Ukraine: Im neuen Kalten Krieg haben wir keine Zukunft

von Jurij Scheljashenko

Als die Ukraine zum Schlachtfeld des neuen Kalten Krieges zwischen den Vereinigten Staaten und Russland wurde, wurde unser friedliches Leben durch militanten Nationalismus und die beiden konkurrierenden aggressiven Imperialismen zerrissen. Wir sollten aus der toten Ecke eines permanenten Krieges und eines wirtschaftlichen und demokratischen Niedergangs herauskommen, aber es ist nicht einfach, eine hoffnungsvolle Zukunft zu entwickeln.

Festgefahren in der Vergangenheit

Viele unserer Probleme werden durch die Tatsache verursacht, dass die ganze Welt in der Vergangenheit feststeckt. Dieser heiße Sommer hat dies anschaulich gezeigt.

Der NATO-Gipfel, dieses Relikt aus der Zeit des Kalten Krieges, das sich selbst als das stärkste demokratische Bündnis in der Geschichte positioniert hat und für sich einen führenden Beitrag zur internationalen Sicherheit in Anspruch nimmt, befürwortete ein neues nukleares Wettrüsten gegen Russland und sprach sich gegen den Vertrag über das Verbot von Atomwaffen aus, das von der Mehrheit der Vereinten Nationen unterstützt wird.

Zbigniew Rau, Gabrielius Landsbergis und Dmytro Kuleba, die Außenminister Polens, Litauens und der Ukraine, unterzeichneten eine Erklärung, in der sie sich auf das gemeinsame historische Erbe des Staates Polen-Litauen berufen. Darin wird die „europäische Identität von Weißrussen, Litauern, Polen und Ukrainern“ erwähnt und nahe gelegt, dass sie in der Vergangenheit gegen das „despotische Russland“ gekämpft haben und wieder kämpfen sollten und dass die Ukraine der NATO beitreten sollte.

Der russische Präsident Wladimir Putin schrieb einmal einen langen Grundsatzartikel über die „historische Einheit“ von Russen, Ukrainern und Weißrussen als Nachfahren des alten Rus, die gegen die angeblich feindlichen Vereinigten Staaten und die Europäische Union zusammenhalten sollten. Er betonte, dass diejenigen, die die Ukraine zum Feind Russlands machen, „ihr eigenes Land zerstören werden“ und drohte: „Wir werden niemals zulassen, dass unsere historischen Territorien und die uns nahestehenden Menschen, die dort leben, gegen Russland eingesetzt werden.“

Dunkle Geschichten, die von Politiker*innen beschworen werden, machen gefährliche Halbwahrheiten zu Waffen. Indem sie den Mythos „wir“ gegen „sie“ aufbauen, versuchen hochrangige Geschichtenerzähler, die biologische Einheit aller Menschen, die interkulturelle Fähigkeit, eine gemeinsame Basis zu finden, und lange historische Perioden relativen Friedens, in denen Gefühle universeller Brüderlichkeit und Schwesternschaft weit verbreitet waren, aus dem Gedächtnis der Bevölkerung zu tilgen.

Endloser hybrider Krieg

Starke Rhetorik, die in einer gewalttätigen Geschichte wurzelt, endet immer schlecht. Als die NATO ein Raketenabwehrsystem in Europa (Polen und Rumänien, d.Red.) einführte und die eingepflanzten „Sehnsüchte“ der Ukraine und Georgiens begrüßte, 2008 Mitglieder der NATO zu werden, beanspruchte Russland den postsowjetischen Einflussbereich durch militärische Gewalt in Südossetien und versuchte die russische Diaspora in der ehemaligen UdSSR politisch zu mobilisieren.

Die Menschen in der Ukraine wurden durch diese Spannungen zwischen den Großmächten in die Enge getrieben und wurden dazu gezwungen, sich für eine Seite zu entscheiden. Statt uns in einer toten Ecke zu wähnen, zogen wir es ironischerweise vor, optimistisch zu sein und es als Chance für eine demokratische Entwicklung zu bezeichnen, ausgedrückt durch öffentliche Versammlungen auf Plätzen (majdan auf Ukrainisch), vor allem auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew.

