25 Jahre Solidarität mit Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei

von Franz Nadler

(15.05.2021) Wie die Welt sich doch verändert! Widerstand gegen den Militärdienst gab es wohl schon immer, vor allem als Fahnenflucht und Desertion. Die Kriegsdienstverweigerung (KDV), die offene Ablehnung des Militärdienstes, gar jenseits von zumeist christlichen religiösen Gruppierungen, entwickelte sich erst Anfang des 20. Jahrhunderts vor allem in den Ländern der nördlichen Hemisphäre. Ein erstes Recht auf Kriegsdienstverweigerung entstand 1921 in Norwegen; in Deutschland erst 1949 als Reaktion auf die massenhafte Verfolgung und Ermordung von Kriegsgegner*in­nen durch den Faschismus. Aber auch in anderen „christlichen“ Ländern setzte es sich immer mehr durch, zuletzt 1992 in der Schweiz.

Dass die Kriegsdienstverweigerung auch in anderen Kulturkreisen jemals eine Relevanz entwickeln könnte, galt noch in den 70er Jahren, in denen ich politisch sozialisiert wurde, als nahezu ausgeschlossen. Heute ist es gerade andersherum. In Deutschland gibt es praktisch keine entsprechende Bewegung mehr, nachdem die Wehrpflicht ausgesetzt wurde, da die Mehrheit verweigerte bzw. untauglich war und um die Bundeswehr zu professionalisieren. Jetzt ist die Frage der Kriegsdienstverweigerung nur noch für relativ wenige Soldat*innen und Reservist*innen relevant. Im Gegensatz dazu nimmt die Bedeutung der Kriegsdienstverweigerung z.B. in der islamisch geprägten Türkei seit Jahren an Bedeutung zu.

Unsere Geschichte

Wir hatten hier in Offenbach im Rahmen der Deutschen Friedensgesellschaft-Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (DFG-VK), auch aufgrund eigener Erfahrungen mit den schikanösen Gewissensprüfungen, Ende der 70er Jahre eine Beratung für Kriegsdienstverweigerer aufgebaut, die gerne in Anspruch genommen worden ist. Darüber hinaus betätigten wir uns antimilitaristisch im Rahmen der Friedensbewegung, wobei uns immer die internationale Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten wichtig war.

Als in der BRD das Kriegsdienstverweigerungsverfahren vereinfacht wurde und sich der Beratungsbedarf verringerte, konzentrierten wir uns zunächst auf den Zivildienst, der ja eine Erfüllung der Militärdienstpflicht darstellt und zugleich eine entrechtete (Zwangs-)Arbeit ist. Somit war es klar, dass wir Totale Kriegsdienstverweigerer, die den Zivildienst ablehnten und deswegen mit Gefängnis bedroht wurden, ebenfalls unterstützten.

Ab Mitte der 70er Jahre begann dann die Unterstützungsarbeit in anderen Ländern als Arbeitsgruppe Südliches Afrika in der DFG-VK, ab 1990 als AG KDV im Krieg und ab 1993 als Connection e.V. Seitdem ist die Arbeit zur Türkei einer unserer Schwerpunkte.

Breite Solidaritätsarbeit

Wir waren beileibe nicht die einzige Organisation, die sich in die Solidaritätsarbeit mit Antimilitarist*innen in der Türkei eingebracht hat. Ich will im folgenden einen Überblick geben über die verschiedenen Aktivitäten, Arbeitsformen und Ansätze der unterschiedlichsten Gruppen.

Doppelstaater und „Freikaufsregelung“ – bis heute Thema

Kontakte in die Türkei hatten wir anfangs keine, und auch Informationen, die unseren Themenbereich betrafen, waren rar. So sammelten wir zunächst alles irgendwie Interessante. Das älteste Dokument in unserem Archiv ist ein Urteil des Verwaltungsgerichts Bremen vom Februar 1985. Ein in Deutschland lebender Türke (Doppelstaater) hatte geklagt, damit er neben dem damals 22-monatigen Militärdienst in der Türkei, den er leisten wollte, nicht auch noch 15 Monate in der Bundeswehr dienen muss. Seine Klage wurde abgelehnt mit der Begründung, dass die Türkei das entsprechende Übereinkommen des Europarates über die Vermeidung von doppeltem Militärdienst nicht unterzeichnet habe. Durch die Aussetzung der Wehrpflicht in Deutschland existiert dieses Problem heute so nicht mehr. Ja, es kam in der Zwischenzeit sogar dazu, dass auch der abgeleistete Zivildienst in Deutschland vom Militär in der Türkei als Erfüllung der Militärdienstpflicht anerkannt worden ist. Aber: In Deutschland leben über 3 Millionen Menschen mit türkischer Herkunft. Wenn sie nur die türkische Staatsangehörigkeit haben oder Doppelstaater sind unterliegen die Männer im entsprechenden Alter der Militärdienstpflicht in der Türkei. Kommen sie ihr nach, verlieren sie in der Regel ihren Arbeitsplatz und viele von ihnen auch ihren Aufenthaltsstatus. Um dieses Dilemma abzumildern hatte der türkische Staat die Möglichkeit geschaffen einen verkürzten Militärdienst abzuleisten und eine nicht gerade geringe Summe zu bezahlen, die dann dem türkischen Militär zugute kommt (sog. Freikaufsregelung). 1985 waren es noch zwei Monate Dienst und 17.000 DM (ca. 8.500 €). 2011 betrug die Summe 13.000 €, derzeit etwa 5.000 €. Seit 2012 ist kein verkürzter Militärdienst mehr abzuleisten, sondern ein Fernunterrichtsprogramm des Verteidigungsministeriums. Seit 1995 wurden auf diese Weise, so hat man ausgerechnet, 1,2 Mrd. € gezahlt. Alljährlich zahlen an die 30.000 Männer aus Deutschland den Betrag ein. Auch wenn das alles mit Kriegsdienstverweigerung nichts zu tun hat, so haben wir doch bis heute eine Vielzahl von Anfragen zu diesem Themenbereich.

