Doppelte Strategie: Im Bürgerkrieg in Äthiopien übte Eritreas Armee tödliche Rache an alten Feinden
(01.11.2021) Mit der Entsendung von Truppen in die Region Tigray verfolgte Eritrea eine doppelte Strategie: Es nahm Tausende eritreischer Flüchtlinge fest und kämpfte zugleich gegen Äthiopiens frühere Herrscher. An der Spitze des blutigen Feldzuges: ein Oberst mit dem Spitznamen „Wedi Kecha“.
Zwei Jahrzehnte lang strömten Eritreer*innen über die Grenze nach Äthiopien. Sie flohen vor Militärdienst, Folter und Gefängnis eines der repressivsten Staaten Afrikas. Im November letzten Jahres (2020) lebten etwa 20.000 von ihnen in zwei Flüchtlingslagern in der äthiopischen Provinz Tigray und fanden so im wohlhabenderen Nachbarland einen sicheren Zufluchtsort.
In jenem November brach in Tigray eine Rebellion aus, mit der sich die Herrscher der Provinz gegen die äthiopische Zentralregierung stellten. Das eritreische Militär schickte Panzer und Truppen, um seinen Verbündeten, den äthiopischen Staatschef Abiy Ahmed, zu unterstützen – und um alte Rechnungen zu begleichen.
Innerhalb weniger Tage trafen Lastwagenladungen von Soldat*innen der 35. Division der eritreischen Armee in den beiden Flüchtlingslagern Hitsats und Shimelba ein. Die Soldat*innen hatten Namenslisten dabei.
In Hitsats, wo die weißen Zelte und Wellblechhütten des Lagers von sanften Hügeln umgeben waren, rief das Militär die Sprecher*innen der Flüchtlinge zu einem Treffen zusammen. Mindestens 20 von ihnen folgten der Aufforderung. Sie wurden festgenommen, wie mehr als ein Dutzend Zeug*innen berichteten. Einer von ihnen zeigte, wie die Ellbogen der Männer hinter ihrem Rücken gefesselt wurden. Sie wurden zwei Tage lang in einem Kirchengebäude des Lagers festgehalten und dann von eritreischen Soldat*innen auf Lastwagen verladen und weggefahren, so die Zeugen. Reuters bestätigte die Namen von 17 Männern. Ihre Familien haben seither nichts mehr von den Verschlepptengehört.
Ähnliche Szenen spielten sich in Shimelba ab, etwa 15 Kilometer entfernt von der eritreischen Grenze. „Sie suchten nach Angehörigen der Opposition. Sie hatten eine Liste dabei,“ sagte ein Flüchtlingssprecher aus Shimelba. Dort nahm das eritreische Militär etwa 40 Personen fest, darunter auch einige Frauen, so der Sprecher. Wie die meisten anderen, die für diesen Artikel interviewt wurden, wollte er seinen Namen zum Schutz seiner Familie in Eritrea und zu seiner eigenen Sicherheit in Äthiopien nicht nennen.
In der ersten Dezemberwoche hatten sich die eritreischen Streitkräfte ohne Erklärung aus Hitsats zurückgezogen. Am nächsten Tag trafen tigrayische Milizionäre ein und begannen zu schießen.
Die Ankunft der eritreischen Truppen war der Beginn eines monatelangen Martyriums für Tausende eritreischer Flüchtlinge. Erst wurden sie vom eritreischen Militär gejagt, später von tigrayischen Kämpfern angegriffen, die die Flüchtlinge beschuldigten, sich mit dem Feind verschworen zu haben.
Reuters sprach mit mehr als 60 Flüchtlingen. Die Interviews enthüllen die Rolle der Division und des für den Einsatz verantwortlichen Kommandanten, der die Aufgabe hatte, die Flüchtlinge zurück nach Eritrea zu zwingen. Anschließend zerstörten die eritreischen Soldat*innen die Lager.
