Wie es ist in Europa als Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei?

von Beran Mehmet İşçi

(15.05.2021) Ich heiße Beran Mehmet İşçi. Ich komme aus der Türkei und bin kurdischer Herkunft (Zaza1). Ich bin Kriegsdienstverweigerer, Autor und Poet. Im November 2018 erklärte ich in der Türkei meine Kriegsdienstverweigerung. Aufgrund der dortigen Situation musste ich mich eine Weile verstecken. Es war aber immer die Frage, wie ich mein Leben weiter fortsetzen könnte. Da ich keine andere Möglichkeit mehr sah, beschloss ich schließlich, nach Europa zu gehen, um Asyl zu beantragen. Im Februar 2019 erreichte ich Deutschland und beantragte Asyl.

Aufgrund meiner politischen Aktivitäten, die ich nach meiner Ankunft in Deutschland fortgesetzt habe, nehme ich nun zum zweiten Mal an einem Projekt zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, dem 15. Mai, teil. Er wird jedes Jahr von verschiedenen Organisationen weltweit vorbereitet und durchgeführt. Anlässlich des diesjährigen 15. Mai will ich so kurz und prägnant wie möglich beschreiben, welchen Schwierigkeiten ich mich hier in Deutschland gegenübersehe.

In den ersten beiden Wochen in Deutschland suchte ich nach näheren Informationen zum Asylverfahren und einen Anwalt. Da es in der Türkei kein gleichartiges Asylverfahren gibt, waren das für mich wichtige Fragen. Nach ungefähr zwei Wochen traf ich mich mit meinem Anwalt, um rechtliche Informationen zu erhalten und gab ihm eine Vollmacht. Er sagte mir mehr oder weniger voraus, was passieren würde.

Wichtiger war es jedoch, Informationen von anderen Flüchtlingen zu erhalten. Aufgrund der großen Zahl von Flüchtlingen aus dem syrischen Bürgerkrieg hatte sich die Haltung der europäischen Staaten und Gesellschaften gegenüber Flüchtlingen geändert, unabhängig davon, wo sie herkommen. Ich konnte beobachten, dass sich die Situation und Einstellungen der Menschen sehr stark unterschied von dem, was ich aus den 80er und 90er Jahren erfahren hatte. Nun bin ich es, der berichten wird, wie ich die Situation erlebe, die ich seit ungefähr zwei Jahren beobachten kann, mit allen positiven wie negativen Aspekten.

Nach den Gesprächen meldete ich mich bei einer Außenstelle des Bundesamtes für Migration in Karlsruhe und stellte einen Asylantrag. Nach einer Nacht in der dortigen Unterkunft wurde ich in die Stadt Heidelberg verlegt. Dort wurden meine Daten abgefragt und Fingerabdrücke genommen. Mir wurde gesagt, dass ich danach nach Bayern verlegt werden würde, was nach etwa drei Tagen geschah.

Nun kam ich in ein Asylzentrum für 800 Personen in Donauwörth, einer kleinen Stadt in Bayern. Es war nicht einfach eine Asylunterkunft, sondern vielmehr ein ganzer Komplex. Er enthält auch Gebäude für das Bundesamt für Migration, die Zentrale Ausländerbehörde (ZAB) und ein kleines medizinisches Zentrum. Dort fand daher auch das Interview statt, das ich mit den deutschen Behörden für meinen Asylantrag führte.

Einige Monate, nachdem ich diese Unterkunft wieder verlassen hatte, wurde genau über dieses Lager in verschiedenen Medien und Zeitungen in der Türkei berichtet. Dabei wurden Personen als Terroristen gebrandmarkt und denunziert, die in dem Lager waren. Das bedeutete auch: Wer als Flüchtling dort war und es schafft dieses Lager wieder zu verlassen um draußen ein neues Leben zu beginnen, muss sich in Acht nehmen vor nationalistischen und islamistischen Türk*innen. Schließlich hatten die Medien, die unter der Kontrolle von Organisationen stehen, die von diesen Menschen unterstützt werden, diese Flüchtlinge als Terroristen und Staatsfeinde ins Visier genommen.

 Nach der allgemeinen soziologischen Definition sind Terroristen Personen, die ihre politischen Ziele mit Waffengewalt gegen einen Staat versuchen durchzusetzen. Es ist lächerlich, dass die Türkei nun genau diejenigen als Terroristen bezeichnet, die keine Waffen in die Hand nehmen, wie ich und alle anderen Kriegsdienstverweigerer, die dort im Lager waren.