Asyl für Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei in Deutschland

Der erste Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei in Deutschland war wohl Aziz Koşgin, der 1991 öffentlich verweigert hat und 1998 in der DFG-VK, in Übach-Palenberg bei Aachen, eine spezielle Beratungsstelle für türkische Kriegsdienstverweigerer (Savaş Hizmetini Reddedenler Girisimi/SHRG) aufbaute. Die türkischen Zeitungen, die darüber berichtet haben, wurden konfisziert (z.B. Devrimci Proleterya, Azadi). Mit ihm haben wir über viele Jahre intensiv zusammengearbeitet. Bemerkenswert in diesem Zusammenhang ist, dass Aziz nicht wie die Mehrheit der Kriegsdienstverweigerer der folgenden Jahre Kurde war, sondern Lase (Volksgruppe am Schwarzen Meer).

Nach Aziz gab es bis heute eine nicht gerade geringe Anzahl von türkischen Staatsbürgern, die teils mit uns, teils autonom auf individueller Basis, oft mit lokaler Unterstützung, in Deutschland ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt haben.

Ebenso wichtig war später Mustafa Ünalan, der am 23. Januar 1996 im Berliner Stadtparlament öffentlich verweigerte und dabei seinen Wehrpass verbrannte. Anschließend errichtete er in der DFG-VK Berlin eine türkischsprachige Beratungsstelle ein. Und schließlich hat Cemal Sinci (ein alevitischer Kurde) in Frankfurt/Main am 28. Januar 1997 zusammen mit 10 Freunden eine türkische Kriegsdienstverweigerungsorganisation (Frankfurt Savaş Karşıtları Derneği/FSKD) gegründet. Cemal war schon in der Türkei und während des Studiums in Deutschland politisch aktiv. Er war der erste Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei, der Asyl beantragt hat und mit dem wir jeden Schritt seines Asylverfahrens intensiv beraten haben. Die Kriegsdienstverweigerungserklärung sollte so öffentlich wie möglich sein. So kam es im Februar 1998 zu einer überfüllten Pressekonferenz in Frankfurt, bei der neben Cemal und dem Anwalt auch Bundestagsabgeordnete von SPD und Grünen (Zapf und Özdemir) unterstützend anwesend waren. Die Presseresonanz in Fernsehen und Zeitungen war wirklich gut. Aufgrund seiner vielfältigen politischen Aktivitäten bekam er im April 1998 dann als erster Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei tatsächlich Asyl. Und: Cemal ist bis heute bei Connection e.V. aktiv.

Ein Schwerpunkt der Arbeit mit Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei in Deutschland in den 90er Jahren waren öffentliche Verweigerungen. Organisiert von Connection e.V. fand eine solche mit neun Teilnehmern erstmals am 17. Mai 1995 in Frankfurt statt. Unterstützt wurde diese Aktion von Connection e.V., SHRG, AG „KDV im Krieg“ und der Selbstorganisation der Zivildienstleistenden. Dabei wurde nicht nur die Aktion mit den potentiellen Verweigerern gemeinsam vorbereitet, sondern in einem Seminar darüber hinaus die gemeinsame Erklärung, was eine intensive Auseinandersetzung mit dem Thema mit sich brachte. Das Foto mit den Verweigerern, die (Spielzeug-)Gewehre zerbrechen, war ein starkes Symbol, das auch im Ausland vielfach publiziert wurde. In den nächsten Jahren gab es dann noch etliche weitere öffentliche Verweigerungen mit z.T. erheblich mehr Teilnehmern z.B. in Marburg, Dortmund, Essen (29), Saarbrücken (20), Emden, Hannover, Frankfurt (2002: 39), Kassel (über 50!). Diese wurden zwar von uns unterstützt, aber nicht organisiert.

Insgesamt haben in den 90er Jahren in Deutschland wohl so zwischen 200 und 300 öffentlich ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt. Von denen, die hier Schutz suchten, konnten im Laufe der Jahre die meisten ihren Aufenthalt legalisieren. Viele dieser Aktionen wurden nicht nur in der lokalen Presse oft mir großen Beiträgen dokumentiert, sondern fanden in einzelnen Fällen auch Resonanz in der internationalen Presse (Österreich, Schweiz, Frankreich, Belgien, Niederlande … USA, Südafrika), und auch in der Türkei. Ja, es gab damals in Deutschland erheblich mehr Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei als in der Türkei selbst. Aber diese Bewegung zeigte auch dort Resonanz. So kam es in der Folge auch in türkischen Städten zu öffentlichen Verweigerungsaktionen, z.B. 1996 in Istanbul. Der Vollständigkeit halber: Es gab öffentliche Kriegsdienstverweigerungserklärungen auch in den Niederlanden, Großbritannien, Dänemark und Frankreich.