Die Flüchtlinge berichteten, dass das eritreische Militär systematisch vorgegangen sei: In einer Grenzstadt richtete das Militär ein Quarantänezentrum für Covid 19 ein, das mit eritreischen Ärzt*innen besetzt war. Anschließend brachten Soldat*innen Tausende von Flüchtlingen mit Bussen nach Eritrea. Einige wurden mit Waffengewalt gezwungen, andere sagten, sie seien freiwillig gegangen und hätten die Gefahren in Tigray mit der Ungewissheit in ihrer Heimat eingetauscht. Die Flüchtlinge berichteten auch darüber, dass einige von ihnen in Eritrea inhaftiert bzw. zum Militärdienst gezwungen wurden.
„(Die eritreischen Soldat*innen) suchten nach Angehörigen der Opposition. Sie hatten Listen dabei.”
Ein ehemaliger hochrangiger Angehöriger des eritreischen Militärs, der sich jetzt im Exil befindet, sagte gegenüber Reuters, er habe Dokumente der eritreischen Regierung gesehen, aus denen hervorgeht, dass mehr als 9.000 Flüchtlinge nach Eritrea zurückgekehrt sind. Reuters war es nicht möglich, diese Dokumente zu erhalten. Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen (UNHCR) teilte Reuters in einer Erklärung mit, dass seine Teams mehrere hundert Flüchtlinge befragt haben, die aussagten, dass sie nach der erzwungenen Rückkehr nach Eritrea erneut geflohen sind. UNHCR schätzt, dass noch 7.600 Flüchtlinge vermisst werden. Einige von ihnen seien wahrscheinlich in die äthiopische Hauptstadt Addis Abeba gegangen.
Die von Reuters interviewten Flüchtlinge berichteten von Morden, Gruppenvergewaltigungen und Plünderungen sowohl durch eritreische Soldaten, wie auch tigrayische Kämpfer. Einige der Vorfälle, die Ende 2020 und Anfang 2021 geschahen, sind in einem aktuellen Bericht von Human Rights Watch dokumentiert. Die Flüchtlinge berichteten Reuters, dass es weiterhin zu Angriffen durch die Tigrayer kommt und es unter anderem im Juni 2021 in der nördlichen Stadt Shire Lynchmorde gegeben habe.
Eritrea bestreitet, dass die Flüchtlinge zwangsweise zurückgeführt wurden. Es hat auch Anschuldigungen zurückgewiesen, dass seine Streitkräfte tigrayische Zivilisten getötet und einige von ihnen in die sexuelle Sklaverei gezwungen habe, was Reuters als erste Agentur aufdeckte. Im August verhängten die USA Sanktionen gegen den Stabschef des eritreischen Militärs, Filipos Woldeyohannes, mit der Begründung, dass die von ihm befehligten Streitkräfte Gräueltaten begangen hätten, darunter Massaker und Vergewaltigungen. Eritrea wies die Vorwürfe als „völlig unbegründet“ zurück.
Äthiopiens Premierminister Abiy Ahmed sagte, er habe von Eritrea die Zusicherung erhalten, dass alle Soldat*innen, die des Missbrauchs für schuldig befunden werden, zur Rechenschaft gezogen werden. Seine Sprecherin, Billene Seyoum, antwortete nicht auf Fragen von Reuters, ob eritreische Soldat*innen angeklagt worden sind. Die Regierung und das Militär Eritreas haben auf detaillierte Fragen für diesen Artikel nicht reagiert.
Tigrayische Angriffe
Debretsion Gebremichael, Führer der Tigray People’s Liberation Front (TPLF – Tigrayische Volksbefreiungsfront), die den größten Teil des Tigray kontrolliert, sagte, dass seine Organisation keine Kenntnis von Angriffen tigrayischer Kämpfer auf eritreische Flüchtlinge habe. Tigrayische Soldaten hätten den Befehl, die Flüchtlingslager nicht zu betreten, erklärte er gegenüber Reuters. TPLF-Sprecher Getachew Rada ergänzte, es sei möglich, dass es sich dabei um „Bürgerwehren handele, die in der Hitze des Gefechts agieren“. Er antwortete nicht auf die Frage, ob die TPLF die mutmaßlichen Straftaten untersuche.
