Ukraine: Verpflichtung zur Erfassung empört Frauen
(09.01.2022) „Missbrauch von Frauen! Gebildete und berufstätige Frauen sollten nicht zum Militärdienst herangezogen werden!“ -- Diese Online-Petition auf der offiziellen Website des Präsidenten der Ukraine erhielt bislang 37 852 Unterschriften..
Die Petition unterstreicht die undemokratische Art und Weise, mit der die Entscheidung getroffen wurde, viele Frauen ohne jede öffentliche Diskussion in die Kriegsmaschinerie einzubeziehen. Es handelt sich um eine höchst unpopuläre Politik: Laut der KIIS-Umfrage vom Dezember 2021 sind nur 12,8% der ukrainischen Frauen bereit, sich am bewaffneten Widerstand gegen die vermutete russische Invasion zu beteiligen.
Traditionell besteht die Wehrpflicht und der Wehrdienst für Männer. Es gab einen geheimen Regierungserlass aus dem Jahr 1994, der 2008 öffentlich zugänglich wurde und in dem die Erfassung von Frauen für den Sanitätsdienst und Spezialistinnen in den Bereichen Kommunikation, IT, Meteorologie, Kartographie, Polygrafie und Kino gefordert wurde. Es gab jedoch nicht so viele Frauen, die dies betraf, und es bestand keine unmittelbare Gefahr einer unfreiwilligen Einberufung.
Die Situation verschlechterte sich während der galoppierenden Militarisierung des Landes und der Eskalation des ukrainisch-russischen Konflikts, mit der sich in der Nähe der russischen Grenze auf der einen Seite ukrainische und NATO-Truppen konzentrierten, auf der anderen russische Truppen in der Nähe der ukrainischen Grenze.
Nach dem gewaltsamen Regimewechsel in Kiew im Jahr 2014 stellte sich die Ukraine in ihrem neuen kalten Krieg gegen Russland auf die Seite des Westens. Im Donbas begann ein bewaffneter Konflikt zwischen den von der NATO unterstützten Regierungstruppen und den von Russland unterstützten separatistischen Kräften. Die auf dem Höhepunkt des Blutvergießens im Jahr 2015 unterzeichneten Minsker Vereinbarungen trugen dazu bei, einen fragilen Waffenstillstand einzurichten, scheiterten jedoch daran, einen für beide Seiten akzeptablen Weg zur Aussöhnung zu finden, um nicht zu sagen, den Krieg zu beenden. Die wichtigsten globalen und regionalen Akteure investieren in kriegführende Kräfte (einschließlich rechtsextremer Einheiten) auf allen Seiten und lügen zugleich,, wenn sie davon sprechen, Frieden und Sicherheit zu fördern.
Präsident Wolodymyr Selenskyj, Kriegsdienstverweigerer und beliebter Comedian, schaffte es unerwartet innerhalb weniger Jahre, seine eigene Partei zu gründen (besser gesagt zu kaufen) und die ukrainische Politik mit Unterstützung des Kriegsgewinnlers und Oligarchen Ihor Kolomoyskij zu kapern. 2019 wurde er nach reichlich gegebenen Versprechungen von Friedensgesprächen gewählt, kündigte aber stattdessen die Minsker Vereinbarungen auf, blähte den Militärhaushalt um das 2-3-fache auf und begann, die gesamte Bevölkerung für den Krieg gegen Russland zu mobilisieren. Zu diesem Zweck wurden 2021 die Gesetze zur „Militärdiktatur“ verabschiedet, die eine drakonische Durchsetzung der Rekrutierung und der obligatorischen militärischen Grundausbildung vorsehen.
Da die Erfassung von Frauen der skandalöseste Teil von Selenskyjs Politik der totalen militärischen Mobilisierung ist, wurde sie mit fadenscheinigen Tricks eingeführt. Selbst die besagten Gesetzesentwürfe sahen dies nicht direkt vor, möglicherweise weil sonst selbst die Präsidentenklientel im Parlament nicht wagen würde, für eine solche Schande zu stimmen. Stattdessen wurde der Gesetzentwurf durch einen Änderungsantrag geringfügig modifiziert, womit dem Militär (anstelle des Kabinetts) die Befugnis gegeben wurde, eine Liste über Qualifikationen von Frauen zu erstellen, die der Erfassung unterliegen sollen.