Nicht alle, die damals öffentlich verweigert haben, haben das mit Hinblick auf ihr Asylverfahren gemacht. Aber es waren doch die meisten und davon wiederum war die Mehrheit Kurden. Es gab wohl auch einige, die dem Gerücht glaubten, dass ihre Teilnahme an solch einer Aktion ihnen zu Asyl verhelfen würde. Dass dies nur eingeschränkt gilt, haben wir in den Vorbereitungsseminaren immer wieder betont. Denn: In Deutschland ist die Kriegsdienstverweigerung kein Asylgrund, und so haben wir bis heute immer viel Arbeit mit der Unterstützung von Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei im Asylverfahren. Dabei gestaltet sich der Kontakt zu den Asylsuchenden oft als sehr schwierig, da sie sich ja meistens in abgelegenen Asyllagern befinden und das Asylverfahren und insbesondere die Anerkennungskriterien so gefasst sind, dass selbst Spezialisten sie kaum durchschauen. Oft sind es dann deren Anwält*innen, die sich bei uns melden. In manchen Fällen richten sich auch Gerichte, nicht nur aus Deutschland sondern auch aus Österreich, Schweiz, Belgien und Niederlande, an uns mit der Bitte um Auskunft. Und da schließlich viele weder Asyl noch Duldung noch ein Bleiberecht bekommen – werden sie abgeschoben. In diesen Fällen versuchen wir noch ein Kirchenasyl zu vermitteln, wenden uns an PolitikerInnen und Landtage – und falls es dann tatsächlich zur Abschiebung kommt, versuchen wir unsere Kontakte in die Türkei zu nutzen, damit der Betreffende dann z.B. in Istanbul eine/n Ansprechpartner*in hat, auch wenn er meist sofort festgenommen wird.

Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Dass es auch in der Türkei Kriegsdienstverweigerer gibt, haben wir lange nicht gewusst. So haben wir von dem ersten Verweigerern, Tayfun Gönül und Vedat Zencir, 1989 bzw. 1990, und ihrer Erklärung in der

Zeitschrift „Sokak“ (Strasse) erst später erfahren. Zentral war für uns Osman Murat Ülke, genannt Ossi. Er ist in Nordrhein-Westfalen geboren worden und in Pforzheim aufgewachsen. Mit 15 Jahren steckten ihn die Eltern in ein „schreckliches Internat“ bei Izmir in der Türkei, wovon er sich schon bald emanzipierte. Nachdem er den extremen Militarismus der türkischen Gesellschaft erlebt hatte, entschloss er sich ihm den Kampf anzusagen. Am 1. September (Antikriegstag) 1995 verkündete er in Izmir öffentlich seine Kriegsdienstverweigerung und verbrannte dabei seinen Einberufungsbescheid. Dabei war eine Delegation der War Resisters´ International (WRI) aus fünf Ländern. In den folgenden Jahren unterlag er einem sich wiederholenden Kreislauf von Einberufung, Strafverfahren, Gefängnis. Er klagte beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – und bekam 2006 Recht. Das Gericht bezeichnete sein Schicksal als „ziviler Tod“, sprach ihm Entschädigung zu und forderte, dass das inzwischen sowohl auf europäischer wie auch internationaler Ebene akzeptierte Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung auch von der Türkei akzeptiert werden müsse. Die Türkei zahlte die vom Gerichtshof festgelegte Entschädigung, legalisierte aber nicht den Status von Ossi. Er lebt nach wir vor unter den Bedingungen des „zivilen Todes“.

Ossi haben wir auf vielfältige Weise unterstützt. So haben wir ihn schon vor seiner öffentlichen Verweigerung mehrmals zu Praktika und Rundreisen nach Deutschland (zusammen mit Aziz Koşgin und Christian Bartolf, 1993 und 1995) eingeladen um so die Solidarität für ihn für die abzusehende Inhaftierung zu gewährleisten. 1995 war er zum Internationalem Tag der Kriegsdienstverweigerung (Motto: „Kriegsdienstverweigerer brauchen Asyl!“) hier, konnte eine Rede im Deutschen Bundestag halten, und es kam zu einem Empfang bei der Bundestagsvizepräsidentin Antje Vollmer (Grüne), von dem sich Abgeordnete/“Experten“ von SPD und CDU distanzierten, da die Kriegsdienstverweigerung lediglich ein „Ausnahmerecht“ sei. Über die Zentralstelle zum Recht und Schutz der KDV konnte der Kontakt zu allen Parteien des Bundestages hergestellt werden. Ossi und Azis brachten ihre Anliegen dort bei einem Treffen vor, und die Parlamentarier*innen wurden dann auch wirklich aktiv, so z.B. Thomas Kossendey von der CDU. Aber natürlich haben auch sie praktisch kaum etwas Entscheidendes bewirkt. Das gilt auch für die vielfältigen, weltweiten Aktivitäten für Ossi von amnesty international im April 1997. Mit unserer Unterstützung wurden dem SKD bzw. ihm direkt drei wichtige Preise verliehen: 1996 dem SKD der Friedrich Siegmund-Schultze-Förderpreis (Evangelische Kirche), 1997 der Bayerische Friedenspreis der DFG-VK Bayern und 2007 der Clara Immerwahr-Preis der IPPNW (Internationale Ärzte für die Verhütung des Atomkrieges), was jeweils erneut mit etlicher Presseöffentlichkeit einherging.