In den Jahren 2013-2014 starteten die Bewunderer von Stepan Bandera, des Ideologen des ukrainischen Ultranationalismus in der Nazi-Zeit, in vom Westen finanzierten rechtsgerichteten ukrainischen zivilgesellschaftlichen Netzwerken, der so genannten Majdan-Bewegung, eine Reihe massiver Proteste und Ausschreitungen gegen den damaligen prorussischen Präsidenten Janukowytsch. Sie brachen das von der EU und Russland vermittelte Abkommen über eine friedliche Machtübergabe an die prowestliche Opposition und drängten auf ein Verbot des Gebrauchs der russischen Sprache in den lokalen Selbstverwaltungsorganen.

Gleichzeitig lobten die Bewunderer des sowjetischen Diktators Josef Stalin in den von Russland unterstützten rechten zivilgesellschaftlichen Netzwerken, der so genannten Anti-Maidan-Bewegung, gegen die Stärkung der prowestlichen ultranationalistischen politischen Elite, unterstützten die russische militärische Übernahme der Krim und die hybride Kriegsführung in der Ostukraine.

In dem siebenjährigen Krieg zwischen ukrainischen und prorussischen Kämpfern im Donbas wurden Zehntausende von Zivilisten getötet und verwundet und mehr als zwei Millionen Menschen ihrer Heimat beraubt. Nach OSZE-Berichten verstoßen beide Seiten fast täglich gegen den in den Minsker Vereinbarungen festgelegten Waffenstillstand. Die Ukraine weigert sich, mit den Separatisten über einen Frieden zu verhandeln, wie es Russland fordert, und behauptet, sie seien Agenten der russischen Besatzer.

Geopolitische Ambitionen haben Vorrang vor der Sorge um das Leben der Menschen. Die Folgen sind tragisch, wie der Abschuss des zivilen Passagierflugzeugs MH17 durch Separatisten, die ukrainische Militärflugzeuge mit russischen Buk-Raketen bekämpften, wobei 283 Passagiere und 15 Besatzungsmitglieder getötet wurden.

Auf der von Russland in Besitz genommenen Krim leiden die Menschen unabhängig von ihrer (Nicht-)Loyalität zur Ukraine entweder unter den politischen Repressionen der De-facto-Behörden oder unter den internationalen und ukrainischen Wirtschaftssanktionen, einschließlich der Seeblockade.

Die Großmächte spielen mit dem Feuer und organisieren beängstigende Militäroperationen in und um die Ukraine. Die NATO und Russland entsenden Truppen, um ihre Interessen vor Ort zu sichern, und simulieren bei gefährlichen Übungen im Schwarzen Meer einen Seekrieg gegeneinander. Im Wettrüsten mit der russischen nuklear bewaffneten Marine auf der Krim plant die NATO den Bau von zwei Marinestützpunkten in der Ukraine.

Jede Seite in diesem hybriden Krieg erzählt überzeugend klingend die eigene Halbwahrheit, oder, um es ehrlich zu sagen, eine falsche Geschichte, warum es sich um einen „gerechten Krieg“ zur Selbstverteidigung handelt. Diese Geschichten veranschaulicht gut die schon 1921 in Bilthoven verabschiedete Grundsatzerklärung der War Resisters‘ International: Wir sollten keine Art von Krieg unterstützen, „weder einen Angriffs- noch einen Verteidigungskrieg. Zu bedenken ist, dass moderne Kriege von den Regierungen immer als Verteidigungskriege dargestellt werden.“

Militarisierung und Niedergang der Demokratie

Der hybride Krieg korrumpiert und sprengt alle normalerweise friedlichen Bereiche des Lebens. Rücksichtslose populistische Netzwerke, rechtsextreme Stimmungen und Hasspropaganda provozieren immer mehr Blutvergießen. Neonazis kämpften im Donbas-Krieg auf beiden Seiten, die Russische Nationale Einheit und das Warjag-Bataillon auf Seiten der Separatisten, das Ukrainische Freiwilligenkorps des Rechten Sektors und das Asow-Bataillon auf Seiten der Regierung. Nach ihrer Rückkehr in die Heimat bringen sie den Kindern in militarisierten Sommerlagern zur „patriotischen Erziehung“ Hass und Kampf bei.