Die Notlage der Flüchtlinge zeigt, wie Tigray zum Schmelztiegel eines Machtkampfes zwischen der äthiopischen Regierung und der TPLF geworden ist, einer Guerillabewegung, die sich in eine politische Partei verwandelte und einst das Land beherrschte. Der Bürgerkrieg hat auch die autoritäre Regierung des Nachbarlandes Eritrea auf den Plan gerufen. Das von Präsident Isayas Afewerki geführte Eritrea betrachtet die TPLF als Erzfeind und Tigray als Zufluchtsort für geflüchtete Dissident*innen. In den ersten fünf Monaten des Konfliktes leugnete Eritrea, dass sich seine Soldat*innen in Tigray aufhalten. Zeugenaussagen zufolge setzt die eritreische Armee die Kämpfe im Norden Äthiopiens weiter fort.
Äthiopien ist mit seinen 109 Millionen Einwohnern das zweitbevölkerungsreichste Land Afrikas und wichtiger Verbündeter des Westens in einer instabilen Region. Jahrelang hatte es die am schnellsten wachsende Wirtschaft Afrikas. Als Abiy Ahmed 2018 die Macht als Premierminister übernahm, wurde er als demokratischer Reformer gefeiert.
Doch nun steckt das Land in einer Krise. Der Krieg in Tigray hat Tausende von Menschenleben gekostet, eine Hungersnot ausgelöst und mehr als zwei Millionen Menschen vertrieben. Das winzige Eritrea, ein Land mit nur 3,5 Millionen Einwohner*innen, spielt in diesem Chaos eine große Rolle.
Alte Feindschaften
Die Feindschaft zwischen Eritrea und der TPLF sitzt tief. Die TPLF beherrschte fast drei Jahrzehnte lang die äthiopische Regierung und führte von 1998 bis 2000 einen Grenzkrieg mit Eritrea. Abiy Ahmed schloss wenige Monate nach seinem Amtsantritt als Premierminister Frieden mit Eritrea. Das Abkommen brachte ihm den Friedensnobelpreis ein - und mit dem eritreischen Präsidenten Isayas Afewerki einen mächtigen Verbündeten gegen die TPLF.
Hitsats und Shimelba waren zwei von vier Lagern für eritreische Flüchtlinge in Tigray. Sie waren schlecht ausgerüstet, aber friedlich und wurden von der äthiopischen Agentur für Flüchtlings- und Rückkehrerangelegenheiten (ARRA) und dem UNHCR betrieben. Einige Bewohner*innen bauten winzige, fensterlose Hütten aus Steinen oder Flechtwerk und Lehm. Andere richteten kleine Restaurants ein oder hielten Tiere, um ein wenig zu verdienen.
Nach Angaben des UNHCR gab es im Jahr 2020 nach Syrien und dem Südsudan aus Eritrea die drittgrößte Zahl von Flüchtlingen pro Kopf der Bevölkerung. Etwa 15% der Bevölkerung ‑ mehr als 520 000 Menschen ‑ sind geflohen. Etwa 150.000 dieser Flüchtlinge kamen nach Äthiopien. 96.000 lebten in Tigray. Eritrea besteht darauf, dass es sich bei den Flüchtlingen um Wirtschaftsmigrant*innen handele.
Viele der eritreischen Flüchtlinge in Hitsats und Shimelba berichteten von brutaler Behandlung in ihrem Heimatland. Da es keine freien Medien und keine Wahlen gibt, wurde Eritrea von einigen westlichen Medien und Denkfabriken als „das Nordkorea Afrikas“ bezeichnet. Männer und unverheiratete Frauen über 18 Jahren werden zu einem unbefristeten Militär- oder Arbeitsdienst der Regierung eingezogen. Einige berichteten Reuters, dass sie schon Jahre zuvor dazu gezwungen worden waren. Ein Flüchtling, ein grauhaariger Deserteur, der die Haltung eines Soldaten beibehalten hat, erzählte Reuters, dass seine Familie Eritrea verlassen hat, nachdem Soldaten zu seinem Haus kamen und seinem 14-jährigen Sohn ins Gesicht schlugen, um den Aufenthaltsort des Vaters zu erfahren. Der Junge hat immer noch eine Narbe. Medizinische Scans, die Reuters vorliegen, zeigen eine Schädelfraktur.