Nach ihm haben wir Dutzende weiterer Kriegsdienstverweigerer unterstützt und ihre Fälle öffentlich gemacht. Zumeist waren das Fax-Aktionen an türkische Behörden. Am 3. Dezember 1999 haben wir in Zeitungen (Süddeutsche und Evrensel sowie Özgür Politika) Anzeigen geschaltet mit der Forderung nach Legalisierung der Kriegsdienstverweigerung. Die türkischen Zeitungen wurden daraufhin konfisziert.

SKD Izmir

Ossi war auch derjenige, der wesentlich dazu beitrug, dass zusammen mit anderen Kriegsdienstverweigerern und Unterstützer*innen im Dezember 1992 die erste Kriegsdienstverweigerungsorganisation in der Türkei entstand: ISKD (Izmir Savaş Karşıtları Derneği). Über den ISKD liefen dann auch die zahllosen Solidaritätsaktivitäten für Ossi und dann auch für die anderen, die beileibe nicht nur aus Deutschland kamen.

In den 90ern gab es in Europa noch eine lebhafte Kriegsdienstverweigerungsbewegung, zu der auch die türkische gehörte. So war es zwar wagemutig, aber doch folgerichtig, das alljährliche Internationale Treffen zur Kriegsdienstverweigerung (ICOM/International Conscientious Objectors Meeting) im Juli 1993 in der Türkei, in Ören, an der Ägäis-Küste, auszurichten. Schließlich kamen 90 Leute aus 19 Ländern, darunter Kolumbien. Die Kommunikation war sicherlich nicht einfach. So blieb mir bis zuletzt schleierhaft, was das Interesse der großen Anzahl türkischer Anarchist*innen an dem Treffen war, da ohne Übersetzung eine Unterhaltung einfach nicht möglich war. Aber das Interesse aneinander war dafür umso größer und führte in der Folge sowohl zu einer Stärkung der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei als auch zu mehr internationaler Solidarität. Es gab auch bemerkenswert viel Presseresonanz. So gab z.B. Rudi Friedrich der Tageszeitung „Aydınlık“ (Licht) ein ganzseitiges Interview zum Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung.

Am 8. November 1993 wurde der SKD Izmir verboten; er hatte damals etwa 300 Mitglieder. Journalisten, die über Kriegsdienstverweigerer berichteten, wurden verhaftet und ihre Zeitungen geschlossen. Der Verein konnte im Februar 1994 dann wieder neu gegründet werden, eine Broschüre „Die Militärgerichtsbarkeit in der Türkei“ (Mai 1994) entstand. Immer wieder gab es Verfahren gegen den Verein, er konnte jedoch trotzdem kontinuierlich weiterarbeiten. Ich war 1999 für einen Monat in Izmir und mir sind noch gut die mit Jugendlichen überfüllten Räume in Erinnerung.

Der SKD hat sich später aufgelöst, aber die Kontakte zu den damaligen Aktiven bestehen auch auf privater Ebene weiter.

Um Ossi besser unterstützen zu können, und in der Folge die Informationen (auch z.B. über Haftbedingungen) zu verbreiten und Solidaritätsaktivitäten koordinieren zu können, haben wir im Januar 1994 ein internationales Alarmnetzwerk begründet, das bis heute (zusammen mit der WRI) existiert. Dabei werden bei Bedarf auch die jeweiligen Kontakte zu Medien und Politik aktiviert.

SKD Istanbul / VR-DER

Am 1. September 1993 wurde von 40 Leuten der Istanbul SKD gegründet und am 17. Mai 1994, also kurz nach Aktivitäten zur Kriegsdienstverweigerung, wurden vier Aktive verhaftet und der Verein geschlossen. Zum 1. September wollte man ihn erneut gründen, was die Polizei aber verhinderte.

Erst 2013 konnte der VR-DER (Vicdani Ret Derneği/Verein für Kriegsdienstverweigerung) in Istanbul erneut entstehen. Er ist heute der einzige in der Türkei. Wir haben guten Kontakt zu ihm.

Internationale Solidarität

1993 gab es auch erstmals Kontakte der damals in Deutschland existierenden Beratungsstelle für griechische Kriegsdienstverweigerer mit denen in der Türkei. Auch beim ICOM 1997 auf der griechischen Insel Ikaria kam es zu Kontakten. Darüber kam es zu einem gemeinsamen Verständnis und dazu, dass sich Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei und Griechenland z.B. bei Prozessen unterstützten. Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei engagierten sich auch z.B. 2009 für solche in Israel mit einem Protest vor der Botschaft. Aus dieser Solidarität entwickelte sich das Mediterrane Treffen zur Kriegsdienstverweigerung, das 2014 auf Zypern stattfand, mit Teilnehmer*innen unter anderem aus Zypern, Nordzypern, Griechenland, Israel, Palästina und Ägypten. Daraus hat sich dann eine Plattform für die gegenseitige Unterstützung entwickelt.

