Kriegszerstörungen. Foto: Carabo Spain auf Pixabay

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Rekrutierungszentren in Syrien: Führen Oppositionsgruppen Wehrpflicht ein?

von Enab Baladi

(20.05.2021) Die der Opposition angehörenden bewaffneten Gruppen Hayat Tahrir al-Sham (HTS), Jaysh al-Izza (Army of Glory), und Ansar al-Tawhid, die im Nordwesten Syriens operieren, starteten Rekrutierungskampagnen, um neue Kräfte einzuberufen. Für die Rekrutierung wurde auf unterschiedliche Art und Weise geworben.

Die Erklärung der HTS, die den größten Teil des Bezirkes Idlib und Teile des westlichen Bezirkes Aleppo kontrolliert, schlug jedoch einen anderen Ton an als die beiden anderen Gruppen. Die HTS schlug in ihrer Ankündigung die Einrichtung von Rekrutierungszentren im gesamten Nordwesten Syriens vor.

Rekrutierungszentren sind für die von der Opposition kontrollierten Gebiete ein ungewohntes Konzept, auch wenn es Syrern grundsätzlich vertraut ist, da das Regime über solche Zentren Zwangsrekrutierungen vornimmt.

Vorspiel zur Wehrpflicht?

Ein Überläufer der Regierungsstreitkräfte und aktueller Kommandeur der Frontlinien sagte gegenüber Enab Baladi, die HTS habe den Vorschlag gemacht, um zu sehen, wie die Bevölkerung darauf reagiert. Er fügte hinzu, dass die HTS ihre Kampfbereitschaft bereits gestärkt habe. Die HTS verbinde mit den Rekrutierungszentren eigentlich andere Ziele, auch wenn bei Umsetzung des Vorschlages die Wehrpflicht eingeführt werde. Mit den Zentren wolle die HTS vor allem Parteien der Syrienfrage die Botschaft vermitteln, dass es in den von der HTS gehaltenen Gebieten sowohl zivile wie auch militärische Einrichtungen gebe.

Der Militärsprecher der HTS, Abu Khaled al-Shami, sagte gegenüber Enab Baladi, dass die Rekrutierungszentren eine Erweiterung der bisherigen Zentren darstelle. Er fügte hinzu, dass die Zentren die Angelegenheiten der Wehrpflichtigen und Freiwilligen regeln und organisieren werden.

Personen, die sich in den Rekrutierungszentren der HTS anschließen wollen, müssen zwischen 18 und 38 Jahre alt sein. Eie Zentren werden in Schlüsselgebieten eingerichtet und von zwei Kommissionen betrieben werden: Einer Aufsichtskommission, die aus Militärexperten besteht und einer Musterungskommission, die die Fähigkeiten der Rekruten anhand einer Reihe von Kriterien beurteilt. Es folgt eine Überprüfung, um Rekruten je nach Spezialisierung und Qualifikation Aufgaben zuzuweisen.

In dieser Phase des Syrienkonflikts und angesichts der Anforderungen, so erklärte al-Shami, sei es wichtig, eine moderne Armee aufzubauen, die in verschiedenen militärischen Gattungen ausgebildet ist. Er fügte hinzu: „Es ist unsere Pflicht als Volk und als Generation der Revolution Seite an Seite gegen die Besatzer zu stehen.“

Die übliche Anzeige zur Rekrutierung

Jaysh al-Izza, ein Ableger der Nationalen Front für die Befreiung (NFL), kündigte zeitgleich an, ab dem 17. Mai Rekruten aufzunehmen, die an der Grundausbildung teilnehmen wollen. Die Rekruten müssen zwischen 18 und 27 Jahre alt, gesund und in der Lage sein, mit Druck und dem Training klarzukommen.

Der Sprecher von Jaysh al-Izza, Oberst Mustafa Bakour, sagte gegenüber Enab Baladi, dass die Armee Anfang jeden Monats ähnliche Ankündigungen zur Rekrutierung herausgibt, die darauf abzielen, die Personalstärke der Armee zu erhöhen. Diese Ankündigungen seien Teil eines neuen Plans der Armee, der seit der Einrichtung des Trainingslagers im Jahr 2015 läuft. Die Bewerber würden eine Grundausbildung durchlaufen, bevor sie Brigaden und Bataillonen zugeteilt werden. Danach werde ihnen eine Spezialausbildung angeboten, bevor sie an den Kämpfen teilnehmen dürften.

Ansar al-Tawhid gab in der Ankündigung zur Rekrutierung bekannt, dass die ihr angeschlossene Jaysh al-Ansar (al-Ansar-Armee) nur Rekruten im Alter zwischen 16 und 30 Jahre aufnehmen wird. Personen, die sich der Armee anschließen wollen, müssten zunächst einen Aufnahmetest bestehen und sollten ohne dauerhafte Beeinträchtigungen und gesund sein. Außerdem sollten sie eine Referenz von einem Mitglied der bewaffneten Gruppen vorlegen. Nach Teilnahme an der militärischen und Scharia-Ausbildung seien alle Wehrpflichtigen verpflichtet zur Teilnahme an Trainingsprogrammen der Armee.

Ansar al-Tawhid operiert seit Mai 2020 als unabhängige bewaffnete Gruppe, nachdem sie sich von der ehemaligen Einsatzzentrale Wa Harid al-Mu’menin (Weckt die Gläubigen) gelöst hatte, die aus mehreren dschihadistischen militärischen Gruppen bestand. Anschließend gründeten diese dschihadistischen Gruppen die Einsatzzentrale Fathbutuu (Sei standhaft).

Die Militärgruppe ist ein Ableger der Jund al-Aqsa, die Mitte 2021 von Kommandant Abu Abdulaziz al-Qatari gegründet worden war. Der Kommandeur kam 2014 unter verdächtigen Umständen ums Leben. Seine Leiche wurde in der Stadt Deir Sunbul gefunden, in der Nähe des Hauptquartiers der ehemaligen Syrischen Revolutionären Front. Der Anführer der Front wurde beschuldigt, den Kommandanten ermordet zu haben.

Der Bezirk Idlib unterliegt derzeit dem Moskauer Waffenstillstandsabkommen, das vom türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin unterzeichnet wurde. Das Abkommen sieht die Einrichtung eines humanitären Korridors und die Durchführung gemeinsamer türkisch-russischer Patrouillen auf der internationalen Fernstraße M4 vor. Die Patrouillen decken ein Gebiet der Straße ab vom Dorf Tronba, östlich von Idlib, bis zum von der Opposition gehaltenen Dorf Ain Hoor, westlich von Idlib.

Russische sowie Kräfte des Regimes haben mit Infanteriebeschuss und Luftangriffen auf die von der Opposition gehaltenen Gebiete wiederholt gegen den Waffenstillstand verstoßen. Seit Anfang 2021 bis zum 6. Mai haben die Einheiten des Zivilschutzes auf über 420 Angriffe der russischen sowie der Kräfte des Regimes reagiert. Bei den Angriffen wurden 53 Personen, darunter 10 Kinder und neun Frauen, getötet sowie 136 Personen verletzt. Die Angriffe richteten sich vor allem gegen zivile Wohnhäuser, landwirtschaftliche Flächen und verschiedene wichtige Einrichtungen im Nordwesten Syriens.

Enab Baladi: Draft Centers in northwestern Syria: Are opposition factions mandating conscription? 20. Mai 2021. Quelle: https://english.enabbaladi.net/archives/2021/05/draft-centers-in-northwestern-syria-are-opposition-factions-mandating-conscription/#ixzz6vf8s2pnq. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe September 2021

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