„Die Regierung wird Euch vergeben”
Soldat*innen der 35. Division der eritreischen Armee erreichten Hitsats am 19. November, wie Flüchtlinge im Lager und Anwohner*innen berichteten. Das Lager lag in einem Gebiet, in dem die äthiopische Armee zu diesem Zeitpunkt nicht präsent war, so die Berichte.
Die Soldat*innen wurden von einem Offizier angeführt, der sich als Wedi Kecha vorstellte, sagten zwei Flüchtlinge, die zuvor unter ihm in der eritreischen Armee gedient hatten und ihn vom Sehen her kannten. Zwei Aktivist*innen für die Rechte eritreischer Flüchtlinge - die in Großbritannien lebende Elsa Chyrum und ein Aktivist in den Vereinigten Staaten - sagten gegenüber Reuters, dass die Flüchtlinge, mit denen sie sprachen, ebenfalls Wedi Kecha als Kommandanten identifiziert hätten. Ein ehemaliger hochrangiger eritreischer Militäroffizier bestätigte Reuters, dass Wedi Kecha die 35. Division anführt.
Wedi Kecha antwortete nicht auf Fragen, die Reuters über das eritreische Militär an ihn sandte. Die eritreische Armee äußerte sich nicht zu Wedi Kechas Rolle.
Die Soldat*innen versammelten die Flüchtlinge am 21. November vor einer Kirche im Lager. „Wedi Kecha stellte sich als Kommandeur der 35. Division vor“, sagte einer der anwesenden Flüchtlinge, der in den 1990er Jahren unter Wedi Kecha in der eritreischen Armee gedient hatte und im letzten Jahrzehnt zwei Jahre lang auf demselben Stützpunkt wie er stationiert war. Wedi Kecha, so der Flüchtling, „bedeutet ’Sohn des Brotes’, ein Spitzname, den er seit seiner Kindheit trägt“.
Wedi Kechas richtiger Name ist nach Angaben des Flüchtlings und des ehemaligen hochrangigen eritreischen Offiziers Oberst Berhane Tesfamariam. Wedi Kecha kämpfte im Unabhängigkeitskrieg Eritreas gegen Äthiopien, der 1991 endete, so der ehemalige hohe Offizier. Er soll um die 60 Jahre alt sein. Dem Flüchtling zufolge war Wedi Kecha in jungen Jahren ein hervorragender Fußballer und spielte als Mittelfeldspieler auf nationaler Ebene.
Wedi Kecha sagte der Menge, seine Soldaten seien gekommen, um die Flüchtlinge zu schützen. Er forderte die Flüchtlinge auf, nach Eritrea zurückzukehren, und sagte ihnen: „Die Regierung wird Euch vergeben.“
Auch nach Shimelba kamen nach Angaben von Flüchtlingen Soldat*innen der 35. Division. Am 18. November wurden Sprecher*innen der Flüchtlinge bei einem Treffen auf einem Fußballplatz im Lager von einem Offizier angesprochen, der von einem der Flüchtlinge als älter, groß und kräftig beschrieben und von einem anderen als Wedi Kecha bezeichnet wurde. Der Offizier erklärte den Flüchtlingen, dass die Soldaten da seien, um sie zu beschützen. Es sei sicher, nach Eritrea zurückzukehren, aber wenn die Flüchtlinge bleiben wollten, würde ihnen niemand helfen.
„Keiner sagte ein Wort. Der Kommandant sagte: ’Gehen Sie schlafen und denken Sie darüber nach, was ich gesagt habe‘. Und das war das Ende des Treffens“, erinnerte sich einer der anwesenden Flüchtlinge, ein Medizinstudent. Zwei Wochen später begannen die eritreischen Soldaten mit der Verhaftung von Flüchtlingen.