Prozessbeobachtung/Delegationen

„Allein machen sie dich ein“ sang die Band Ton Steine Scherben. Das trifft in besonderer Weise auf Kriegsdienstverweigerer zu. Ist das Leben in einer militarisierten Umwelt schon schlecht auszuhalten, so ist von der geballten Macht von Staat, Militär und Justiz durchweg nichts Gutes zu erwarten. Es braucht eine Gruppe, die unterstützt. Es braucht Öffentlichkeit. Das alles muss schon lange vor der Verweigerungserklärung organisiert werden. Dann kann, darauf aufbauend, internationale Solidarität erfolgen. Auch wenn es sich nach dem Aktion-Wirkung-Theorem nicht 1:1 nach-­

weisen lässt, aber wir haben festgestellt, dass sich doch immer wieder was bewirken lässt – und sei es nur, dass sich der Einzelne gestärkt fühlt. Da sind zwar vor allem Unterschriftensammlungen zu nennen, Petitionen, Faxaktionen, Mahnwachen vor Botschaften und Konsulaten, am besten koordiniert in mehreren Städten gleichzeitig oder gar in mehreren Ländern. Besonders wichtig erscheint mir aber die physische Präsenz von internationalen Delegationen vor Ort zu sein, die in der Regel zwar auch nicht viel direkt bewirken, aber doch einen Unterschied ausmachen können. Prozessbeobachtung ist durchaus keine einfache Sache nach dem Motto, da fliegt man hin, ist als Ausländer*in sicher, hält die Fahne hoch und berichtet dann zuhause darüber.

Es gibt gegen Kriegsdienstverweigerer eine Vielzahl von Verfahren – aber man kann nicht bei allen anwesend sein. Dabei werden die Termine oft vertagt. Und dann finden die Verhandlungen auch nicht immer in den großen Städten mit Flughafen statt. Oftmals sind noch 1.000 km mit dem Bus zurückzulegen.

Wenn also aus der Türkei eine Anfrage kommt, ob nicht eine internationale Delegation einen bestimmten Prozess beobachten könnte, dann beraten wir meist auch auf internationaler Ebene und versuchen möglichst unterschiedliche Personen aus verschiedenen Ländern zu organisieren. Das kann für diese auch durchaus gefährlich sein. Manche könnten schon an der Einreise gehindert werden. Darum ist es schon im Vorfeld wichtig, zuhause die entsprechende Infrastruktur herzustellen, mit Notfall-Telefon, Kontakten zum Auswärtigen Amt usw. Zugleich muss aber auch die Struktur in der Türkei selbst klar sein: Wer begleitet die Delegation, wen trifft sie, wer übersetzt?

Zum Internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung, im Mai 1994, sollte es nicht nur eine öffentliche Verweigerung in Frankfurt, sondern parallel dazu auch eine in Istanbul geben. Um letztere zu unterstützen fuhren Gernot Lennert und Christian Axnick von der DFG-VK Hessen mit Volker Thomas vom Darmstädter Signal, einer Organisation kritischer Soldaten, nach Istanbul. Die Versammlung mit über 100 Teilnehmer*in-nen wurde auf Geheiß des Innenministeriums aufgelöst, Leute festgenommen und der Verein verboten. Verhaftet wurden auch die drei Deutschen. Später ließ man sie zwar frei, behielt aber die Papiere ein, bis zum Prozess vor dem Militärgericht. Gut, dass es das Alarmnetzwerk gab – und es funktionierte. Die Drei konnten schließlich drei Wochen später das Land verlassen.

Von großem Wert für die Solidarität sind auch verschiedenste gegenseitige Besuche. In den vergangenen Jahren hat es bestimmt Dutzende davon gegeben, sowohl auf individueller Ebene, aber auch organisiert. Besonders sinnvoll hat sich eine Mitarbeit über längere Zeit herausgestellt, um nicht nur die Aktiven kennenzulernen, sondern auch ihre Arbeitsweise.

Rundreisen

Kriegsdienstverweigerer müssen in der Türkei in der Illegalität leben. Da sie keine Papiere haben, können sie auch nicht legal ausreisen. Um auf ihre Situation aufmerksam zu machen und um Solidarität für sie zu organisieren kommt deshalb den Unterstützer*innen diese Aufgabe zu. So kam es immer wieder zu Einladungen von anderen Aktiven des SKD, von Anwälten, aber auch von Verweigerern, die noch gültige Papiere hatten. So plante z.B. die DFG-VK Nordrhein-Westfalen für Januar 98 den Kriegsdienstverweigerungsanwalt Ahmet Hür und den Verweigerer Arif Hikmet Iyidoğan für zwei Wochen nach Deutschland und in die Niederlande einzuladen. Schon Monate vorher hatte man sich Gedanken gemacht, wie deren Programm aussehen könnte. Klar, Besuche bei Gruppen der DFG-VK mit öffentlichen Veranstaltungen, Connection e.V., Pro Asyl, Republikanischer Anwälteverein, medico international, das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung (EBCO), die War Resisters´ International in London, Parlamentarier aller Parteien, Justizministerien, Auswärtiges Amt, Europaparlament … Sicherlich hat sich nicht alles verwirklichen lassen und bestimmt war auch nicht alles erfolgreich. Wesentlich bei solchen Unternehmungen aber ist die Konfrontation mit dem Thema. Und die Besuche sind nicht nur gut, um Informationen zu verbreiten, sondern um dann auch Solidarität zu organisieren. Und sie sind auch wichtig für die Leute aus der Türkei selbst, damit sie eine Vorstellung davon bekommen, wer wir sind, wie wir arbeiten und was machbar ist oder eben nicht.