Ungefähr einen Monat nach Verlegung in diese Einrichtung fand im April 2019 ein Treffen mit einem Beamten des Bundesamtes und einem Übersetzer statt. Es dauerte etwa vier Stunden. Ich war weder Druck noch sich wiederholenden Fragen des verantwortlichen Beamten ausgesetzt, da ich mein Leben chronologisch beschrieb. Folglich hatte der Beamte nicht viel zu fragen.

In der Anhörung war ich keinem großen Druck und Zwang ausgesetzt. Ich muss aber darauf hinweisen, dass die Haltung des verantwortlichen Beamten mir gegenüber fordernd und autoritär war. Das spürte ich insbesondere, als es um verschiedene gesellschaftliche Ereignisse in der Türkei ging. Dann versuchte der Beamte Einfluss zu nehmen und verwies darauf, dass er „genügend Informationen über das Land habe, aus dem sie kommen.“ Er sagte dann: „Sie können weiter mit ihrer Geschichte fortfahren.“ Er teilte mir mit, dass ich nur Dinge berichten soll, die meine Person betreffen.

Aufgrund meiner Kenntnis über die Anforderungen und Richtlinien des Asylverfahrens wusste ich bereits, dass die Beurteilung einer Person nur aufgrund der Ereignisse, denen diese Person ausgesetzt war, erfolgt. In der Türkei fanden jedoch mehrere bewaffnete Auseinandersetzungen statt, Selbstmordattentate wie der in Ankara, bei dem 100 Menschen getötet wurden, von denen ich einige kannte. Das betraf mich. Und so sagte ich, dass ich über die Ereignisse, Prozesse und politischen Entwicklungen berichten muss. Es sind diese Konflikte, die Toten und die Brutalität, die meine Entwicklung bestimmten. Die Auseinandersetzung damit beeinflussten meine Wahrnehmung und sorgten dafür, Pazifist und folglich ein Kriegsdienstverweigerer zu werden. In einer Gesellschaft, in der es keinen Krieg, keine Feindseligkeit oder Brutalität gibt, wäre nicht mit der Entstehung einer Antikriegshaltung sowie Pazifismus oder Antimilitarismus zu rechnen.

Fast jeder Mensch ist gegen Krieg und lehnt ihn ab. Aber ein Mensch, der das Entsetzen erlebt, das aus diesem Chaos entsteht, hasst Krieg. Daher wollte ich in dem Interview aufzeigen, welche politischen Hintergründe für meine Kriegsdienstverweigerung ausschlaggebend sind, indem ich über mein persönliches politisches Leben und meine Vorbilder sprach.

Ungefähr sechs Monate später erhielt ich den Bescheid des Bundesamtes, eine Ablehnung. Jetzt sah ich, dass das, was ich sagen wollte, nicht verstanden wurde. Selbst wenn es verstanden wurde, wurde es als nicht ausreichend angesehen. Nur halbherzig wurden von mir einige Sätze wiedergegeben. Nicht eingegangen und nicht gewürdigt wurden die Menschenrechtsverletzungen, die der Europäischen Union und dem deutschen Parlament sehr wohl bekannt sind.

In dem Bescheid des Bundesamtes für Migration wurde auf die säkulare Verfassung der Republik Türkei von 1982 verwiesen und davon ausgegangen, dass die Türkei ein freies und demokratisches Land sei. Dabei wussten die Behörden so gut wie ich, dass die Verfassung von 1982 aus einem Putsch hervorging. Sie widerspricht säkularen, demokratischen und freien Konventionen. Tausende sind vor der unmenschlichen Haltung dieses Staates geflohen. Zu glauben, dass die Türkei dennoch ein demokratisches Land sei, ignoriert den Militärputsch, der nichts als Brutalität und Massaker hervorgebracht hat. Es ist traurig, festzustellen, welche Position deutsche Behörden vertreten.

In der Entscheidung wurde auch ausgeführt, dass ich als Kriegsdienstverweigerer keiner grundlegenden Menschenrechtsverletzung ausgesetzt sei, in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtskonventionen und –vereinbarungen. Das Militärdienstgesetz sei Angelegenheit der Länder. Die Grundlage eines Flüchtlingsschutzes sei die Verfolgung und Menschenrechtsverletzung einer Person. Mir wurde daher kein Asyl gewährt.