„Sie kamen nachts zu den Häusern und holten Leute ab, deren Namen sie kannten“, sagte der Medizinstudent. „Sie hatten eine Liste dabei. Es gab keine Erklärung.“
Viele Flüchtlinge in den beiden Lagern beschuldigten die eritreischen Truppen zu plündern, zu töten und zu vergewaltigen. Eritreische Soldaten plünderten das Lager Hitsats so gründlich, dass sie sogar die Wassertanks demontierten, berichteten zwei internationale Mitarbeiter von Hilfsorganisationen gegenüber Reuters. In Shimelba stahlen sie nach Angaben eines Zeugen die Sonnenkollektoren des UNHCR. Nach Angaben des UNHCR wurden beide Lager zerstört.
Am 9. Dezember erschossen eritreische Soldaten in Shimelba vier Flüchtlinge und zwei tigrayische Zivilisten und warfen die Leichen in einen Graben, wie zwei Zeugen - ein Entwicklungshelfer und ein Flüchtling - berichteten. Unter den Opfern befand sich ein junger Tigrayer, dessen Mutter und Schwester um sein Leben gebettelt hatten, so der Mitarbeiter der Hilfsorganisation. Die Flüchtlinge bargen die Leichen und vergruben sie.
Ein weiblicher Flüchtling im selben Lager sagte, ihre Freundin sei an einem Tag zweimal von Gruppen eritreischer Soldaten vergewaltigt worden. Andere Flüchtlinge berichteten, sie hätten gesehen, wie eritreische Soldaten weibliche Flüchtlinge verschleppt hätten. Als die vier Frauen zurückkehrten, sagten sie, sie seien vergewaltigt worden. Reuters war nicht in der Lage, diese Berichte zu verifizieren.
Die Wut der tigrayischen Milizen
Jahrelang waren die eritreischen Flüchtlinge in Äthiopien bei den einheimischen tigrayischen Familien willkommen. Sie sprechen dieselbe Sprache und es kam zu einigen gemischten Ehen. Das änderte sich, als Eritrea in den Krieg eintrat. Einige Tigrayer begannen, die Flüchtlinge „Shabiya“ zu nennen - ein Slangbegriff für eritreische Truppen - und beschuldigten sie, mit der eritreischen Armee zusammenzuarbeiten.
Bald töteten eritreische Truppen Tigrayer und Tigrayer töteten eritreische Flüchtlinge.
Human Rights Watch schildert in seinem Bericht, dass eritreische Soldaten am 19. November die an das Lager angrenzende Stadt Hitsats geplündert und viele tigrayische Zivilisten getötet habe.
Ein tigrayischer ehemaliger Wachmann der äthiopischen Flüchtlingsagentur ARRA sagte gegenüber Reuters, dass eritreische Soldaten an diesem Tag 17 Mitglieder seiner Familie erschossen hätten. Unter den Toten waren auch seine Söhne im Alter von 16 und 23 Jahren. Ein zweiter Verwandter bestätigte diese Angaben. Nur die ältere Mutter des Wachmanns überlebte. Sie bedeckte die Leichen mit Bettlaken, bis ihr die Wäsche ausging, so der Wachmann. Die Regierung Eritreas antwortete nicht auf Fragen zum Verhalten der eritreischen Truppen.
Am 23. November griffen lokale tigrayische Milizionäre das Lager Hitsats an und erschossen acht eritreische Flüchtlinge vor der äthiopisch-orthodoxen Mariam-Kirche, wie zwei Dutzend Zeugen berichteten.
Einer der Toten war der 29-jährige Tesfa Alem Habte, ein angehender Geologe, der Wissenschaft und Fußball liebte, so ein Verwandter.
„Er hatte eine gute, glänzende Zukunft vor sich“, sagte der Verwandte. Tesfa Alems Name bedeutet „Hoffnung der Welt“. Bevor Tesfa Alem Eritrea verließ, organisierte er Spenden von Schulbüchern und anderen Hilfsgütern für arme ländliche Dörfer, so der Verwandte.