Zeitungen/Broschüren

Im Laufe der Zeit entstanden im Zusammenhang mit der Kriegsdienstverweigerung auch etliche Zeitungsprojekte. Diese wurden entweder von Kriegsdienstverweigerern selbst oder in Zusammenarbeit mit Unter­stützer*innen gegründet. Sie hatten für die Propagierung der Ideen, den Austausch und den Zusammenhalt der Aktiven einen enormen Wert. Der SKD gab in den ersten beiden Jahren die Zeitschrift „Bakaya“ (Dienst­flüchtiger) heraus, eine Zeitschrift mit einer explizit antimilitaristischen Ausrichtung, die von Aziz Koşgin auch in Deutschland mit vertrieben wurde. Von Januar 1994 bis Ende 1995 erschien die wirklich beeindruckende „Savaşa karsı Barış“ (Krieg gegen Frieden), mit 15 Ausgaben in einer Auflage bis zu 2.500. Dann wurde sie beschlagnahmt, die Herausgeber verhaftet und ihnen der Prozess gemacht. Es entstand 1996 auch noch die Zeitung „nisyan“ (Vergessen), über die mir nicht mehr bekannt ist. In Deutschland gab es ab März 2001 vier Ausgaben „otkökü“ (Graswurzel, türkisch/deutsch), im Wesentlichen ein Projekt Ossis, als Beilage der Zeitung „graswurzelrevolution“ und wir produzierten ab Februar 1994 monatlich KIRIK TÜFEK (Das zerbrochene Gewehr), in der wir in Deutsch vor allem über Kriegsdienstverweigerung und ihre Bewegung berichteten.

Zur Orientierung der hier lebenden Kriegsdienstverweigerer war sicherlich die 1990 von der DFG-VK Nordrhein-Westfalen herausgegebene Broschüre „Askere gitme! – Geht nicht zum Militär!“ von Bedeutung. 1996 entstand die Broschüre „Lasst uns den Militärdienst verweigern“, in Deutsch und Türkisch.

Berichte über Aktionen und Fälle fanden sich immer auch in der ZivilCourage und der graswurzelrevolution. Aber auch die (normalen) Tageszeitungen wie tageszeitung, junge Welt, Jungle World, Frankfurter Rundschau, Welt, Süddeutsche Zeitung berichteten oft in wirklich seriösen und ausführlichen Artikeln.

Heute werden die meisten Aktivitäten, Erklärungen und Veröffentlichungen online gestellt. Die wichtigste Website für die Kriegsdienstverweigerung in der Türkei ist die von Vicdani Ret Derneği (www.vicdaniret.org). Hintergrundinformationen und mehr findet sich auch auf den Webseiten der War Resisters‘ International (www.wri-irg.org/en/programmes/turkey-stop-cycle-violence) und bei Connection e.V. (www.Connection-eV.org/CO_Turkey)

Finanzen

Es dürfte klar sein: Wer aus der Türkei geflohen ist und nicht arbeiten darf, hat kein Geld. Und wer in der Türkei in der Illegalität leben muss, ebenfalls nicht. Und ebenso ist das dann auch bei den entsprechenden Organisationen. Deshalb haben nicht nur wir für bestimmte Projekte immer wieder Geld gesammelt sondern 2007 ein extra-Solidaritätskonto für diese Arbeit eingerichtet. Da kommt zwar Geld, aber es reicht nicht. So haben wir schon früh zusammen mit den Leuten aus der Türkei überlegt, welche „Töpfe“ wir anzapfen könnten. Da wir in diesem Bereich schon lange Erfahrung haben, kam es auch schon mal zu einem Fundraisingseminar. Gerne stellen wir bei neuen Projekten auch unsere Erfahrung und unsere Kontakte zur Verfügung.

WRI-Arbeitsgruppe „Stoppt den Kreislauf der Gewalt“

Zu Beginn der gewalttätigen Auseinandersetzungen in der Südosttürkei 2015/16 wandten sich einige der Aktiven in der Türkei an uns und baten um internationale Unterstützung gegen den Krieg. Daraufhin gründete sich unter dem Dach der War Resisters‘ International (WRI) eine internationale Arbeitsgruppe, die sich aus Mitgliedern von Connection e.V., Bund für Soziale Verteidigung (BSV), Internationaler Versöhnungsbund – österreichischer Zweig, La Transicionera (Spanien) und Aktivist*innen aus der Türkei zusammensetzte. Die Arbeitsgruppe rief dazu auf, den Kreislauf der Gewalt in der Türkei zu stoppen. Sie organisierte eine Unterschriftenkampagne, schickte eine Delegation in das Kriegsgebiet, begleitete einige Strafverfahren gegen Menschenrechtsaktivist*innen in der Türkei und veröffentlichte verschiedene Broschüren und Artikel, um auf die Situation im Südosten und die prekäre Lage der Menschenrechtsakti­vist*innen aufmerksam zu machen und sie auf diese Weise zu unterstützen. Zuletzt veröffentlichte sie eine Broschüre, wie Menschen in der Türkei von außen, also aus anderen Ländern heraus, unterstützt werden können, die von Haft und Strafverfahren bedroht sind.

