Vorwort

Zur Broschüre Kriegsdienstverweigerung in der Türkei, 2021

von Rudi Friedrich

(15.05.2021) In der Türkei hatten Anfang der 1990er Jahre die ersten öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt und sind gegen Krieg, Militär und Zwangsdienst aufgestanden. Zuerst waren es nur wenige, die sich dazu entschlossen, an die Öffentlichkeit zu gehen, wie Vedat Zencir, Tayfun Gönül oder Osman Murat Ülke. Inzwischen gibt es weit mehr als 1.000 Wehrpflichtige, die ihre Kriegsdienstverweigerung erklärten. Darüber hinaus haben sich Hunderttausende auf andere Art und Weise der Wehrpflicht entzogen oder sind untergetaucht. Einige Hundert haben aufgrund der drohenden Verfolgung im Ausland Asyl gesucht.

Diese Broschüre erscheint 30 Jahre nach den ersten öffentlichen Verweigerungserklärungen. Sie zieht Resümee, beschreibt die Solidaritätsarbeit für die Kriegsdienstverweigerungsbewegung aus dem Ausland und sie lässt Verweigerer zu Wort kommen, die zum Teil über Jahre hinweg in der Türkei aktiv waren und nun ins Exil gegangen sind.

Die Broschüre erscheint zugleich zum 15. Mai 2021, dem Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung. Viele weitere Veranstaltungen, Videos und Aktionen werden den Verweigerern aus der Türkei in der ganzen Welt Gehör verschaffen. Mehr dazu unter https://de.Connection-eV.org/KDV-Tag2021 und www.wri-irg.org/en/CODay2021.

Weiter kein Recht auf Kriegsdienstverweigerung

Inzwischen ist die Türkei das einzige Mitgliedsland des Europarates, das das Recht auf Kriegsdienstverweigerung nicht anerkennt. Durch verschiedene Maßnahmen sollen Kriegsdienstverweigerer zur Ableistung des Militärdienstes gezwungen werden. So sehen sie sich ständigen Haftbefehlen ausgesetzt, einer lebenslangen Verfolgung und Inhaftierung. Darüber hinaus befinden sie sich in einem Zustand des „Zivilen Todes“, mit dem sie aus dem sozialen, kulturellen und wirtschaftlichen Leben ausgeschlossen sind.

Zur Wehrpflicht und auch zur Länge des Militärdienstes gab es gesetzgeberische Schritte. So wurde der Militärdienst 2019 für Wehrpflichtige mit dem neuen Rekrutierungsgesetz auf sechs Monate reduziert. Der vor einigen Jahren von der HDP (Demokratische Partei der Völker) vorgelegte Gesetzentwurf zur Kriegsdienstverweigerung war hingegen mit den Stimmen der Regierungspartei sowie anderer Parteien abgelehnt worden. Auch im Gesetzgebungsverfahren für das neue Gesetz 2019 wurden Vorschläge der HDP abgelehnt. Infolgedessen findet sich dort nichts zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung.

Es gibt eine Besonderheit in der Türkei: Die Ersatzzahlung zur Verkürzung des Militärdienstes für Wehrpflichtige. Nach Artikel 9 des Rekrutierungsgesetzes ist es durch Zahlung eines Betrages von umgerechnet etwa 5.000 € möglich, den Militärdienst auf einen Monat zu reduzieren. Da dies aber weiterhin eine militärische Ausbildung einschließt, stellt die Ersatzzahlung keine Möglichkeit für Kriegsdienstverweigerer dar.

Strafverfolgung und Ziviler Tod

In der Türkei werden Kriegsdienstverweigerer als Militärdienstentzieher kriminalisiert. Es wird ein dauerhaft gültiger Haftbefehl ausgestellt. Dadurch können sie bei jeder Ausweiskontrolle durch Polizei oder Gendarmerie festgenommen werden. Nach der ersten Festnahme wird eine Geldstrafe verhängt. Sie erhalten zugleich eine neue Einberufung und sind damit weiter wehrpflichtig. Wenn die Verfügung über die Geldstrafe in Kraft getreten ist, hat jede weitere Festnahme ein neues Verfahren nach Artikel 63 des Militärstrafgesetzbuches zur Folge. Der Kriegsdienstverweigerer kann dann mit zwei Monaten bis zu drei Jahren Haft oder zu einer Geldstrafe verurteilt werden, was derzeit die Regel ist.