„Die tigrayische Miliz zwang uns weiterzugehen. Den Nachzüglern wurde keine Gnade zuteil. „Jedes Mal, wenn wir jemanden zurückließen, hörten wir einen Schuss. Irgendwann habe ich aufgehört, sie zu zählen.“ Ein eritreischer Flüchtling aus dem Lager Hitsats
Ein Flüchtling übergab Reuters Fotos von Tesfa Alem und zwei weiteren Opfern des Anschlags vom 23. November, deren Leichen für die Beerdigung vorbereitet und in Blumentücher gehüllt sind. Die Familie von Tesfa Alem bestätigte, dass er dort abgebildet ist. Eine andere Quelle lieferte Fotos der Begräbnisstätte. Gelbe Wildblumen schmücken sein Grab.
Fünf Flüchtlinge sagten, sie hätten unter den Angreifern örtliche Tigrayer erkannt. Vier von ihnen beschuldigten tigrayische Mitarbeiter von ARRA, der äthiopischen Flüchtlingsagentur, die Milizionäre unterstützt zu haben, indem sie sie durch das Lager geführt hätten. ARRA hat auf Fragen dazu nicht geantwortet.
Reuters konnte nicht feststellen, auf wessen Befehl die tigrayischen Milizionäre handelten, als sie das Lager Hitsats angriffen. TPLF-Chef Debretsion bestritt, dass direkt von der TPLF befehligte Truppen an Angriffen auf Flüchtlinge beteiligt waren. Er erklärte, die Berichte über Übergriffe sollten überprüft werden.
In Tigray kämpfen viele verschiedene Kräfte gegen die Zentralregierung, was die Suche nach den Urhebern der Gewalt erschwert.
Es gibt eine Haupttruppe, die sich Tigray Defense Force nennt und der TPLF-Führung untersteht, darunter auch Debretsion. Sie setzt sich aus tigrayischen Deserteuren der äthiopischen Armee, ehemaligen Mitgliedern der Regionalpolizei und Freiwilligen zusammen.
Viele informelle, freiwillige Stadt- und Dorfmilizen haben sich ebenfalls dem Kampf angeschlossen. Die Kommandostruktur dieser Milizen ist oft undurchsichtig, und es ist unklar, wie viel direkte Kontrolle die TPLF zu diesem Zeitpunkt über sie hatte.
In der ersten Dezemberwoche hatten sich die eritreischen Streitkräfte ohne Erklärung aus Hitsats zurückgezogen. Am nächsten Tag trafen tigrayische Milizionäre ein und begannen zu schießen. Vier Flüchtlinge berichteten, dass uniformierte tigrayische Streitkräfte in der Stadt Hitsats stationiert waren und dass eine lokale Miliz, die von einem ehemaligen Polizisten befehligt wurde, den ganzen Dezember über im Lager war. Uniformierte tigrayische Soldaten kämen regelmäßig in das Lager, und die örtliche Miliz scheine ihren Befehlen zu gehorchen, fügten sie hinzu.
Flüchtlinge, die aus Hitsats geflohen sind, berichteten, dass auch sie von Tigrayern angegriffen wurden.
Am Morgen des 6. Dezember ging eine Gruppe von etwa 70 Flüchtlingen durch eine Schlucht in der Nähe des Dorfes Zelazele, etwa 16 km nördlich des Lagers. Fünf Zeugen berichteten, dass plötzlich Schüsse fielen und eine Granate auf die Gruppe geworfen wurde. Die Angreifer trugen keine Uniformen, was darauf schließen lässt, dass sie zu einer freiwilligen Dorfmiliz gehörten. Drei Zeugen gaben an, dass zwischen 18 und 30 Flüchtlinge getötet wurden.
Die Milizionäre, von denen einige mit Äxten und Stöcken bewaffnet waren, hielten die Überlebenden fest und forderten sie dann auf, in das Lager zurückzukehren. Einige ältere Menschen und Frauen mit kleinen Kindern waren zu erschöpft, um zu gehen.