Solidaritätsarbeit heute

Überspringen wir die nächsten Jahre und kommen zu der Situation heute. Vieles ist ja schon angeklungen, es soll nicht wiederholt werden. Darum nur Neues.

In Deutschland gibt es noch immer Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei im Asylverfahren, die wir unterstützen, aktuell Beran Mehmet Işçi und Onur Erden. Wir bereiten zusammen mit ihnen und ihren Anwält*innen die jeweils nächsten Schritte des Verfahrens vor. Wir versuchen eine Unterstützungsinfrastruktur in der Gegend, in der sie leben, aufzubauen und Pressekontakte und öffentliche Auftritte, z.B. beim Ostermarsch, zu organisieren.

Kriegsdienstverweigerer aus der Türkei, auch wenn sie nur die deutsche Staatsangehörigkeit haben, können allein aufgrund von Posts oder Likes in den Sozialen Medien bei einem Besuch z.B. ihrer Verwandten in der Türkei jederzeit festgenommen werden. Gerade ist das Ilhami Akter - er hat 1993 verweigert - widerfahren, der dann auf eigene Faust über Georgien floh. Auch in diesem Fall versuchten wir mit einer Solidaritätsgruppe aus Hamburg, wo er wohnt, alle uns zur Verfügung stehenden Kontakte (z.B. Bundestagsabgeordnete, Auswärtiges Amt, Hamburger Bürgermeister) auszunutzen um ihm behilflich zu sein. Nun ist er glücklich wieder hier und schreibt gerade an einem Buch über sein Schicksal, wobei wir ihm behilflich sind.

Der VR-DER arbeitet schon seit Jahren vor allem in drei Bereichen:

1. Beratung und Unterstützung von aktuellen Kriegsdienstverweigerern, mit entsprechenden Aktionen 2. International Druck entwickeln, für die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung, und 3. Zur Lage der Militärdienstpflichtigen („Selbstmorde“). Und schließlich gibt es da noch verschiedene Anklagen gegen den Verein und Aktive des Vereins. Gerade verfolgt man die Idee, erneut Druck aufzubauen für die Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Ein Bulletin Kriegsdienstverweigerung wird nun alle zwei Monate herausgegeben. Für den Verein haben wir eine Extra-Spenden-Kampagne entwickelt. In all diesen Bereichen arbeiten wir meist über Videokonferenzen zusammen.

Auf internationaler Ebene gibt es derzeit eine gute Zusammenarbeit mit Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei, die in andere Länder (Zypern, Frankreich, Deutschland) geflohen sind und dort einen gesicherten Aufenthaltsstatus haben, wobei z.B. dieses „Buch-Projekt“ entstanden ist. Auch hier erfolgt die durch das Corona-Virus eingeschränkte Kommunikation vorwiegend über Video-Konferenzen.

Rück- und Ausblick

Im Laufe der Zeit haben sich in Deutschland eine kaum noch zu überschauende Anzahl von Gruppen und Organisationen für Verweigerer aus der Türkei eingesetzt. Da sind in erster Linie natürlich die Selbstorganisationsansätze zu nennen, mit Gruppen in Frankfurt, Aachen, Dortmund, Kassel, Hamburg, Berlin… Dann die Zusammenarbeit mit den Ortsgruppen der DFG-VK, Landesverbänden (wobei besonders viele Aktivitäten in Frankfurt/Hessen, Dortmund/Nordrhein-Westfalen und Hamburg zu verzeichnen waren) und dann auch dem Bundesverband. Aber auch die Kampagne gegen die Wehrpflicht (Berlin), die Selbstorganisation der Zivildienstleistenden und die Totalverweigerer mit ihrer Zeitschrift „Ohne uns“ und die Beratungsstellen für Kriegsdienstverweigerer der Kirchen waren immer wieder mit dabei. Grundsätzliches Interesse an dem Thema zeigten auch einige Organisationen der Friedensbewegung, neben den schon genannten z.B. IdK Berlin (Internationale der Kriegsdienstverweigerung), Zentralstelle Kriegsdienstverweigerung, Internationaler Versöhnungsbund, Bund für Soziale Verteidigung, Graswurzelgruppen, Greenpeace, Ohne Rüstung Leben, Kurve Wustrow.

