Studie: Kriegsdienstverweigerung in der Türkei

Einleitung

von Mine Yıldırım und Hülya Üçpınar

(Juli 2021) Im Juli 2021 veröffentlichte der in Istanbul ansässige Vicdani Ret Derneği (Verein für Kriegsdienstverweigerung) eine Studie zur Kriegsdienstverweigerung in der Türkei. Darin gehen die Autorinnen Mine Yıldırım und Hülya Üçpınar ausführlich auf die Situation der Kriegsdienstverweigerer in der Türkei ein und stellen dies in Beziehung zur internationalen Rechtslage zum Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung. Angereichert wird die Studie durch einige Fallbeschreibungen. Wir dokumentieren hier die Zusammenfassung der Studie. Die Studie kann im englischen Original heruntergeladen werden unter https://en.connection-ev.org/pdfs/expert-opinion-turkey-2021.pdf (d. Red.).

Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung basiert auf dem Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, das in allgemeinen und regionalen Menschenrechtsverträgen geschützt wird und innerhalb der Menschenrechtssysteme der Vereinten Nationen und des Europarates eine fortschreitende Anerkennung erfahren hat.

Dieser Bericht zielt darauf ab, eine gründliche Analyse zur Situation der Kriegsdienstverweigerung in der Türkei aus einer normativen Perspektive zu liefern.

In der Türkei ist jeder Mann im Alter von 20-41 Jahren zur Ableistung des Militärdienstes verpflichtet (Faktisch gilt die Wehrpflicht ein Leben lang, d. Red.). Die Dauer des Militärdienstes beträgt sechs Monate für einfache Soldaten und zwölf Monate für Reserveoffiziere und Offiziere. Das Recht auf Kriegsdienstverweigerung ist nicht anerkannt, es gibt weder ein Verfahren, das Kriegsdienstverweigerer in Anspruch nehmen können, noch einen alternativen Zivildienst.

Fast anderthalb Jahrzehnte nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Ülke gegen die Türkei aus dem Jahr 2007 werden Kriegsdienstverweigerer immer noch mit wiederholten Strafmaßnahmen belegt, weil sie als Militärdienstentzieher und Deserteure gelten und nicht als Kriegsdienstverweigerer. Sie werden mit Geldstrafen belegt und vor Gericht gestellt - bis 2017 waren dies Militärgerichte statt zivile Gerichte, vor denen sie in den meisten Fällen wiederholt für das gleiche „Verbrechen“, der Verweigerung des Militärdienstes, vor Gericht standen - und die sie zu Haftstrafen verurteilte. Zu den Strafmaßnahmen gegen Kriegsdienstverweigerer gehören darüber hinaus Eingriffe in eine Vielzahl von Menschenrechten, darunter das Recht auf Bildung, auf Bewegungsfreiheit, die Möglichkeit, seinen Lebensunterhalt zu verdienen und an öffentlichen Angelegenheiten teilzunehmen sowie das Wahlrecht.

Die Zahl der Personen, die ihre Kriegsdienstverweigerung erklärt haben, ist nicht bekannt. Zwischen 1989 und 2021 haben 409 Personen dem Verein für Kriegsdienstverweigerung mitgeteilt, dass sie ihre Kriegsdienstverweigerung öffentlich gemacht haben. Es wird geschätzt, dass die Gesamtzahl der Kriegsdienstverweigerer viel höher ist. Unbekannt ist auch die Zahl der Männer, die sich dem Zwang zu einer ihrem Gewissen widersprechenden Handlung entziehen wollen, ihre Erklärung aber nicht bekannt geben, und die Zahl derer, die sich aus Gründen der Kriegsdienstverweigerung gezwungen sehen, sich dem verkürzten Militärdienst gegen Bezahlung zu unterwerfen.

Die Türkei hat die wichtigsten internationalen Menschenrechtsverträge sowohl im Rahmen der Vereinten Nationen als auch des Europarates zum Schutz der Menschenrechte ratifiziert. Als Vertragspartei des Internationalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen und der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarates hat die Türkei bedeutende Menschenrechtsverpflichtungen, die sich auf den Schutz der Kriegsdienstverweigerung auswirken.