„Sie flehten uns an, sie zurückzulassen“, sagte ein Flüchtling. „Die tigrayische Miliz zwang uns weiterzugehen“. Den Nachzüglern wurde keine Gnade zuteil. „Jedes Mal, wenn wir jemanden zurückließen, hörten wir einen Schuss. Irgendwann habe ich aufgehört, sie zu zählen.“
Etwa zur gleichen Zeit fingen tigrayische Milizionäre eine zweite, ähnlich große Gruppe von Flüchtlingen aus Hitsats am Rande des Dorfes Ziban Gedena ab, wie ein Überlebender berichtet. Dieser Mann sagte, er habe gesehen, wie eine Gruppe bewaffneter Männer die Flüchtlinge nachts in eine Grube zwang. Dann wurde eine Granate hineingeworfen.
„Fleisch flog in die Luft“, sagte er. Die Milizionäre begannen zu schießen.
Natalia Paszkiewicz, die früher für eine Hilfsorganisation in Hitsats arbeitete und dort für eine Habilitation forschte, sagte Reuters, sie habe mehrere Flüchtlinge befragt, die sagten, sie seien Zeugen eines solchen Angriffs gewesen. Reuters war nicht in der Lage, diesen Vorfall unabhängig zu bestätigen. TPLF-Vertreter antworteten nicht auf Fragen zu den konkreten Vorwürfen.
Verzweiflung an der Grenze
Im Januar 2021 berichteten Flüchtlinge, die in den Lagern geblieben waren, dass sie hungern würden. Wegen der Kämpfe waren seit Oktober keine Lebensmittellieferungen mehr möglich. Die Menschen aßen die bitteren Blätter der Moringabäume, die normalerweise für die Teezubereitung verwendet werden.
Anfang Januar kamen erneut eritreische Soldat*innen nach Hitsats. Sie befahlen den Flüchtlingen, das Lager zu verlassen. Anschließend setzten sie Teile des Lagers in Brand, wie Dutzende von Flüchtlingen berichteten. Etwa zur gleichen Zeit wurde auch das Lager Shimelba von eritreischen Soldat*innen angezündet, so Flüchtlinge, die dort waren. Diese Berichte wurden durch Satellitenbilder und Analysen des britischen Sicherheitsinstituts Vigil Monitor gestützt. Die von Reuters eingesehen Bilder zeigen die Zerstörung der Lager, die Anwesenheit von Militärfahrzeugen und Anzeichen von Beschuss. Beide Lager sind nun geschlossen.
Die eritreischen Soldat*innen forderten Tausende von Flüchtlingen auf, vier Tage lang nach Westen in die Stadt Shiraro nahe der Grenze zu Eritrea zu laufen. Ein Flüchtling zeigte Reuters ein Video, das eine Frau in den Wehen auf dem Rücken eines Esels zeigt. Flüchtlinge berichteten, einige Menschen seien unterwegs gestorben.
In Shiraro habe das eritreische Militär Flüchtlinge dazu aufgerufen und manchmal auch dazu gezwungen, auf Lastwagen zu steigen, um zurück in die Heimat gebracht zu werden. Das berichteten ein Dutzend der Flüchtlinge. Einige gingen aus Verzweiflung. Andere sagten, sie hätten nicht gewusst, wohin die Lastwagen fahren würden, seien aber lieber aufgestiegen, als zu verhungern. Ein Flüchtling namens Dersu sagte, er habe Mitte Januar drei Tage in Shiraro verbracht. Er habe jeden Tag fünf Lastwagen gesehen, die nach Eritrea fuhren, jeder mit etwa 300 Menschen an Bord.
In der Grenzstadt Badme richtete eritreisches Militär ein provisorisches Covid-19-Zentrum ein, um Flüchtlinge zu testen und unter Quarantäne zu stellen. Vier Flüchtlinge, die sich in Badme aufhielten, berichteten, dass dort Tausende Eritreer*innen festgehalten und von Soldat*innen bewacht würden. Ärzt*innen der eritreischen Regierung führten Covid-19-Tests durch.
