar öfter, manchmal seltener. Wenn ich in der Lage bin, die Checkpoints zu umgehen, über ein nahegelegenes Dorf zu gehen, kann ich zur Arbeit kommen. Gelegentlich kann ich sogar die ganze Woche arbeiten“, berichtete Ahmed. „Aber wenn es viele Checkpoints gibt, kann ich die ganze Woche nicht arbeiten.“

Wie geht er mit den Einkommenseinbußen um? „Wir essen nicht so viel“, sagte Ahmed und meinte damit seine Frau und sein Kind. „Wir legen Wert auf billiges Essen. Ich habe mir auch Geld von Freunden geliehen. Hoffentlich kann ich es zurückzahlen. … Ich kann mich nicht als Wehrpflichtiger melden. Ich habe eine Familie, die ich ernähren muss, und der Sold eines Wehrpflichtigen ist so gut wie nichts.“ Er beträgt 50.000 syrische Pfund im Monat, das sind nach dem Schwarzmarktkurs vom letzten Monat 19 €.

Bis zum vergangenen Januar fuhr Tareq Waren aus und beförderte Passagiere auf seinem Motorrad. Sein Bruder produziert auf dem Dorfmarkt Süßigkeiten. „Unser dritter Bruder wurde bei einem Luftangriff getötet. Seine Kinder leben mit uns unter einem Dach. Unsere Eltern sind verstorben.“ Das berichtete Tareq am 3. Februar aus dem nördlichen Teil von Deir al-Zor. „Letzten Monat war mein Bruder gerade dabei, seinen Laden zu öffnen. Da kam eine Patrouille vorbei und nahm ihn zur Rekrutierung mit. Er hatte die Süßigkeiten in den Ofen getan und alles an seinem Platz gelassen. Die Bonbons waren hinüber. Ich warf weg, was nicht mehr gerettet werden konnte und schloss den Laden. Ich weiß nicht, wie man Süßigkeiten herstellt.“

Tareq berichtete weiter: „Wir kümmern uns um Waisenkinder. Vor der Verhaftung meines Bruders konnten wir schon kaum die Ausgaben für unseren Haushalt decken.“ Dann wurde zudem die Benutzung von Fahrzeugen von den örtlichen Behörden verboten, da welche bei Attentaten benutzt wurden. So konnte Tareq den Verlust des Einkommens des Bruders auch nicht mit Fahrten mit seinem Motorrad kompensieren. „Jetzt mache ich Lieferungen zu Fuß“, sagte er, „und schleppe die Waren auf den Markt.“

Am 26. Januar gab die autonome Verwaltung den Jugendlichen eine Frist von 30 Tagen, sich bei den Einberufungszentren zu melden, um gemustert zu werden. Zum Zeitpunkt der Abfassung dieses Artikels scheint sich die Zahl der Verhaftungen in Deir ez-Zor zurückgegangen zu sein. „Es gibt aber keinen Beschluss, die Einberufungskampagne zu stoppen“, sagte ein Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation, der am Ostufer des Euphrat lebt. „Seit 14 Tagen nehmen (die Behörden) keine Menschen mehr mit und die Patrouillen zur Rekrutierung haben aufgehört. Ich weiß nicht, warum. Wir haben Angst, was nach der Pause kommt“, sagte er am 13. Februar gegenüber Al-Monitor.

Das Wehrpflichtgesetz15 von 2019 enthält Regelungen, mit denen wirtschaftliche Auswirkungen abgefedert werden sollen, darunter Ausnahmeregelungen für die einzigen Ernährer einer Familie. In der Praxis berichteten die jungen Männer, mit denen Al-Monitor sprach, dass ein Mangel an finanziellen Mitteln sowie Unsicherheit über die Regelungen zur Befreiung und Angst vor Verhaftung sie davon abhält, einen Antrag zu stellen. „Eine Befreiung zu bekommen, ist definitiv nicht sicher“, sagte Mahmoud, ein Mitarbeiter einer Nichtregierungsorganisation im Osten des Landes. „Es ist schwierig und kostet eine Menge Geld. Die Menschen hier sind arm. Und wir haben Angst, dass sie uns einkassieren, wenn wir einen Antrag stellen.“

„Ich habe gehört, dass Binnenflüchtlinge aus Gebieten, die nicht unter Kontrolle der SDF stehen, eine ‚arrivee card‘16 erhalten, mit der sie vom Dienst befreit sind“, sagte Ahmed, der aus Kasrah kommt. „Ich weiß nicht, ob das für mich funktionieren kann oder nicht. Das Problem ist, dass ich mir das Risiko nicht leisten kann. Ich habe Angst, dass sie mich dann mitnehmen und das Spiel vorbei ist.“

Es ist unklar, warum die Behörden im Nordosten auf die Dienstpflicht bestehen. Geht es darum, Personallücken zu schließen, eine gemeinsame politische Identität aufzubauen17 oder darum, andere Ziele zu erreichen? Zaydan al-Asi, Co-Vorsitzender des Verteidigungsbüros der Autonomiebehörde, reagierte nicht auf die Bitte von Al-Monitor, dies per WhatsApp zu kommentieren.