Nachrichten sind keine Nachrichten mehr, Medien sind keine Medien, sondern russische oder westliche Propaganda, die einen Informationskrieg und der Zensur unterliegen. Dasselbe Problem stellt sich in den Bereichen Bildung und Wissenschaft; die Schlacht der historischen Halbwahrheiten ist ein gutes Beispiel dafür. Das Recht wird dazu benutzt sich gegenseitig zu beschuldigen und Krieg zu legitimieren: Statt der Menschenrechte schützen wir die politisch zweckdienlichen Rechte „unseres Volkes“ und bestrafen „Feinde“ so hart wie „wir“ können.

Die ukrainische Zivilgesellschaft wurde durch die Vorstellungen von einer exklusiven Identität, die durch den neuen Kalten Krieg geweckt wurde, polarisiert und zur Waffe gemacht. Ukrainische Nationalisten weigern sich, Zugeständnisse an Russland zu tolerieren, versammeln randalierende Menschenmengen gegen die Umsetzung der Minsker Vereinbarungen und bringen Gegner gewaltsam zum Schweigen. Es gibt auch rechtsgerichtete Befürworter Russlands und der sowjetischen Vergangenheit; formal rufen sie zum Frieden auf, aber in Wirklichkeit ist es ein Aufruf, sich im neuen Kalten Krieg auf die Seite Russlands zu stellen.

Präsident Wolodymyr Selenskyj, der gewählt wurde, nachdem er Frieden versprochen hatte, erklärte, der Frieden solle „zu unseren Bedingungen“ erfolgen. Er schloss die prorussischen Medien in der Ukraine, so wie sein Vorgänger Poroschenko russische soziale Netzwerke sperrte und ein Gesetz über die Amtssprache durchsetzte, das das Russische zwangsweise aus dem öffentlichen Raum ausschloss.

Selenskyjs Partei „Diener des Volkes“ hat sich verpflichtet, die Militärausgaben auf 5% des BIP zu erhöhen; 2013 waren es 1,5%, jetzt sind es mehr als 3%. Mit der Mehrheit im Parlament konzentriert die politische Maschinerie des Präsidenten die politische Macht in den Händen des Selenskyj-Teams und vervielfacht militaristische Gesetze, wie z. B. drakonische Strafen für diejenigen, die sich der Militärdienstpflicht entziehen und die Schaffung neuer „nationaler Widerstandskräfte“, die Aufstockung des Personals der Streitkräfte in der Ukraine um 11.000 Personen, die Schaffung von Militäreinheiten in den Kommunalverwaltungen für die obligatorische militärische Ausbildung von Millionen von Menschen, um die gesamte Bevölkerung im Falle eines Krieges mit Russland zu mobilisieren.

Laut dem EBCO-Jahresbericht 2019-2020 „Kriegsdienstverweigerung in Europa“ haben diejenigen, die das Töten verweigern, kaum eine Chance auf rechtliche Anerkennung und Schutz ihrer Überzeugungen angesichts der Kriegsdienstpflicht in der Ukraine und Russland, ganz zu schweigen von den separatistischen „Volksrepubliken“. Alternative Regelungen zum Zivildienst sind kaum zugänglich, die Regelungen sind diskriminierend und haben Strafcharakter.