Zudem sind sie durch den Teufelskreis aus Verhaftung, Strafverfahren und erneuter Rekrutierung im Verbund mit einer lebenslang gültigen Wehrpflicht einem „Zivilen Tod“ ausgesetzt, ein Begriff, den der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Urteil Ülke gegen Türkei (Ülke v. Turkey, application no. 39437/98) prägte.

Kriegsdienstverweigerer können weder im öffentlichen noch im privaten Sektor arbeiten, da es als Straftat angesehen wird, Militärdienstentzieher zu beschäftigen. Verweigerer sind so dazu gezwungen, arbeitslos zu bleiben oder illegal in unsicheren Beschäftigungsverhältnissen zu arbeiten. Kriegsdienstverweigerer haben auch kein Recht an einer Wahl teilzunehmen oder für eine Wahl zu kandidieren. Weil jede Verhaftung eine weitere Strafverfolgung nach sich zieht, müssen Kriegsdienstverweigerer Aktivitäten im sozialen, wirtschaftlichen, juristischen und kultu-

rellen Bereich vermeiden: Sie können keine Reisepässe oder Führerscheine beantragen. Jeder Aufenthalt in Hotels, Reisen, Benutzung des öffentlichen Nahverkehrs, Besuchen von Behörden und vieles mehr kann zur Verhaftung führen. Sie sind so dazu gezwungen, ein Leben im Untergrund zu führen.

Da es trotz der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte keine Änderungen gibt, hat zuletzt im Juni 2020 das Ministerkomitee des Europarates, das über die Umsetzung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes wacht, Stellung bezogen. Wir dokumentieren den Beschluss auf Seite 6.

Diese Situation trifft auch auf die Wehrpflichtigen zu, die sich geweigert haben, zur Armee zu gehen, aber bislang ihre Kriegsdienstverweigerung nicht öffentlich erklärt haben.

Hinzu kommt, dass ihre öffentlichen Äußerungen, z.B. auf Pressekonferenzen, Aktionen oder auch in den Sozialen Medien strafrechtlich verfolgt werden können. Nach Artikel 318 des Türkischen Strafgesetzbuches ist die „Distanzierung des Volkes vom Militär“ unter Strafe gestellt. Auch eine Strafverfolgung wegen „Propaganda für eine terroristische Organisation“ auf Grundlage von Artikel 7/2 des Anti-Terror-Gesetzes ist möglich. Beide Strafandrohungen wurden in den vergangenen Jahren gegen Kriegsdienstverweigerer und Aktive für Frieden und Menschenrechte angewandt.

Der Weg ins Exil

Die Situation in der Türkei führt dazu, dass immer wieder Kriegsdienstverweigerer im europäischen Ausland Schutz und Asyl suchen. Hier müssen sie allerdings erleben, dass die Verfolgung wegen Kriegsdienstverweigerung in der Regel nicht als Asylgrund gilt. Üblicherweise wird die Verfolgung als legitime Maßnahme zur Aufrechthaltung der Wehrpflicht gewertet. Dann droht ihnen die Abschiebung an die Kriegsherren in der Türkei. Das ist ein unerträglicher Zustand. Welche Grenzen und Möglichkeiten das Asylverfahren hat, das wird im Beitrag Kriegsdienstverweigerung und Asyl ausgeführt.

Ein Schwerpunkt dieser Broschüre sind die Berichte der Kriegsdienstverweigerer, die ins Exil gegangen sind. Sie zeigen die alltägliche Realität des Militarismus in der Türkei. Beran Mehmet İşçi, Ercan Aktaş, Halil Savda, Mertcan Güler und Onur Erden machen deutlich, wie wichtig ihnen ihre Entscheidung gegen Krieg und Gewalt ist und welchen Repressionen sie deshalb ausgesetzt waren. Trotz all der Haft, Folter und Repressionen, die sie erlitten haben, strahlen die Berichte etwas Positives aus: Für eine Welt ohne Krieg, Unterdrückung, Militär und Gewalt.

Rudi Friedrich: Vorwort zur Broschüre Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. Herausgegeben von Connection e.V., Union Pacifiste de France und War Resisters International, Mai 2021

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