"Die Türkei ist ohne Zweifel ein Militärstaat"
Osman Murat Ülke hatte 1995 die Ableistung des Kriegsdienstes in der Türkei öffentlich verweigert und war ein Jahr später inhaftiert und wiederholt zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Anlässlich der Strafverfolgung von Mehmet Tarhan wurde er im Dezember 2005 von einer griechischen Zeitung interviewt.
Hat sich die Situation für Kriegsdienstverweigerer in der Türkei verschlechtert?
Osman Murat Ülke: Sie war schon zuvor nicht gut. Die Gesetzeslage hat sich nicht wirklich geändert. Die einzige Änderung ist, dass es kein Verbrechen mehr darstellt, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung zu unterstützen. Jedoch hat dies keine direkten Auswirkungen für die Kriegsdienstverweigerer selbst.
Die Zahl der Kriegsdienstverweigerer ist nicht wirklich bedeutsam. Es sind etwa siebzig. Deswegen vermeidet der Staat die Auseinandersetzung. Wenn er sich allerdings damit konfrontiert sieht, wie es bei Mehmet Tarhan, Mehmet Bal, Halil Savda und mir der Fall war bzw. ist, zeigt er seine geballte Macht. Das Vorgehen war in diesen Fällen sicherlich hart, jedoch nicht überraschend. Mehmet Tarhan stellt sich dem bislang härtesten Prozess. Aber es wäre weit hergeholt, seine Situation darauf zurückzuführen, dass es nun eine repressivere Verfahrensweise mit Kriegsdienstverweigerern gäbe.
Mehmet ist kompromisslos, was für den türkischen Militarismus und seine Vertreter sehr provokativ ist. Als ich im Gefängnis war, habe ich mich nie widersetzt, wenn mir die Haare geschnitten werden sollten, weil ich es als etwas ansah, was ich nicht verhindern kann. Aber Mehmet tut es. Deshalb muss er mit härteren Reaktionen fertig werden.
Warum wurdest Du Kriegsdienstverweigerer? Warst du nicht durch die Tatsache entmutigt, dass Du Dich nach deiner Gefängnisstrafe und Entlassung erneut zur Armee melden musstest?
Osman Murat Ülke: Ich entschied mich 1992, den Kriegsdienst zu verweigern, als es noch keine Kriegsdienstverweigerungsbewegung gab. Ich wusste nur von zwei Verweigerern, deren Auseinandersetzungen bereits zwei Jahre zurücklagen und erwartete wesentlich schlimmere Konsequenzen als dauerhaft illegalisiert zu sein. Zu dieser Zeit wurde die Erklärung der Kriegsdienstverweigerung als nichts anderes als ein selbstmörderisches und verrücktes Geschwätz wahrgenommen.
Dennoch entschieden wir zusammen mit einer Gruppe gleichgesinnter Freunde, den Militarismus herauszufordern, weil es der einzige Weg schien, unsere persönliche Integrität und unsere politische Haltung zu bewahren. Wir wählten die offene Konfrontation mit dem Staat, um gewaltfreie Methoden des Ungehorsams zu zeigen - ein lächerlicher Plan von einigen vereinzelten Befürwortern eines sozialen Wechsels. Ich glaube jedoch, dass dieser Kampf der letzten 15 Jahre der Oppositionskultur in der Türkei bedeutende Impulse gegeben hat.
Es ist nun nicht mehr lächerlich, hierarchiefreie und gewaltfreie Aktionen vorzuschlagen, um Ungerechtigkeit und Unterdrückung zu überwinden.
Zum zweiten Teil der Frage: Kriegsdienstverweigerer bewegen sich in einer gesetzlichen Grauzone. Es gibt weder ein Gesetz, das Kriegsdienstverweigerung erlaubt, noch eines, das sie verbietet. Deshalb sieht sich ein Kriegsdienstverweigerer ständig der Verfolgung als ein ungehorsamer "Soldat" ausgesetzt.
Diese Situation wird nicht für immer andauern. Das Gerichtssystem wird früher oder später dem wachsenden Druck der AntimilitaristInnen, ihren örtlichen VertreterInnen, internationalen UnterstützerInnen sowie der Europäischen Union weichen, die bereits deutliche Normen gesetzt hat. Der erste Schritt wird sein, dass Kriegsdienstverweigerung als Straftatbestand erklärt wird, was ironischer Weise den AntimilitaristInnen zu Gute kommt. Wenn es nämlich ein Gesetz gibt, das Kriegsdienstverweigerung bestraft, wird das dazu führen, dass Kriegsdienstverweigerer nach ihrer Haftstrafe vom Militärdienst befreit sein werden. Das wird zu weiteren Verweigerern führen, die dann in der Lage sein werden, einzuschätzen, was sie erwartet. Wann und wie die Kriegsdienstverweigerung schließlich legalisiert wird, ist eine andere Sache.