Reuters sprach mit vier Flüchtlingen, die nach Eritrea zurückkamen und denen später die Flucht zurück nach Äthiopien gelang. Unter ihnen befand sich ein 22-jähriger ehemaliger Student. Er berichtete, dass ihm bei einem Angriff tigrayischer Milizionäre auf Hitsat in den Bauch geschossen worden sei. Eritreische Soldat*innen hätten ihn und etwa ein Dutzend anderer Verwundeter sowie deren Angehörige anschließend auf einen Lastwagen gepackt und ihnen gesagt, sie würden in ein Krankenhaus in Äthiopien gebracht. Stattdessen wurden sie aber über die Grenze in die eritreische Stadt Barentu gefahren und unter bewaffneter Bewachung in einem Krankenhaus untergebracht.
Die Verwandten seien in Covid-19-Quarantäne gesteckt und von Geheimdiensten verhört worden. Diese hätten sie nach ihrer politischen Zugehörigkeit und den Gründen für ihre Ausreise aus Eritrea befragt. Schließlich bezahlte der junge Mann und sein Bruder einen Schmuggler, der sie zurück über die Grenze nach Äthiopien brachte. Teile seiner Geschichte – darunter die Inhaftierung der Verwandten und die Bewachung im Krankenhaus – wurden in ähnlicher Weise von der Familie eines anderen Flüchtlings berichtet.
Der 27-jährige Eritreer Desta sagte, dass er von eritreischen Soldaten gezwungen wurde, auf einen Lastwagen zu steigen, der ihn nach Badme und in die Covid-19-Quarantäneeinrichtung brachte, wo die Männer im Freien schliefen und es nur wenig zu essen gab. Desta sammelte etwas Sorghum ein, das von geflohenen Einwohnern gepflanzt worden war, hatte aber keine Möglichkeit, es zu Mehl zu mahlen. Also aß er die Samen. Als Desta versuchte zu fliehen, wurde er von eritreischen Soldaten gefangen genommen und geschlagen.
Mit dem Bus zurück nach Eritrea gebracht, landete Desta auf den Straßen einer kleinen Stadt nahe der Grenze und suchte nach Arbeit. „Dann kündigten die örtlichen Behörden an, dass jeder, der aus Äthiopien zurückkam, eingezogen werden würde“, sagte er. Desta kannte die Brutalität des Armeelebens: Er sagte, er sei ein Waisenkind und bereits im Alter von 15 Jahren dazu gezwungen worden, dem eritreischen Militär beizutreten. Er floh ein zweites Mal nach Äthiopien, trotz der Gefahren, die ihn dort erwarteten.
Als sich der Krieg Ende Juni zu Gunsten der TPLF wendete, eroberten die tigrayischen Streitkräfte die Stadt Shire zurück. Jubelnde tigrayische Einwohner*innen strömten auf die Straßen. Der Mob begann dann, eritreische Flüchtlinge anzugreifen, die sich dort befanden, so fünf Flüchtlinge gegenüber Reuters. Sie schilderten, dass die Menge Jagd auf eritreische Männer und Frauen machte und mindestens ein Dutzend von ihnen mit Steinen erschlug, die sie aus den Bürgersteigen rissen.
Das UNHCR teilte Reuters mit, dass es von der Verhaftung hunderter Eritreer*innen in diesem Zeitraum in Shire wisse, darunter auch Flüchtlinge. Es konnte die Berichte über Tötungen nicht bestätigen, sagte aber, dass die Menschenrechtsorganisation der Vereinten Nationen, OHCHR, eine Untersuchung durchführe. OHCHR hat sich nicht geäußert.
Die Flüchtlinge berichteten, dass mindestens zwei ihrer Sprecher - Atakilti Abrehaley und Mulugeta Yemane - von uniformierten tigrayischen Soldaten verhaftet wurden. Keiner der beiden Männer wurde seitdem gesehen.
Ayenat Mersie, Giulia Paravicini und Katharine Houreld, A Reuters Special Report: Dual Agenda: In Ethiopia’s civil war, Eritrea’s army exacted deadly vengeance on old foes. 1. November 2021. Übersetzung: rf. https://www.Reuters.com/investigates/special-report/ethiopia-conflict-eritrea/. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Februar 2022
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