Am 11. Oktober 2021 erließ das Verteidigungsministerium einen Erlass, der die Liste von 7 auf 111 Tabellenzeilen erweiterte und Hunderte von Berufen in den Bereichen Journalismus, Kunst, Recht, Finanzen, Geschichte, Marketing, Management, Unternehmertum, Bibliothekswesen, Sozialarbeit, Wissenschaft, Bildung, Öffentlichkeitsarbeit, Psychologie usw. aufführte.
Nach der Registrierung im Justizministerium trat der Erlass im Dezember in Kraft und löste einen öffentlichen Aufschrei aus, was leider in unserer politischen Kultur nicht bedeutet, dass irgendjemand ernsthaft über organisierten zivilen Widerstand gegen den Wahnsinn der Führung nachdenkt.
Die Online-Petition, die genügend Unterschriften für eine offizielle Prüfung erhielt (die Schwelle liegt bei 25 000), ist ein für die Ukraine ungewöhnlich hohes Maß an massivem und zivilisiertem politischem Protest, aber solche Petitionen führen fast immer zu nichts außer einer formellen Antwort, in der höflich genau die Dokumente zitiert werden, die die Leute ändern wollen.
Die Mainstream-Medien ignorierten die Petition, da sie ihrem Narrativ der Mobilisierung zuwiderläuft. Stattdessen zitierten sie den Oberbefehlshaber der Streitkräfte, Generalleutnant Valery Zaluzhny, einen düsteren Mann, der die neue Politik wie folgt erklärte: „Es besteht die Notwendigkeit, Unterlagen zu haben, die es uns, dem Militär, ermöglichen, Frauen zu finden, die für die Verteidigung unseres Staates eingesetzt werden können.“
Die ukrainischen Frauen waren erwartungsgemäß empört darüber, dass sie „benutzt“ werden sollen wie auch über die zweideutigen Erklärungen, dass die Erfassung nicht gleichbedeutend mit der Einberufung sei, ohne nähere Angaben zur geplanten „Verwendung“ zu machen. Es ist klar, dass die Erfassung in der gegenwärtigen „Sondersituation“ und in möglichen Kriegszeiten die Möglichkeit bietet, Frauen zu rekrutieren und sie gegen ihren Willen zu militärischen Aushebungen einzuberufen. Das bedeutet auch, dass Frauen einen Militärausweis vorweisen müssen, um bestimmte Jobs zu bekommen, und dass Frauen mit hohen Geldstrafen bestraft werden können, wenn sie sich der Erfassung oder der militärischen Ausbildung entziehen. Sie können sogar ins Gefängnis kommen, wenn sie sich dem Militärdienst entziehen.
Während die sozialen Medien voll von Spott und obszönen Kommentaren gegen die Erfassung von Frauen sind, sind einige angesehene Expert*innen, selbst unter den Feministinnen, scheinbar bereit, sich „benutzen“ zu lassen. Tamara Zlobina, Redakteurin der Website „Gender im Blick“, räumte in ihrem Artikel ein, dass das Militär „der Gesellschaft ins Gesicht gespuckt“ hat, als es den Erlass ohne vorherige öffentliche Diskussion herausgab, besteht aber darauf, dass „das Land seine Humanressourcen kennen“ müsse.