Das ursprüngliche Gesetz von 201418 stellte die Wehrpflicht als eine Pflicht dar, „um die Ehre, die Freiheit und die Existenz der Völker der Region zu schützen“. Es wurde verabschiedet, als kurdische Kräfte eine tapfere, letzte Verteidigung gegen den IS in der Stadt Kobani aufbauten. Heute kontrolliert die SDF den größten Teil des Nordosten Syriens und hat angesichts wiederholter türkischer Angriffe, eines weiterhin schwelenden IS-Aufstands und destabilisierender Aktionen des syrischen Regimes Widerstandsfähigkeit bewiesen.19

Angesichts der Bedrohung ihres wirtschaftlichen Überlebens gaben mehrere junge Männer, mit denen Al-Monitor sprach, zynische Kommentare darüber ab, warum die Wehrpflicht fortbesteht: Die Behörden versuchen Geld zu sparen. „Die meisten Leute sagen, dass es bei der Kampagne zur Rekrutierung um das Gehalt geht“, so Waleed, ein Tagelöhner im westlichen Umland von Deir ez-Zor. „Es gibt einen Unterschied bei den monatlichen Löhnen bzw. Sold, die den Berufssoldaten bzw. den Wehrpflichtigen angeboten werden. Bei den einen sind es 300.000 syrische Pfund, bei den anderen 50.000.“ So berichtete er am 3. Februar.

Omar, ein Lehrer aus dem Osten des Landes, schloss sich dieser Position an: „Wenn man heute die Rekrutierung für alle öffnen würde, würden drei Viertel der Arbeitslosen hingehen“, sagte er Al-Monitor am 4. Februar. „Natürlich würden sie das. Sie wollen leben, wie auch immer das möglich ist.“ Omer kann nach einer umstrittenen Entscheidung vom

Dezember 202020, mit denen Lehrer wehrpflichtig wurden, nun einberufen werden. „Es ist völlig unvernünftig, alle dazu zu bringen Waffen zu tragen; ein Arzt zum Beispiel, ein Mechaniker, ein Elektriker, ein Lehrer“, so Omar.

Letztes Jahr twitterte ein ehemaliger Sprecher der von den USA geführten Internationalen Koalition zur Bekämpfung des IS ein Video21, in dem zu sehen ist, wie US-Soldaten bei „einer Feier für eine Abschlussklasse von Rekruten der Selbstverteidigungskräfte in Deir ez-Zor“ auftreten. Der derzeitige Sprecher, Oberst Wayne Marotto, lehnte es ab, die Wehrpflicht zu kommentieren und erklärte: „Wir arbeiten mit und durch unsere Verbündeten – die irakischen Sicherheitskräfte, die Peschmerga und die Syrischen Demokratischen Kräfte – um die dauerhafte Niederlage (des IS) sicherzustellen.“

Nachdem sie fast ein Jahrzehnt Krieg erlebt haben, wollen einige junge Männer nichts anderes als in Ruhe gelassen zu werden. „Während der Revolution haben wir viele Brigaden erlebt“, sagte Waleed. „Die Freie Syrische Armee (FSA) bestrafte diejenigen, die es mit dem Regime hielten. Der IS bestrafte diejenigen, die es mit der FSA hielten. Die SDF bestrafte die vom IS. Und wer heute beim SDF ist, könnte morgen vom Regime oder der FSA bestraft werden.“

„Ich bin kein Gegner der hiesigen Verwaltung, im Gegenteil, sie sind gut“, fügte er hinzu. „Das Problem ist, dass die Menschen darum kämpfen, über die Runden zu kommen. Die Wehrpflicht erdrückt uns.“

Fußnoten

1 https://www.al-monitor.com/originals/2020/11/syria-deir-ez-zor-islamic-state-cells-kurds-sdf.html

2 https://kurzelinks.de/txs7

3 https://kurzelinks.de/nxcm

4 https://kurzelinks.de/3uz1

5 https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2019/12/syria-oil-smuggling-hyena-sdf-deir-ezzor-tankers.html

6 https://kurzelinks.de/xt6c7 https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2017/02/syria-deir-ezzor-islamic-state-fighting.html

8 https://kurzelinks.de/h92l

9 https://xeber24.org/archives/254168

10 https://www.youtube.com/watch?v=XMuqnTTEx8Q

11 https://kurzelinks.de/rc4a

12 https://www.youtube.com/watch?v=LkIRNIDerhk

13 https://www.youtube.com/watch?v=0_bJJmB66Dw

14 https://kurzelinks.de/ql6i15

15 https://xeber24.org/archives/187499

16 https://kurzelinks.de/r568

17 https://www.youtube.com/watch?v=V6cCEfYzI_k

18 https://kurzelinks.de/femo

19 https://kurzelinks.de/t0kk

20 https://kurzelinks.de/ai6s

21 https://kurzelinks.de/aks4

Dan Wilkofsky: In Syria‘s Deir ez-Zor, SDF conscription ‚severs livelihoods‘, 22. Februar 2021. https://www.al-monitor.com/pulse/originals/2021/02/syria-conscription-sdf-is-army-volunteer.html#ixzz6nr0J9OGm. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe April 2021

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