Die Kriegsdienstverweigerung in der Türkei war Gegenstand von Untersuchungen einer Reihe internationaler Kontrollgremien zur Einhaltung der Menschenrechte. Der Bericht listet und zitiert zahlreiche Eingaben und Entscheidungen verschiedener Gremien der Vereinten Nationen und des Europarates sowie Empfehlungen einiger Mitgliedsstaaten bezüglich des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung und einzelne Fälle, die seit 1998 vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebracht wurden. Diese Fälle, die von Kriegsdienstverweigerern aus der Türkei vorgebracht wurden, haben zu Feststellungen von Verletzungen mehrerer Konventionsrechte geführt. Die Reaktion der Türkei auf die Feststellungen konzentrierte sich auf individuelle Maßnahmen durch die Zahlung von Entschädigungen und die Anordnung von Entlassungen oder Entlassungen auf der Grundlage von medizinischen Berichten, wonach die Antragsteller nicht wehrdiensttauglich sind, sowie die Aufhebung von Haftbefehlen. Im Jahr 2018 informierte die Regierung das Ministerkomitee darüber, dass der "verkürzte Militärdienst durch Zahlung" eine Alternative sei, bei der ein Anspruchsberechtigter durch Zahlung einer bestimmten Summe von der Verpflichtung zum Militärdienst befreit werden könne.

Betrachtet man den nationalen Rechtsrahmen in der Türkei, so stellt der Bericht fest, dass die Verfassung keinen Militärdienst vorschreibt, sondern nur einen „nationalen Dienst“ - der auch ein ziviler sein kann. Die Pflicht zur Ableistung des Militärdienstes ist in den Gesetzen über die Wehrpflicht und das Militärstrafrecht verankert. Militärdienstentzieher und Deserteure werden nach den Regeln des Artikels 26(1) des Wehrpflichtgesetzes verfolgt.

Während die Militärgerichte durch eine Verfassungsänderung im Jahr 2017 abgeschafft wurden, hat die Türkei bis heute keinen Schritt zur Legalisierung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung unternommen. Vielmehr lag der Fokus auf der Verkürzung der Dauer des Militärdienstes und der Einführung der Möglichkeit eines verkürzten Militärdienstes gegen Bezahlung. Im Jahr 2019 wurde ein neues Gesetz zur Wehrpflicht verabschiedet, das den Militärdienst auf sechs Monate und den durch Zahlung verkürzten Militärdienst auf einen Monat festlegt.

Es mangelt an innerstaatlichen Rechtsmitteln und Ansätzen der Justiz für Personen, die das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Anspruch nehmen möchten, da die Gerichte meist nicht auf die türkische Verfassung, sondern auf die zitierten Gesetze zum Militärdienst verweisen. Zahlreiche Einzelanträge von Kriegsdienstverweigerern an das Verfassungsgericht (AYM) sind gestellt worden, aber bisher hat das Verfassungsgericht die Beratung über die Anträge vertagt. Daher bleibt den Kriegsdienstverweigerern nur die Möglichkeit, internationale Menschenrechtsschutzmechanismen in Anspruch zu nehmen.

Empfehlungen

Der Bericht enthält konkrete Empfehlungen an die türkischen Behörden und internationale Menschenrechtsgremien:

- Die Kriegsdienstverweigerung sollte als verfassungsmäßiges Recht ohne Einschränkung anerkannt werden, um sicherzustellen, dass die Gesetzgebung zur Kriegsdienstverweigerung nicht in Konflikt mit anderen gesetzlichen Regelungen gerät und dass eine solche Regelung nicht einer möglicherweise restriktiven Auslegung durch die Exekutive und die Justiz zugänglich gemacht wird;

- die Gesetzgebung zur Kriegsdienstverweigerung sollte in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechten verfasst werden, wie sie in den Menschenrechtsinstrumenten der Vereinten Nationen, des Europarates und der Europäischen Union verankert sind;

- ein unabhängiges und unparteiisches Entscheidungsgremium zur Prüfung von Anträgen auf Kriegsdienstverweigerung sollte eingerichtet werden - in Übereinstimmung mit internationalen Menschenrechtsstandards, insbesondere unter Berücksichtigung der Forderung, Kriegsdienstverweigerer nicht aufgrund der Art ihrer Religion oder Weltanschauung zu diskriminieren;