Wir wissen, dass Kriegsdienstverweigerer in der Türkei nicht legal arbeiten können, keine Ausbildung, kein Studium erhalten können. Sie erhalten keinen Pass, können nicht heiraten und nicht ihre Kinder anerkennen. So wird Kriegsdienstverweigerern in der Türkei das Recht auf Arbeit, das Recht andere nicht zu töten, das Recht auf Ausbildung, Reisefreiheit, Ehe und auf Kinder verwehrt. In der Szene der Kriegsdienstverweigerer wird dies als Ziviler Tod benannt.

Zudem: Männer die keinen Militärdienst abgeleistet haben, werden in der Gesellschaft nicht als Männer angesehen. Männer wird die Heirat verwehrt, wenn sie ihren Militärdienst nicht abgeleistet haben. Es ist ein entsetzlicher sozialer Druck. Als Kriegsdienstverweigerer war ich entsetzt zu sehen, welchen Menschenrechtsverletzungen und welcher Verfolgung ich ausgesetzt bin.

In dem Bescheid des Bundesamtes heißt es auch, dass ich die Ersatzzahlung für die Ableistung des Militärdienstes zahlen könnte. Dafür hätte ich doch die Gebühr für die Menschenschmuggler verwenden können. Auf diese Weise müsste ich keinen Militärdienst ableisten. So wurde meine Kriegsdienstverweigerung nicht ernst genommen. Solch eine Haltung hat mich schockiert, gerade angesichts dessen, dass der Beamte doch mehrmals betont hatte, er kenne die Situation in der Türkei gut. Wer die Türkei kennt, wer die Politik verfolgt, für den ist solch eine Argumentation völlig unverständlich.

Für mich ist klar, wer die Ersatzzahlung zur Ableistung des Militärdienstes in der Türkei zahlt, muss dennoch einen einmonatigen Militärdienst ableisten. Auch wenn es also kein sechsmonatiger Militärdienst mehr ist, so wäre ich doch Situationen ausgesetzt, die ich als Kriegsdienstverweigerer nicht akzeptieren kann: das Tragen einer Uniform, Ausbildung an der Waffe, Empfang und Erteilung von Befehlen. Eine Verfolgung oder eine Menschenrechtsverletzung kann eine Stunde dauern oder auch hundert Jahre. Es ist nicht hinnehmbar, dass durch eine zeitliche Verkürzung der Menschenrechtsverletzung diese legitimiert wird. Am Ende ist mein Problem nicht, ob der Militärdienst sechs Monate abzuleisten ist oder nur einen Monat. Das Problem ist der Militärdienst an sich.

Im Grundgesetz von Deutschland steht im Artikel 4 Absatz 3: „Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden.“ In Anbetracht dessen sollten die Beamten eines Staates, in dem dieses Problem bereits vor Jahrzehnten gelöst wurde, ausreichend darüber informiert sein, was Kriegsdienstverweigerung bedeutet. Wenn die Frage jedoch in einem Asylverfahren thematisiert wird, besteht die Haltung eindeutig darin, die Werte des Antragstellers, der einen hohen Preis für seine Überzeugung zahlt, vereinfacht darzustellen.

Selbst wenn es keine Pflicht zur Ableistung eines Militärdienstes gäbe, widerspräche es meinem Gewissen und moralischen Werten, der Armee Geld zu zahlen. In diesem Fall werde ich zwar selbst keine Menschen töten, ich helfe aber anderen und der Institution Militär dabei, dies zu tun. Ich feuere nicht selbst eine Bombe an der Front ab, habe aber für die Bomben bezahlt, die von anderen abgefeuert werden. Menschen sterben mit dem Geld, das ich bezahle, egal ob sie bewaffnet sind oder Zivilpersonen. Ich unterstütze das Konzept einer Totalverweigerung, das unter Kriegsdienstverweigerern diskutiert wird. Mit anderen Worten: Selbst wenn es keine Wehrpflicht gäbe und kein Geld zu zahlen ist, lehne ich es ab, stattdessen in anderen staatlichen Institutionen zu dienen.

Das wird unter Kriegsdienstverweigerern kontrovers diskutiert. Zuerst muss es um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gehen. Dennoch ist für mich klar, dass ich es nicht akzeptieren könnte, einen Ersatzdienst abzuleisten, wenn er eingeführt werden würde. Ich will meine Freiheit nicht an einem Ort verlieren, an dem ich nicht sein möchte, an einen Job, den ich nicht machen möchte, an einen Beruf, für den ich keine Zeit aufbringen will.

Angesichts all dessen ist es offensichtlich, dass ich wie alle anderen Kriegsdienstverweigerer Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt war. Ich habe oben das deutsche Grundgesetz zitiert. Ich erlebe, dass ein Staat behauptet, dass jemand, dem ein Grundrecht in seinem Land entzogen wird, nicht seiner Grundrechte beraubt wird. Das ist ein bisschen verwirrend. Aber leider ist es so.