Wenn es darum ging, jemanden im Asylverfahren zu unterstützen, tat sich in der Regel ein ganz anderes Spektrum auf: Asyl- und Menschenrechtsorganisationen wie z.B. Pro Asyl, Komitee für Grundrechte und Demokratie, Republikanischer AnwältInnenverein, kein mensch ist illegal, Flüchtlingsräte – und auf der Ortsebene, besonders wenn jemand abgeschoben werden sollte: Von der Schulklasse über die Pfarrgemeinde (Pax Christi), dem Fußballverein bis zum Bäckermeister war alles dabei. Selbstverständlich waren fast alle Kriegsdienstverweigerungsorganisationen in den europäischen Ländern - und auch darüber hinaus - in der Solidaritätsarbeit aktiv, z.B. besuchte der US-Vietnamkriegs-Veteran Greg Payton unsere Freund*innen in der Türkei und hinterließ dort mächtig Eindruck. Sie berichteten laufend über die Einzelnen und machten auch selbst Aktionen. Zentral für den Austausch und die weltweite Verbreitung der Informationen sind die War Resisters´ International (WRI) mit Sitz in London, wo derzeit der Arbeitsbereich zur Kriegsdienstverweigerung von einer Person aus der Türkei koordiniert wird. Über die dortige Arbeitsgruppe Türkei-Kurdistan werden vor allem weltweite Solidaritätskampagnen organisiert und internationale Delegationen zusammengestellt. Nicht vergessen werden darf auch EBCO, das Europäische Büro für Kriegsdienstverweigerung in Brüssel. Dieses kümmert sich vor allem um das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Europa und dass die rechtlichen Vorgaben auch umgesetzt werden. So macht EBCO Druck auf den Europarat, damit dieser die skandalöse Menschenrechtslage der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei nicht vergisst. Es gibt auch gute Kontakte zu dem Verbindungsbüro der Quäker in Genf zur UNO. Dort besteht die Aufgabe darin, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung weltweit durchzusetzen. Und da es bei der Kriegsdienstverweigerung auch um Menschenrechte geht, darf in der Aufzählung amnesty international nicht fehlen, die z.B. mit urgent actions immer wieder weltweit auf die prekäre Situation einzelner Kriegsdienstverweigerer aufmerksam macht. Auch wenn im Bereich der Lobbyarbeit, bei Regierungen, Europaparlament, Europäischer Kommission, Europarat und UNO sicherlich kein schneller Durchbruch zu erzielen ist, so sind aber entsprechende Resolutionen doch auch ein gewisser Druck, mit dem die türkische Regierung sich immer wieder auseinandersetzen muss.

Wie die Erfahrung gezeigt hat, werden in der Türkei nicht nur Kriegsdienstverweigerer verfolgt, sondern auch deren Organisationen und Medien, sowie im Prinzip jede Berichterstattung darüber.

Die Türkei hat, nach den USA, die zweitgrößte Armee der NATO. Sie ist ein Staat im Staat. Und diese Armee wird permanent eingesetzt. Nicht nur, aber vor allem in den kurdischen Gebieten. Und immer mehr jenseits der Grenzen: Nordzypern, Nord-Irak, Syrien, Libyen, Mittelmeer, Aserbaidschan/Armenien – und auch in immer mehr afrikanischen Staaten. Die derzeit 6-monatige Militärdienstpflicht ist dafür eine zwingende Voraussetzung. Während sich die jungen Männer noch vor einigen Jahren relativ unproblematisch dem Dienst entziehen konnten, so ist das heute aufgrund eines besseren Erfassungs- und Meldewesens nicht mehr so einfach möglich. So gab es zu bestimmten Zeiten bis zu einer dreiviertel Million Militärdienstentzieher/Fahnenflüchtige. (2014 meldete das türkische Statistikamt „bis zu 800.000“ Militärdienstvermeider.) Heute sind es noch einige Hunderttausend. Rekrutiert wird, was das Zeug hält. Dazu lediglich einige Zeitungsüberschriften: „Opa der Kompanie“ – 71-Jähriger einberufen (Frankfurter Rundschau - 13.6.05). / 71-Jähriger eingezogen (Die Welt – 5.3.08). / Türkische Armee holt 80-Jährigen zum Dienst (Frankfurter Rundschau – 2.4.11).

Und es wird überall im Land kontrolliert und gefahndet, so wurden z.B. 2013 von Okt. bis Dez. fast 5.000 Militärdienstentzieher bei Kontrollen verhaftet und dieser Gefahr sind natürlich auch die über 1.000 bekannten Kriegsdienstverweigerer ausgesetzt.

Schlussbemerkung: Auch wenn das Recht auf Kriegsdienstverweigerung sicherlich von enormer Wichtigkeit ist, so ist es andererseits – wie die Erfahrungen zeigen – ein Recht, das beantragt werden muss: Nicht jeder bekommt es gewährt. Und der Zivildienst ist quasi eine Bestrafung für die Inanspruchnahme des Rechts. Ein gewisser Fortschritt wäre es, wenn nicht nur universellen Pazifisten das Recht auf Kriegsdienstverweigerung gewährt werden würde, sondern auch die Anerkennung der selektiven Verweigerung möglich wäre, damit z.B. Kurden nicht mehr „auf ihre Brüder“ schießen müssten. Zudem sollten wir im Auge behalten: Das Anliegen der Kriegsdienstverweigerung ist natürlich die Beendigung von Krieg – und dazu gehört die Abschaffung der Wehrpflicht und der Armeen. Erst dann können wir in Frieden leben.

Und natürlich: Kriegsdienstverweigerer, Fahnenflüchtige, Deserteure brauchen Asyl! Am 27. Juni 2007 erhängte sich der aus der Türkei stammende Deserteur Mustafa Alcali in Abschiebehaft in Frankfurt/M. Es gibt noch viel zu tun!

Franz Nadler: 25 Jahre Solidarität mit Kriegsdienstverweigerern in der Türkei. 15. Mai 2021. Der Beitrag erschien in der Broschüre "Kriegsdienstverweigerung in der Türkei", Mai 2021. Hrsg.: Connection e.V., War Resisters International und Union Pacifiste de France

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