- Maßnahmen sollten ergriffen werden, die mit den internationalen Menschenrechtsnormen in Übereinstimmung stehen, um einen Mechanismus für die Kriegsdienstverweigerer bereitzustellen, die sich selbst als „Totalverweigerer“ erklären;

- Maßnahmen sollten ergriffen werden, um denjenigen Kriegsdienstverweigerern, die dies beantragen, einen Ersatzdienst in Übereinstimmung mit den internationalen Menschenrechtsstandards anzubieten;

- alle Strafverfahren gegen Kriegsdienstverweigerer sollten eingestellt, Entschädigung gewährt sowie alle Verurteilungen bezüglich der Kriegsdienstverweigerung in den Strafregistern wegen Ungehorsam, Militärdienstentziehung, Desertion oder öffentlicher Äußerungen gelöscht werden;

- offizielle Aufzeichnungen sollten ordnungsgemäß erstellt und in der nationalen Datenbank geführt werden;

- Statistiken über Anträge zur Kriegsdienstverweigerung, einschließlich der Anzahl der Kriegsdienstverweigerer, verhängter Geldstrafen und strafrechtlicher Ermittlungen sowie Verurteilungen im Zusammenhang mit Kriegsdienstverweigerung sollten geführt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden;

- Maßnahmen sollten ergriffen werden, um sicherzustellen, dass die Antragsteller frei von der Gefahr weiterer Verfolgung und der Verpflichtung zum Militärdienst sind und ihre politischen, bürgerlichen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte vollständig genießen können. Zu diesem Zweck sollen die innerstaatlichen Gesetze überprüft werden, um alle Beschränkungen zu beseitigen, die Kriegsdienstverweigerern bei der Ausübung des Rechts, gewählt zu werden und zu wählen, des Rechts auf Bildung, der Möglichkeiten, den Lebensunterhalt zu verdienen und der Bewegungsfreiheit auferlegt werden.

Dass das Verfassungsgericht

- der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte (EGMR) folgt, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung als Menschenrecht anerkennt, die Urteile des EGMR befolgt und unverzüglich über die zahlreichen anhängigen Einzelanträge entscheidet;

- vorläufige Maßnahmen eingehend prüft und das Thema so behandelt, dass weiterer Schaden für Kriegsdienstverweigerer verhindert wird.

- Es sollten regelmäßige Schulungen zu den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen, zum Recht auf Kriegsdienstverweigerung für Richter und Staatsanwälte und für relevante Behörden im Innenministerium, insbesondere für Beamte, die mit Datenbanken der türkischen Sicherheitsbehörden (GBTS) sowie Kontrollen zu tun haben, durchgeführt werden. 

An internationale Gremien zur Kontrolle der Einhaltung von Menschenrechten:

- behalten Sie die Kontrolle der Einhaltung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung auf der Agenda, insbesondere beim Ministerkomitee des Europarats, dem UN-Menschenrechtkomitee, bei den UN-Sonderverfahren und der Universellen Periodischen Überprüfung (Universal Periodic Review);

- verfolgen Sie weiter die Umsetzung der Stellungnahme des UN-Menschenrechtskomitees zu Atasoy und Sarkut gegen die Türkei und die Empfehlungen des Universal Periodic Review;

Dass das Ministerkomitee des Europarates

- weiterhin die Fälle, zusammengefasst in der Ülke-Gruppe, unter verstärkte Aufsicht stellt;

- die türkischen Behörden auffordert, über die Wirksamkeit des Individualantragsmechanismus des Verfassungsgerichts zum Schutz von Kriegsdienstverweigerern zu berichten;

- die türkischen Behörden bittet, Informationen darüber zu liefern, wie und in welchem Ausmaß die Rechte von Kriegsdienstverweigerern auf Bildung, Wahlrecht und Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen, durch den Status als Militärdienstentzieher bzw. Deserteur durch das Gesetz beeinträchtigt werden;

- die türkischen Behörden um statistische Informationen über Kriegsdienstverweigerer bittet.

Executive Summary of the report “Conscientious Objection to Military Service in Turkey”. Autorinnen: Mine Yıldırım und Hülya Üçpınar, herausgegeben von Vicdani Ret Derneği, Juli 2021. Übersetzung: rf

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