„Durch sein unverantwortliches Handeln hat das ukrainische Verteidigungsministerium den Frauen geschadet, indem es zu den Belastungen durch entwertete Hausarbeit, Kinderbetreuung, Armut, sexistische Stereotypen und Hindernisse auf dem Arbeitsmarkt noch Schock, Stress und Chaos hinzufügte“, schrieb Zlobina. Während einige Feministinnen „die Berufsarmee für beide Geschlechter unterstützen“, sind andere der Meinung, dass die gesamte Bevölkerung, einschließlich der Frauen, gegen Aggressionen zu den Waffen greifen sollte. Einige Feministinnen hoffen, dass die Erfassung von Frauen ihnen helfen wird, sich an der Territorialverteidigung zu beteiligen und in die Armee aufgenommen zu werden. Dies werde dann hoffentlich eine weniger sexistische Institution sein. Ihre letzte Botschaft lautet: „Vielen Dank für das Neujahrsgeschenk. Wir, die ukrainischen Frauen, die Feministinnen, haben auch ein Geschenk für das Verteidigungsministerium. Die Erfassung von Frauen wird nicht im Jahr 2022 abgeschlossen sein, sondern wird ein fortwährender Prozess sein, auch wenn das Ministerium das nicht wahrhaben will. Das bedeutet, dass die Rekrutierungsbüros radikal umgestellt werden müssen. Die Militärkliniken brauchen Vollzeit-Gynäkolog*innen. Es müssen Kinderzimmer eingerichtet werden. Der Sexismus muss ausgemerzt werden. Ukrainische Feministinnen sind bereit, alle notwendigen Ratschläge dafür zu geben.“
Welch ein Mut und welche Einstellung zur Veränderung steckt in diesen Worten, aber warum fühle ich mich enttäuscht von dem enthusiastischen Aufruf, die Kriegsmaschinerie für Frauen ein wenig angenehmer zu gestalten? Vielleicht, weil ich mit einem Artikel von Danaka Katovich, der nationalen Organisatorin von CODEPINK, übereinstimme, der den brillanten Titel trägt: „Nicht die Ausweitung der Dienstpflicht ist Feminismus, sondern die Abschaffung der zwangsweisen Erfassung“ Ich applaudiere ihren Worten: „Unser Leben ist geprägt von Lügen, Überwachung und der Erkenntnis, dass unsere Regierung ständig versucht, unsere Zustimmung zum Krieg zu herzustellen. Wir wissen sehr wohl, dass der militärisch-industrielle Komplex ein gewalttätiges und blutrünstiges Monster ist, und wir wollen nichts damit zu tun haben. Die Wehrpflicht ist immer auf lautstarken und öffentlichen Widerstand gestoßen, und das wird sie auch jetzt. Junge Menschen, die gegen den Militarismus sind, werden nicht zulassen, dass unsere Freund*innen der Kriegspropaganda auf den Leim gehen.“
Zwei Punkte sollten hier ergänzt werden.
Erstens diskriminiert die Erfassung in der Ukraine gebildete und berufstätige Frauen und verschont diejenigen, die sich für die traditionelle Geschlechterrolle der Hausfrau entschieden und somit keine höhere Ausbildung oder einen von der Armee benötigten Beruf haben. Allein diese Tatsache sollte Feministinnen ausreichen, um die militärische Versklavung von Frauen zu verurteilen, anstatt die Augen vor einer weiteren Ungerechtigkeit des gewalttätigen Patriarchats zu verschließen.
Zweitens verstößt die Erfassung in ihrer derzeitigen Form in der Ukraine und in anderen Ländern gegen das Menschenrecht auf Kriegsdienstverweigerung, weil sie davon ausgeht, dass alle registrierten Personen bereit sind, zu dienen und dass sie nicht durch ihr Gewissen daran gehindert werden, Waffen zu tragen und Menschen zu töten. Dagegen protestieren in verschiedenen Ländern Menschen, wenn sie ihre Verweigerung in Erfassungsbögen und durch Anträge zum Ausdruck bringen, aber solche Äußerungen werden selten offiziell anerkannt und registriert.
Wir müssen daher fordern, dass alle Formulare für die Erfassung in der Ukraine und weltweit einen offiziellen Vermerk über die von der Person geäußerte Verweigerung des Militärdienstes enthalten sollten. Allein dieser Vermerk sollte die Person dazu berechtigen, vom Militärdienst befreit zu werden. Dieser einfache und notwendige formale Schutz vor weit verbreiteten Verletzungen der Gewissensfreiheit und des Rechts, das Töten zu verweigern, sollte zu den Standards der internationalen Menschenrechtsgesetze und des Verfassungsrechts jedes demokratischen Landes gehören.
Yurii Sheliazhenko, Geschäftsführer der Ukrainischen Pazifistischen Bewegung: Mandatory military registration outraged women in Ukraine. 9. Januar 2022