In dem Bescheid heißt es auch, dass es in der Armee auch viele „loyale kurdische“ Soldaten gibt, die beruflich sehr hohe Positionen erreicht haben. Es wird jedoch nicht gesagt, welcher Haltung sich die Kurden ausgesetzt sehen, die nicht loyal sind, sich in welcher Art und Weise auch immer gegen Staat und Regierung stellen. Die Aussage der Behörde heißt also: Wenn Sie ein hingebungsvoller Kurde wären, hätten Sie möglicherweise gar kein Problem.

In diesem Diskurs spiegelt sich eine sanktionierende und bedrückende Mentalität. Darüber hinaus wird meine grundsätzliche Kriegsdienstverweigerung, die ich während des Interviews benannt habe, reduziert darauf, Kurde zu sein. Dann, so die Aussage, habe sie keine politische Gültigkeit.

Im Interview sagte ich, wenn ich als Kurde zum Militär gehe, muss ich meinem eigenen Volk Gewalt antun, gegen bewaffnete Personen oder auch gegen Zivilpersonen. Dies ist einer der Gründe für meine Weigerung, meine Gewissensentscheidung, Militärdienst zu leisten. Aber das einzige, was die deutsche Behörde daraus machte, war, dass ich als Kurde nicht zum Militär gehen will.

Den Konflikt musste ich sehr wohl erwähnen. Die Türkei befindet sich seit 40 Jahren im Konflikt mit dem kurdischen Volk und die Mehrheit der oppositionellen Organisationen besteht aus Kurd*innen.

Wir alle erinnern uns an die Reaktionen des Europäischen Parlaments, der Europäischen Union, der Staaten, Medien und der Öffentlichkeit in Europa, als Erdoğan die Militäroperation über die Grenze hinweg in Syrien startete. Fast überall auf dem Kontinent wurde gesagt, dies sei der Versuch eines Massakers gegen kurdische Zivilpersonen in Syrien. Es ist schwer, den Unterschied des Diskurses von damals und heute zu verstehen. Ich denke, dass damals die Reaktionen über den Tod kurdischer Zivilpersonen nicht wirklich Besorgnis ausdrückten, sondern Angst vor einer erneut großen Zahl von Flüchtlingen. Auch wenn ich versuche, eine gute Absicht darin zu entdecken, komme ich zu dieser Feststellung.

Trotz all dieser Schwierigkeiten und Konflikte muss ich feststellen, dass ich meine Hoffnung nicht verloren habe. Es ist das Größte, diesen gerechten Kampf am Leben zu erhalten, Widerstand zu leisten, nicht aufzuhören, laut aufzuschreien. Ich musste mich vor der gefährlichen Situation in der Türkei retten. Ich bin nicht hierher gekommen, um ein angenehmes Leben zu führen, sondern stellvertretend für die vielen, denen ihre Rechte genommen werden. Meine Ethik verlangt von mir, für Tausende von Menschen die Stimme zu erheben. Es gibt nichts besseres, als abzulehnen, ein Mörder zu werden.

Ich werde meinen Kampf fortsetzen, bis dieses Recht allen Gegner*innen von Krieg und Gewalt auf der Welt zusteht. Kriegsdienstverweigerung ist ein Menschenrecht. Es nicht anzuerkennen ist eine Menschenrechtsverletzung. Wenn das Recht einer Person verletzt wird, verletzt das die Rechte aller Menschen auf der Welt. Damit lade ich alle Menschen dazu ein, deren Rechte verletzt wurden, ihre Rechte zu verteidigen.

Ich gratuliere allen Kriegsdienstverweigerern in der ganzen Welt, die den verschiedensten Arten unmenschlicher Behandlung und Verletzung ihrer Rechte ausgesetzt waren, nur damit sie nicht zu Mördern werden. Ich möchte mich mit Euch am 15. Mai treffen, in Freiheit.

Ununterbrochenes Gewissen, bedingungsloser Frieden.

Fußnote

1 Zaza ist eine Bevölkerungsgruppe in Ostanatolien mit drei bis vier Millionen Personen

Beran Mehmet İşçi: Wie es ist in Europa als Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei? 15. Mai 2021. Der Beitrag erschien in der Broschüre "Kriegsdienstverweigerung in der Türkei", Mai 2021. Hrsg.: Connection e.V., War Resisters International und Union Pacifiste de France

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