Ich selbst warte darauf, dass mein Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg verhandelt wird. Meine Klage basiert auf dem zuvor erwähnten Dilemma, einerseits nicht legalisiert zu sein und andererseits nicht vom Militärdienst befreit zu sein. Mein Fall gilt als Präzedenzfall und wird Auswirkungen auf die weitere Entwicklung haben. Mein Anwalt erwartet, dass der Fall 2006 abgeschlossen werden wird.
Welcher Behandlung musstest Du Dich im Gefängnis unterziehen? Warst du Zeuge von Morden oder anderen Misshandlungen von Gefangenen?
Osman Murat Ülke: Ich habe verschiedene Gefängnisse und Militärbasen gesehen. Ich habe zwei Jahre an sieben Orten verbracht, die alle sehr unterschiedlich sind. Dank der Solidaritätskampagne und meiner klaren gewaltfreien aber bestimmten Haltung in diesen Einrichtungen schaffte ich es, bis auf ein oder zwei einzelne Zwischenfälle, zu vermeiden, direkter physischer Gewalt ausgesetzt zu sein. Jedoch gab es viel strukturelle und psychologische Gewalt. Ich musste in einen Hungerstreik von 24 Tagen treten, um meine elementaren Rechte im Gefängnis zu erlangen.
Ich selbst bin Zeuge vieler Misshandlungen von Gefangenen gewesen - begangen sowohl von anderen Gefangenen als auch vom Gefängnispersonal. Das ist in türkischen Gefängnissen nicht unüblich. Ich kenne persönlich zwei Gefangene, die (von ihren Mitgefangenen) umgebracht wurden. Ich kenne viele geistig verstörte oder schwule Gefangene, die misshandelt wurden.
Wie stellt sich Deine momentane Situation dar? Spürst Du oder spürt Deine Familie irgendwelche Bedrohungen?
Osman Murat Ülke: Ich bin wie erwähnt illegalisiert. Das bedeutet, dass "sie" jederzeit entscheiden können, mich festzunehmen. Natürlich fühle ich mich bedroht. Ich habe keinen Zugang zu einem gültigen Pass, Sozialversicherung, fester Arbeit, Bankverbindung usw. Diese Einschränkungen begrenzen meine Möglichkeiten enorm, meine Zukunft zu planen und danach zu handeln. Sie stellen ebenfalls eine ständige Stressquelle dar. Wie auch immer, dies ist eine Phase in dem ganzen Prozess.
Beteiligt sich der türkische Geheimdienst auch daran, Kriegsdienstverweigerern das Leben schwer zu machen?
Osman Murat Ülke: Soweit ich weiß nicht. Kriegsdienstverweigerer sind das Problem der Streitkräfte. Sie werden sich da sicherlich nicht von Zivilisten reinreden lassen. Es ist nicht bekannt, welche Militärbehörde genau sich mit den Kriegsdienstverweigerern auseinandersetzt und die entsprechende Politik verfolgt. Ich vermute jedoch, dass der Generalstab das Vorgehen steuert. Die Ausübung dieser Politik übernimmt dann die Abteilung für Besondere Kriegführung (ÖHD) in Abstimmung mit der Zentralen Rekrutierungsbehörde (ASAL). Der paramilitärische Anti-Terror-Nachrichtendienst der Gendarmerie (JITEM) ist die Spezialeinheit, die auf Geheiß der zuvor erwähnten Behörden gegebenenfalls eingreift. Er ist mindestens in einem Fall eingeschritten, als Mehmet Bal zum zweiten Mal gefangen genommen wurde, um ihn anzuklagen.
Was denkst Du über das türkische Rechtssystem? Würdest Du die Türkei als Militärstaat bezeichnen?
Osman Murat Ülke: Die Türkei ist ohne Zweifel ein Militärstaat. Das Gerichtssystem besteht aus einem zivilen und einem militärischen Zweig. Beide Strukturen haben eigene Berufungsinstanzen, was sie zu zwei komplett voneinander getrennten Systemen macht. Das ist eine klare Verletzung der Souveränität des Volkes. Es gibt viele solcher Beispiele in den politischen Strukturen und der Tradition der Türkei. Die Armee versteht sich selbst als aufgeklärte Elite, die das Erbe der Gründung der türkischen Republik übernommen und demnach die Verantwortung hat, den Staat nicht nur gebietsmäßig sondern auch ideell zu verteidigen. Also ist die Armee der Auffassung, niemandem gegenüber verantwortlich zu sein, nur sich selbst.
Allerdings sind die Umbrüche in den politischen Strukturen und stärker noch in der Gesellschaft zu erwähnen. Der gesamte EU-Prozess nagt an den Quellen der Legitimität des autoritären und patriarchalischen Kerns des Staates. Eine Entscheidung in dieser Auseinandersetzung ist noch in weiter Ferne. Aber der türkische Militarismus und seine Vertreter haben einen wesentlich stärker eingeschränkten Spielraum als vor fünf oder zehn Jahren.
Interview mit Osman Murat Ülke. Übersetzung aus dem Englischen: Peter Gramlich. Es wurde am 2. November 2005 für Myrtos Boutsi, Griechenland, von Eleftheros Typos geführt. Der Beitrag erschien im Rundbrief »KDV im Krieg«, Januar 2006.
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