Trotz aller Widrigkeiten: Hoffnung auf Frieden

Meinungsumfragen zeigen paradoxerweise, dass die Mehrheit der Menschen Frieden will, aber den Streitkräften der Ukraine mehr vertraut als allen politischen Institutionen. Der Glaube an „Frieden durch Sieg“ ist das Ergebnis von politischem Analphabetentum und fehlender Friedenskultur.

Von internationalen Organisationen finanzierte Projekte zur Friedenskonsolidierung heilen zwar einige Wunden des Krieges, sind aber strategisch auf den sozialen Zusammenhalt rund um die kämpferische nationale Identität ausgerichtet. Viele von ihnen vermeiden es aus patriotischen Gründen, das Wort „Frieden“ selbst zu verwenden: Die rechte Propaganda setzt es mit der „russischen Welt“ gleich.

Es gibt in der Ukraine keine starke öffentliche Stimme des gesunden Menschenverstandes, die grundsätzlich und unparteiisch giftige militaristische Politiken und Identitäten wie die stalinistische und die banderistische anprangert oder generell alle Kriege und Kriegsvorbereitungen ablehnt. Die großen Kirchen beteten zwar manchmal für den Frieden, machten aber unmissverständlich klar, auf welcher Seite sie in der geopolitischen Schlacht standen.

Konsequente Pazifist*innen, ob religiös oder säkular, sind in unserer Gesellschaft eine winzige Minderheit, die im besten Fall als Träumer, in der Regel aber als Ketzer*inneen und Verräter*innen behandelt werden.

Der Pazifist Ruslan Kozaba, der 2015 in einem YouTube-Video die Mobilisierung für den Donbas-Krieg anprangerte, wurde wegen Hochverrats inhaftiert, freigesprochen und freigelassen und erneut vor Gericht gestellt, wobei das Gericht bei jeder Anhörung von einer Horde von Hassern umzingelt war. Kürzlich wurde er auf einem Bahnhof von Neonazis angegriffen und verlor durch das verspritzte grüne Desinfektionsmittel sein Augenlicht auf einem Auge. Die Polizei konnte die Täter nicht festnehmen.

Der Netflix-Science-Fiction-Kriegsfilm „Outside the Wire“ prognostiziert, dass endlose Gewalt die Ukraine in den kommenden Jahrzehnten in ein Ödland verwandeln wird. Die einzige Möglichkeit, eine solch düstere Zukunft zu verhindern, besteht darin, zu lernen, wie man mit friedlichen Mitteln Frieden erreichen kann, doch nur wenige Menschen glauben an eine solche Perspektive und arbeiten daran.

Trotz des schwierigen Umfelds versuchen wir, den Frieden in den Köpfen und im realen Leben der Menschen auf der Grundlage eines konsequenten Pazifismus gemäß der Erklärung der War Resisters’ International zu schaffen, wobei wir unsere begrenzten Möglichkeiten und Ressourcen nutzen. Es scheint, dass die gesamte weltweite Antikriegsbewegung das Gleiche tut. Um in dieser Sache voranzukommen, müssen wir einen universellen Friedensplan entwickeln und umsetzen, der effektiver und realistischer ist als die Strategien des neuen Kalten Krieges.

Jurij Scheljashenko/Юрій Шеляженко ist Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung und Vorstandsmitglied des Europäischen Büros für Kriegsdienstverweigerung. Er erwarb 2021 den Master of Mediation and Conflict Management und 2016 den Master of Laws an der KROK-Universität sowie 2004 den Bachelor of Mathematics an der Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität in Kiew. Neben seiner Aktivitäten in der Friedensbewegung ist er Journalist, Blogger, Menschenrechtsverteidiger und Rechtswissenschaftler, Autor mehrerer wissenschaftlicher Publikationen und Dozent für Rechtstheorie und -geschichte.

Yurii Sheliazhenko: In the new cold war, we have no future. 29. Juli 2021. Übersetzung: rf und gl. Der Beitrag wurde veröffentlicht in: Connection e.V. (Hrsg.): Rundbrief »KDV im Krieg«, Ausgabe Februar 2022

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